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Entscheidungsprozesse, “psychische Krankheiten”, Teil 2

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Vorbemerkung

Dies ist der zweite Teil meines Streifzugs durch die Landschaft der Forschung zu den Entscheidungsprozesse bei den so genannten psychisch Kranken. Wie üblich orientiere ich mich nicht an Karten oder gar an Navigationssystemen, sondern am Stand der Sonne und an Spuren im Sand. Und selbstverständlich widerstehe ich nach wie vor der Versuchung, gute oder böse Dämonen im Dickicht zu vermuten, die mir den Weg weisen oder die mich vom Pfad abbringen wollen. Kurz und weniger metaphorisch ausgedrückt: Es ist mein Leitbild, mich, möglichst unabhängig von theoretischen Vorannahmen, auf die Zusammenhänge zwischen Reizen und Reaktionen, zwischen Input und Output zu konzentrieren, die sich tatsächlich beobachten lassen.

Die momentane Situation im Feld der Psychowissenschaften ist durch eine Vielzahl von Mini-Theorien gekennzeichnet, die weitgehend unverbunden nebeneinander stehen, die sich oftmals widersprechen; und die Experimente, auf die sie sich stützen, konnten in aller Regel nicht repliziert werden, sofern dies überhaupt versucht wurde, was ohnehin eher selten vorkommt (16). In dieser Lage wäre es vermessen, einen Reisebericht über meine Exkursionen vorzulegen, der den Eindruck erwecken würde, ich hätte einen wohlgeordneten Staat des Wissens mit einem gesetzgebenden Gremium an der Spitze vorgefunden. Die Vielfalt, derer ich ansichtig wurde, war nicht die Fülle eines gut gepflegten Gartens, sondern Wildwuchs, der, sofern er überhaupt einem ordnenden Einfluss unterlag, vermutlich noch am ehesten als den Launen der Mode untertan beschrieben werden kann.

Wenden wir uns nun den Menschen zu, die, vor die Wahl zwischen dem Spatz in der Hand und der Taube auf dem Dach gestellt, sich für das Naheliegende entschieden haben. Sie gleichen oftmals dem Fuchs aus der Fabel Äsops, der, weil er sie nicht erreichen konnte, zur Gesichtswahrung behauptete, er habe die Trauben gar nicht erreichen wollen, weil sie ihm ohnehin zu sauer seien. Das Leben, so heißt es mitunter, sei so fürchterlich, dass man es nur im Rausch ertragen könne. So betrachtet haben der Säufer und der Junkie natürlich keine Wahl. Oder?

“Abhängigkeitserkrankungen”

Ein Gedankenexperiment

Paul ist Alkoholiker. Er behauptet, er habe schon oft versucht, mit dem Trinken aufzuhören, aber ein innerer Drang zwinge ihn dazu. Er könne der Flasche nicht widerstehen. Früher oder später gebe er auf, wie unter Zwang, machtlos.

Wir fragen ihn, wie lange er es ohne zu trinken aushalten könne. Höchstens ein paar Stunden, sagt er. Nicht länger? Allenfalls einen Tag, räumt er ein. Wir schlagen ihm ein Experiment vor, und er lässt sich auf folgenden Handel ein. Ihm winken tausend Taler. Das ist eine gewaltige Summe für einen Mann wie Paul, und auch andere würden ihre Großmutter um diesen Preis verkaufen.

Alles, was er zu tun hat, kann kurz und ohne Umschweife verständlich erklärt werden: Wir sperren ihn in ein Zimmer ein. Dieses Zimmer ist mit allem ausgerüstet, was er benötigt, um 24 Stunden lang ein angenehmes Leben zu führen. Auch eine Flasche mit Hochprozentigem befindet sich auf einem Regal an der Wand. Sonst gibt es keine alkoholischen Getränke im Raum. Wenn er sie nicht anrührt, wenn er seinem angeblich unbezwinglichen Drang zum Trinken widersteht, erhält er die tausend Taler.

Wie wird dieses Experiment ausgehen? Wie würde es ausgehen, wenn wir die Frist und die Belohnung verdoppeln und verdreifachen. Wie viele Leute von der Sorte Pauls würden als klägliche Alkoholiker scheitern oder ein Vermögen verdienen? Wenn der Alkoholismus tatsächlich auf einem inneren Prozess in der Psyche oder im Nervensystem des Betroffenen beruhen sollte, der sich der Kontrolle entzieht, so müsste das Ergebnis eigentlich klar sein. Kein Alkoholiker ginge als reicher Mann aus dem Experiment hervor.

Wir können das Experiment auch noch etwas kühner gestalten: Nehmen wir einmal an, Paul wirke ein Wunder und es gelänge ihm, trotz seines unwiderstehlichen Dranges zu trinken, das Experiment erfolgreich zu bestehen. Er erhält den Preis und wir bieten ihm eine Fortsetzung des Versuchs unter veränderten Bedingungen an. Er erhält in Zukunft einen fixen Betrag monatlich, der ihm ein gutes, müheloses Auskommen sichert – allerdings nur für den Fall, dass er weiterhin abstinent lebt. Sollte er irgendwann einmal bei einer unangekündigten Kontrolle als rückfällig entlarvt werden oder diese verweigern, so erhielte er in Zukunft nicht nur keinen Groschen mehr von uns, sondern er müsste alle bisher erhaltenen Beträge auf Heller und Pfennig zurückzahlen.

Beim Reflektieren dieses Gedankenexperiments dürfte wohl die meisten Gedanken-Experimentatoren der Verdacht beschleichen, dass der so genannte Kontrollverlust eines Alkoholikers nicht mit einer starren Mechanik gleichgesetzt werden kann. Man kann sich vorstellen, dass Paul, vor die Entscheidung zwischen Reichtum und Saufen gestellt, mit sich ringt, und wie dieser innere Kampf ausgeht, steht keineswegs fest. Bekanntlich ist jeder käuflich, es kommt nur auf den Preis an.

Werfen wir zunächst einen Blick auf die empirische Literatur zu den Entscheidungsprozessen bei Süchtigen.

Die Studie von Bechara und Damásio

Anlass zu dieser Studie (1) war die Beobachtung einer Übereinstimmung zwischen “Substanzabhängigen” (17) und Hirngeschädigten:

“Einige substanzabhängige Personen leiden unter einer Beeinträchtigung der Entscheidungsfindung, die jener ähnelt, die man bei neurologischen Patienten mit Läsionen des ventromedialen (VM) präfrontalen Kortexes sieht.”

Dieser Hirnbereich spielt nach gegenwärtigem Kenntnisstand eine Rolle bei der Verarbeitung von Risiko-Situationen, Bedrohungsreizen sowie allgemein bei der Hemmung emotionaler Regungen und bei der Entscheidungsfindung.

Es wird zu klären sein, ob die genannte Ähnlichkeit der Beeinträchtigung eine zufällige ist oder auf einer gemeinsamen Ursache, hier also einer Störung im VM-Bereich beruht.

Um den Grundgedanken dieser Studie zu verstehen, ist eine Abschweifung erforderlich:

Bechara ist Professor an der Dornsife-Universität im sonnigen Süden Kaliforniens. Zu seinen Kollegen in der psychologischen Abteilung dieser Universität zählen Hanna und António Damasio. Hanna ist die Frau von António. Von diesem stammt die Theorie der somatischen Marker. Diese Theorie besagt, dass alle Erfahrungen des Menschen in einem emotionalen Erfahrungsgedächtnis gespeichert werden. Das Erfahrungsgedächtnis äußert sich durch ein körperliches Signalsystem. Die Signale bezeichnet er als “somatische Marker”. Sie helfen dem Menschen bei der Entscheidungsfindung, indem sie ihn an bisher in vergleichbaren Situationen gesammelte Erfahrungen erinnern.

António Damásio schreibt:

“Dem somatischen Marker steht mehr als eine Route zur Verfügung, um wirksam zu werden. Eine verläuft über das Bewusstsein, die andere an diesem vorbei. Egal, ob die Körperzustände real oder stellvertretend (‘als ob’) sind, das entsprechende neurale Muster kann bewusst gemacht werden und stellt eine Empfindung dar. Doch obwohl an vielen wichtigen Entscheidungen Empfindungen beteiligt sind, kommen offenbar eine Vielzahl alltäglicher Entscheidungen ohne Empfindung aus. Daraus folgt nicht, dass die Bewertung, die normalerweise zu einem Körperzustand führt, nicht stattgefunden hätte oder dass der Körperzustand bzw. sein stellvertretendes Surrogat nicht hervorgerufen worden wäre oder dass der regulatorische dispositionelle Mechanismus, der dem Prozess zugrunde liegt, nicht aktiviert worden wäre. Es ist ganz einfach: Ein Körperzustand mit Signalfunktion oder sein Surrogat kann aktiviert, aber unter Umständen nicht in dem Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden. Ohne Aufmerksamkeit wird keiner von beiden ins Bewusstsein gelangen, obwohl jeder verdeckt – ohne willkürliche Kontrolle – auf die Mechanismen einwirken kann, die unser Appetenz- (Annäherungs-) oder Aversions- (Vermeidungs-) Verhalten der Welt gegenüber steuern. Nie wird unser Bewusstsein Kenntnis davon haben, dass der unterschwellige Mechanismus aktiviert worden ist. Ferner kann die Aktivierung von Neurotransmitter-Kernen, die ich als Teil der emotionalen Reaktionen beschrieben habe, verdeckt auf kognitive Prozesse einwirken und damit das Denken und Entscheiden beeinflussen (2).”

Die Studie von Bechara und Damásio ist ein Versuch, die Gültigkeit der Theorie der somatischen Marker hinsichtlich der Entscheidungsfindung bei Substanzabhängigen zu testen.

“In dieser Studie überprüften wir die Hypothese, dass SDI (substanzabhängige Individuen, HUG), die einen Entscheidungsfindungstest für sie unvorteilhaft bewältigen, ein Defizit bei den somatischen Signalen haben, die ihnen helfen, ihre Entscheidung in eine vorteilhafte Richtung zu lenken.”

Kurz: Unsere Erfahrungen sind mit einem Muster affektiver körperlicher Reaktionen (somatische Marker) verbunden, die im Gedächtnis gespeichert werden. Bei der Entscheidungsfindung äußert sich dieses Gedächtnis für somatische Marker bewusst oder unbewusst und warnt uns im günstigsten Fall vor falschen Entscheidungen. Bei den Substanzabhängigen ist diese “Signalisierung” jedoch unzulänglich. Darum, so die Autoren, neigen sie womöglich, wie die genannten neurologischen Patienten, zu Entscheidungen, die zwar kurzfristig Vorteile bringen, langfristig aber mit gravierenden Nachteilen verbunden sein können.

Entsprechende Defizite können aber laut Bechara und Damásio auch mit einem dysfunktionalen Mandelkern (18) verbunden sein. Daher wird mit entsprechenden Tests geprüft, ob eine derartige Störung bei den jeweiligen Versuchspersonen vorliegt. Am Rande sei bemerkt, dass sich beim gegenwärtigen Stand der Forschung zur Entscheidungsfindung die relevanten Hirngebiete keineswegs auf die Alternative ventromedialer präfrontaler Kortex oder Mandelkern (Amygdala) einengen lassen. Der ventromediale präfrontale Kortex ist nicht nur mit dem Mandelkern, sondern auch mit dem Hippocampus, ja, mit beinahe jedem Bereich des Gehirns innigst verbunden und niemand, niemand weiß zur Zeit genau, wie all dies bei der Entscheidungsfindung wirklich zusammenhängt (3). Doch dies nur am Rande, fahren wir fort:

“Thus, we tested the hypothesis that addiction to substances may be associated with malfunction of VM cortices, and predicted that SDI would show the same profile of behavioral and physiological impairments as VM patients.”

Schauen wir uns zunächst an, was genau eigentlich überprüft werden soll. Warum dies bei dieser Studie so wichtig ist, wird sich später zeigen. Die Prüfung besteht offenbar aus zwei Fragen:

  • Ist die Substanzabhängigkeit mit einer Fehlfunktion der VM-Kortizes verbunden? Anders formuliert: Kann die Nullhypothese verworfen werden, dass die VM-Kortizes bei den Substanzabhängigen genauso funktionieren wie bei den Normalen? Dies ist mit der Gefahr eines Fehlers erster Art verbunden? Ein Fehler 1. Art vor, wenn die Nullhypothese zurückgewiesen wird, obwohl sie in Wirklichkeit wahr ist.
  • Haben die Substanzabhängigen dasselbe physiologische und behaviorale Profil wie die VM-Patienten. Hier soll die Nullhypothese, dass beide Gruppen sich nicht unterscheiden, also beibehalten werden. Hier muss man mit einem Fehler zweiter Art rechnen. Man begeht einen Fehler 2. Art, wenn man die Nullhypothese beibehält, obwohl in Wirklichkeit die Alternativhypothese gilt. Dieser Fehler verweist aus methodischen Gründen auf vermintes Gelände (19).

46 Substanzabhängige, 49 “Normale” und 10 VM-Patienten wurden in die Untersuchung einbezogen.

Die Kontrollgruppe wurde aus der “Normal Control Subject List of the University of Iowa’s Division of Behavioral Neurology and Cognitive Neuroscience” ausgewählt. Die Mitglieder dieser Liste wurden durch Anzeigen in lokalen Medien rekrutiert. Als weitere Auswahlkriterien werden genannt: Abwesenheit mentaler Retardation, Lernbehinderungen, Substanzmissbrauch, systemische Krankheiten mit möglichem Einfluss auf das zentrale Nervensystem. Die Einschätzung basierte auf klinischen Interviews, die vor der Aufnahme in die Kontrollgruppe mit den potenziellen Teilnehmern geführt wurden. Alle “normalen” Versuchspersonen wurden für die Teilnahme bezahlt.

Die substanzabhängigen Versuchspersonen standen kurz vor dem Abschluss eines Rehabilitationsprogrammes. Sie wurden mit Geschenkgutscheinen bezahlt. Die Selektionsbedingungen waren: Erfüllung der DSM-IV-Kriterien für Substanzabhängigkeit, Abwesenheit einer Psychose und kein Vorliegen von Kopfverletzungen oder einer Epilepsie.

Die Patienten mit VM-Läsionen wurden aus der “Patient Registry of the University of Iowa’s Division of Behavioral Neurology and Cognitive Neuroscience” ausgewählt. Sie waren einer grundlegenden neuropsychologischen und neuroanatomischen Diagnostik unterzogen worden. Sie wurden folgenden Kriterien entsprechend ausgewählt: Abwesenheit von mentaler Retardation, Lernbehinderungen, psychiatrischen Störungen, Substanzmissbrauch, Vorhandensein einer stabilen und chronischen Schädigung (mindestens drei Monate nach Beginn), mit beidseitiger Beteiligung der VM-Kortizes. Es fehlt die Angabe, ob und wie sie für die Teilnahme bezahlt wurden.

Durch die beschriebene Art der Auswahl kann natürlich nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Versuchspersonen u. U. nicht nur hinsichtlich der interessierenden Merkmale (Substanzabhängigkeit, VM-Läsionen, ausgewählte neurophysiologische und neuroanatomische Variablen), sondern auch systematisch hinsichtlich anderer, nicht erfasster Einflussgrößen unterschieden, die eventuell vorhandene experimentelle Effekte erklären könnten. Gleichermaßen könnten Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen Gruppen auf nicht erfasste Merkmale (die nichts mit einer VM-Schädigung zu tun haben) zurückzuführen sein. Es handelt sich hier also um ein Quasi-Experiment mit bedrohter interner Validität (4).

Um diesen Gedanken verständlich zu machen, sei eine kleine Abschweifung erlaubt. Sie führt uns in ein Reich jenseits von Gut und Böse. Das ideale Experiment zum Test der genannten Hypothesen lässt sich wie folgt charakterisieren: Wir wählen zufällig 200 Personen aus der Bevölkerung aus. Jede Person sollte – theoretisch – die gleiche Chance haben, in die Stichprobe aufgenommen zu werden. Da die in der Hypothese spezifizierten Variablen Substanzabhängigkeit, VM-Läsionen und “Normalität” sind, sondern wir zunächst jene Probanden aus, die subtanzabhängig, VM-geschädigt oder sonstwie psychiatrisch diagnostiziert worden sind. Aus dem verbliebenen Rest werden, ebenfalls zufällig, 99 “normale” Versuchspersonen selektiert. 33 dieser, wiederum zufällig ausgewählten, Versuchspersonen werden nunmehr nach einem vorgegebenen Procedere subtanzabhängig gemacht. Bei 33, erneut zufällig ausgewählten, Versuchspersonen wird nach einem vorgegebenen Procedere eine VM-Läsion erzeugt. Schließlich bleiben, indirekt ebenfalls zufällig ausgewählt, 33 “normale” Versuchspersonen als Kontrollgruppe übrig.

Mit diesen drei Gruppen führen wir unser Experiment durch. Das Ziel dieser Randomisierung ist es natürlich, bekannte und vor allem unbekannte Störgrößen gleichmäßig auf die Versuchsbedingungen zu verteilen. Stellen wir uns vor, wir wollten einen mutmaßlichen Zusammenhang zwischen der Farbe und dem Gewicht von Murmeln in einer Urne mit 10.000 Murmeln anhand einer Stichprobe der Größe 100 testen. Das Beste ist es doch sicherlich, die Murmeln der Stichprobe nach dem Zufallsprinzip aus der Urne zu ziehen. Die schlechteste Methode bestünde darin, die 100 Murmeln so auszuwählen bzw. zu sortieren, dass wir beispielsweise mehr überdurchschnittlich schwere blaue als rote Exemplare erhalten. Wenn unsere Auswahl nicht nach dem Zufallsprinzip erfolgte, aber auch keiner bewussten Strategie der Sortierung unterlag, so wissen wir dennoch nicht, ob die Auswahl eher der besseren als der schlechteren Methode ähnelte oder umgekehrt. Dies wird immer der Fall sein, wenn wir, warum auch immer, nicht die freie Auswahl haben, sondern nehmen müssen, was wir kriegen können, wenn wir also den Selektionsprozess nicht oder nur begrenzt steuern können. So mögen beispielsweise Versuchspersonen, die sich freiwillig, aufgrund von Anzeigen in lokalen Medien, zur Teilnahme melden, durch für den Ausgang des Experiments entscheidende Merkmale gekennzeichnet sein, die sie von den Mitgliedern der jeweiligen Population (Grundgesamtheit) systematisch unterscheiden.

Das ideale Experiment habe ich nicht beschrieben, um das vorliegende Quasi-Experiment ad absurdum zu führen, sondern um einen Orientierungspunkt zur Beurteilung seiner Ergebnisse zu setzen. Dass sich das skizzierte Ideal oft nicht realisieren lässt, kann natürlich nicht bestritten werden. Dass aber die Aussagekraft von Experimenten, die von diesem Ideal abweichen, beschränkt ist, dürfte ebenfalls einleuchten. Dies muss man bei der Interpretation berücksichtigen. Zurück zum vorliegenden Experiment:

Die Aufgabe wird wie folgt charakterisiert:

Die Versuchspersonen haben vier Kartenstapel vor sich, nämlich A’, B’, C’ und D’. Bei zwei Stapeln (A’ und B’) ist die Wahl mit einem hohen Geldgewinn verbunden. Allerdings erfolgt zu unvorhersagbaren Zeitpunkten auch eine hohe Geldeinbuße, so dass auf lange Sicht die Wahl von Karten aus diesen Stapeln Nachteile bringt. Bei den beiden anderen Stapeln (C’ und D’) verhält es sich umgekehrt. Zwar ist der Geldgewinn kleiner, aber dafür sind auch die Strafen niedriger, so dass die Wahl von Karten aus diesen Stapeln Vorteile bringt. Außerdem wurde die Diskrepanz zwischen Belohnungen und Bestrafungen im Verlauf des Versuchs immer ungünstiger für die Stapel A’ und B’. Bei C’ und D’ verhielt es sich wieder anders herum. Hier wurde das Verhältnis im Verlauf des Versuchs günstiger.

Das Experiment wurde in 5 Blöcke mit 20 Wahlvorgängen (also 100 Wahlvorgänge insgesamt) unterteilt.

Zudem wurde die elektrodermale Aktivität (veraltet: psycho-galvanische Hautreaktion) gemessen. Diese ist ein Maß für Stress und emotionale Erregung. Die Messungen erfolgten zu drei Zeitpunkten:

  1. Bestrafung: Messung nach der Wahl einer Karte, bei sich unmittelbar an die Belohnung eine Bestrafung anschließt.
  2. Antizipation: Messung vor der Wahl einer Karte aus irgendeinem Stapel, während der Zeit, in der die Versuchsperson darüber nachdenkt, welchen Stapel sie wählen soll.
  3. Konditionierung mit einem lauten Geräusch: Für eine Teilmenge aus den Gruppen der Substanzabhängigen und der Normalen wurde die elektrodermale Aktivität infolge eines lauten Geräusches gemessen.

Die Auswertung zeigte, dass sich die normalen Versuchspersonen häufiger für die vorteilhaften Stapel entschieden als die substanzabhängigen Probanden, die jedoch besser abschnitten als die hirngeschädigten Patienten. Die normalen Versuchspersonen wählten im Verlauf des Versuchs zunehmend die “guten” Stapel. In Gegensatz dazu entscheiden sich die VM-Patienten von Block zu Block zunehmend für die “schlechten” Stapel. Die Entscheidungen der Substanzabhängigen waren im Vergleich zu den Normalen suboptimal, ließen aber keinen eindeutigen Trend zum Besseren oder Schlechteren erkennen. Die Unterschiede erwiesen sich als statistisch signifikant.

Die substanzabhängigen Versuchspersonen generierten eine schwächer ausgeprägte antizipatorische elektrodermale Aktivität als die normalen Probanden, aber eine stärkere als die VM-Patienten. Dies stimmt gut mit den Ergebnissen auf der verhaltensmäßigen Ebene überein. Auch diese Trends konnten weitgehend statistisch abgesichert werden.

Natürlich bedeuten solche statistischen Trends nicht, dass alle Versuchspersonen der einen Gruppe besser bzw. schlechter abschneiden als die Mitglieder der anderen Gruppen. In einem weiteren Untersuchungsschritt unterteilten die Autoren die normalen und die substanzabhängigen Versuchspersonen hinsichtlich ihres Abschneidens bei der Aufgabe in Beeinträchtigte und Nicht-Beeinträchtigte. “Beeinträchtigt” bedeutet, dass die Tendenz zur Auswahl der Karten bei diesen Versuchspersonen eher dem Verhalten der VM-Patienten ähnelte. In diesem Sinne waren 67 Prozent der Substanzabhängigen und 37 Prozent der Normalen “beeinträchtigt”.

Das auffälligste Ergebnis: Bei den Nicht-Beeinträchtigten gab es hinsichtlich der antizipatorischen elektrodermalen Aktivität keinen Unterschied zu den Kontroll- oder den substanzabhängigen Versuchspersonen, und zwar weder bei den “schlechten”, noch den “guten Stapeln”. Bei den Beeinträchtigten war die antizipatorische elektrodermale Aktivität ausgeprägter als bei den VM-Patienten, sowohl im Falle der “guten” wie der “schlechten” Stapel.

Zusammengefasst ergibt die Studie folgendes Bild:

  • Eine Teilgruppe der Substanzabhängigen war nicht von den Mitgliedern der normalen Kontrollgruppe hinsichtlich der verwendeten verhaltensmäßigen und psychophysiologischen Maße zu unterscheiden.
  • Eine andere Teilgruppe der Substanzabhängigen zeigte eine beeinträchtigte Leistung und eine beeinträchtigte elektrodermale Aktivität. Sogar normale Versuchspersonen, die sich hinsichtlich ihrer Leistung als beeinträchtigt erwiesen, prägten eine antizipatorische elektrodermale Aktivität aus.
  • Die antizipatorische elektrodermale Aktivität der beeinträchtigten Substanzabhängigen ähnelte derjenigen der VM-Patienten. Diese beeinträchtigte Subgruppe der Substanzabhängigen erwarb eine elektrodermale Reaktion gegenüber Bestrafung und einen konditionierte elektrodermale Aktivität gegenüber aversivem Lärm. Der Unterschied zwischen VM-Patienten und Menschen mit Amygdala-Läsionen besteht darin, dass VM-Patienten eine bestrafungsbezogene elektrodermale Aktivität ausprägen, wohingegen dies bei Amygdala-Patienten nicht der Fall ist. Darüber hinaus prägen VM-Patienten eine konditionierte elektrodermale Aktivität aus, Amygdala-Patienten aber nicht.

Kommen wir zu den Schlussfolgerungen:

“The results obtained from at least a subgroup of SDI are more consistent with VM malfunction, thus supporting our primary hypothesis that drug addiction may be associated with malfunction of VM cortices.”

Das ist allerdings nicht wahr. Erinnern wir uns daran, wie die ursprüngliche Hypothese lautete:

“Thus, we tested the hypothesis that addiction to substances may be associated with malfunction of VM cortices, and predicted that SDI would show the same profile of behavioral and physiological impairments as VM patients.”

Weder die zu testende Hypothese, noch die zu überprüfende Vorhersage waren auf eine Teilgruppe der Substanzabhängigen eingeschränkt. Daher wird die “primary hypothesis” durch die Daten eben nicht bestätigt, sondern widerlegt. Denn es heißt gleich zu Beginn der Diskussion:

“One subgroup of SDI was indistinguishable from normal controls on the behavioral and psychophysiological measures of decision-making used in this study.”

Die Botschaft ist eindeutig: die Hypothese ist falsch. Denn eine Teilgruppe der Drogenabhängigen ist zweifellos, bezogen auf die erhobenen Daten, von einer normalen Vergleichsgruppe ohne VM-Läsionen nicht zu unterscheiden. Die Alternativhypothese, dass sich Substanzabhängige von normalen Versuchspersonen hinsichtlich der relevanten Parameter unterscheiden, kann also für diesen Personenkreis nicht verworfen werden. Die globale Hypothese, dass Substanzabhängigkeit grundsätzlich mit Fehlfunktionen der VM-Kortices verbunden sein könnte, ist also zurückzuweisen.

Nun gibt es aber auch noch eine andere Teilgruppe, die im Experiment ähnlich schlecht abschneidet wie die VM-Patienten und auch hinsichtlich anderer der gemessenen Variablen vergleichbar mit diesen hirnorganisch beeinträchtigten Versuchspersonen reagiert. Die Autoren besitzen sogar die Kühnheit, dies mit statistischen Verfahren “abzusichern”. Doch so geht das nicht. Die Gültigkeit der Inferenzstatistik ist an Voraussetzungen gebunden, an ein mathematisches und erkenntnistheoretisches Modell.

Dieses Modell beinhaltet u. a. folgenden Grundsatz: Man stellt eine Forschungshypothese auf, beispielsweise: Merkmal x ist bei Gruppe A stärker ausgeprägt als bei Gruppe B. Dann wandelt man diese Forschungshypothese in eine statistische Nullhypothese um: Merkmal x ist in der Gruppe A gleich stark ausgeprägt wie in der Gruppe B. Diese Nullhypothese versucht man zu widerlegen. Gelingt dies, so hat die Forschungshypothese einen Falsifikationsversuch überstanden und das Vertrauen auf sie steigt. Vorab legt man ein Signifikanzniveau fest. Dies besagt, welche Irrtumswahrscheinlichkeit man beim Verwerfen der Nullhypothese in Kauf nehmen will. Dies will gut überlegt sein, denn hinterher darf an es nicht mehr ändern, weil sonst das gesamte Prozedere nicht sinnvoll interpretiert werden kann. Der gesamte mathematische Apparat der Inferenzstatistik ist nämlich darauf abgestimmt, dass man weder die Hypothese, noch das Signifikanzniveau verändert, nachdem man die Daten zur Prüfung der Hypothese erhalten hat.

Wer dies nicht glauben will, möge sich Folgendes vorstellen. Wir führen ein Experiment ohne irgendeine vorherige Hypothese durch, messen aber diverse Parameter und finden eine Reihe von mehr oder weniger ausgeprägten Unterschieden zwischen den Variablen. Dann suchen wir uns eine oder mehrere zu den Daten passende Hypothesen aus und testen mit Irrtumswahrscheinlichkeiten, die mit den interessantesten (oder am besten mit unseren Vorlieben und Vorannahmen übereinstimmenden) “signifikanten” Ergebnisse erbringen. Dass es sich dabei um einen Taschenspielertrick handelt, dürfte sogar statistisch und forschungslogisch nicht besonders versierten Menschen auffallen.

Ein Beispiel: Wir führen ein Training durch, dass die Fähigkeit, eine Fünf zu würfeln, steigern soll. Wir vergleichen die Trainierten mit einer untrainierten Kontrollgruppe. Die Hypothese lautet: Mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von einem Prozent werden die Trainierten häufiger eine Fünf würfeln als die Untrainierten. Die Auswertung des Experiments ergibt aber keinen signifikanten Unterschied bei der Fünf. So ein Pech aber auch. Macht nichts, schließlich zeigte sich eine signifikante Abweichung bei der Zwei, allerdings nur auf dem 5-Prozent-Niveau. (Die Wahrscheinlichkeitstheorie lehrt, dass scheinbare Signifikanzen unvermeidlich sind, aber wer wird denn da so kleinlich sein?) Also ändern wir flugs unsere Hypothese: Mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 5 Prozent werden die Trainierten häufiger eine Zwei würfeln als die Nicht-Trainierten. Entsprechend modifizieren wir die Beschreibung des Trainings und seines Zieles, so dass es zur modifizierten Hypothese passt.

Den Autoren des beschriebenen Experimenten will ich Derartiges natürlich nicht unterstellen. Doch der Verdacht einer Anpassung der Hypothesen an die Daten liegt nahe und lässt sich aus meiner Sicht auch nach mehrmaliger Lektüre des Forschungsberichts nicht so ohne Weiteres entkräften. Nehmen wir einmal an, ein gewähltes Kriterium zur Unterteilung der Versuchspersonen in Beeinträchtigte und Nicht-Beeinträchtigte hätte nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Wäre da nicht die Versuchung groß gewesen, ein anderes Kriterium zu wählen, und dann noch eins und noch eins, bis schlussendlich herauskommt, was herauskommen soll? Die Autoren wissen natürlich, die Wahl ihres Kriteriums theoretisch gut zu begründen – aber für die Wahl anderer Kriterien hätte sich vermutlich eine ebenso gute Begründung finden lassen.

Und nun noch ein Wort zur zu den konstatierten Ähnlichkeiten zwischen den Gruppen. Solche zu behaupten bedeutet, die Nullhypothese zu akzeptieren (kein Unterschied) und dies ist natürlich mit dem Fehler zweiter Art verbunden. Über dessen Wahrscheinlichkeit verlieren die Verfasser allerdings kein Wort. Siehe zu diesem Problem die Fußnote 19.

Es stellt sich natürlich die Frage, ob sich die VM-Dysfunktion im Verlauf der Substanzabhängigkeit einstellt oder schon zuvor bestand und als eine Bestandteil des Ursachenbündels der Substanzabhängigkeit gelten darf. Die Autoren räumen ein, dass diese Frage angesichts des Versuchsplans nicht aufgrund der Daten ihres Experiments entschieden werden kann. Sie glauben allerdings, dass die Dysfunktion allein die Substanzabhängigkeit nicht erklären könne, bei manchen Individuum jedoch eine Tendenz zur Entscheidung für, kurzfristig betrachtet, positive Verhaltensalternativen unter Inkaufnahme langfristig verheerender Folgen hervorrufen könne. Dafür sprächen die Befunde genetischer Studien und klinische Erfahrungen. Sie räumen allerdings auch ein, dass Substanzabhängigkeit bei anderen Individuen, auch ohne VM-Dysfunktionen, durch “fehlerhafte” (“faulty”) Lernprozesse bedingt sein könnte.

Bei den Substanzabhängigen, deren Konsum auf fehlerhaftem Lernen beruhe, sei ein Verlernen dieses Verhaltens möglich, wohingegen die Substanzabhängigen mit VM-Dysfunktion nicht in der Lage seien, aus negativen Erfahrungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Solange man die VM-Dysfunktion bei Substanzabhängigen allerdings nicht mit objektiven Verfahren feststellen kann, handelt es sich hier um eine selbstimmunisierende Erklärungsstrategie: Wer seine Sucht überwindet, hatte eben keine VM-Dysregulation und wem das nicht gelingt, der hat sie. Anstelle des Begriffs “VM-Dysregulation” könnte man auch “schwerstabhängig” oder eine vergleichbare Leerformel einsetzen.

Ich erinnere mich noch gut an einen Psychiater, den ich während meiner langen Jahre in der “Suchtkrankenhilfe” kennen lernte; ein netter Kerl, eigentlich, selbst trockener Alkoholiker. Der meinte, man müsse Säufer von Alkoholikern unterscheiden. Der Säufer könne aufhören, wenn er dazu gezwungen sei, der Alkoholiker nicht. Dies gelte auch, wenn beide, der Säufer und der Trinker, über den gleichen Zeitraum eine vergleichbare Menge von Alkohol zu sich genommen hätten. Der Unterschied läge darin, dass das die Psyche des Alkoholikers durch ein dramatisches Wechselspiel von Minderwertigkeits- und Überwertigkeitsgefühlen gekennzeichnet sei. Dieses Muster fände sich beim bloßen Säufer aber nicht. Solange man Minder- bzw. Überwertigkeitsgefühle nicht objektiv messen kann, ist dies allerdings ebenfalls eine selbstimmunisierende Theorie. Ob das dramatische Wechselspiel vielleicht gar auf einer VM-Dysregulation beruht? Wer kann es wissen?

Das menschliche Gehirn ist ein komplexes System und ein und dasselbe Reaktionsmuster in einem Test kann auf vielfältige Weise zustande gekommen sein. Man kann den Prozess in der Blackbox nicht aus dem Input und Output erschließen. Daher kann man aus mehr oder weniger übereinstimmenden Mustern bei zwei oder mehreren Teilgruppen eines Experiments auch nicht schließen, dass für diese Übereinstimmungen dieselben Mechanismen verantwortlich seien. Dies wird von den Autoren in der Diskussion ihrer Befunde allerdings auch eingeräumt, allerdings nur am Rande.

Abschließend bringen die Verfasser noch einmal die Theorie der “somatischen Marker” ins Spiel. Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten:

  1. Das verantwortliche System im Gehirn ist bei der Verarbeitung von Gedanken an eine mögliche Bestrafung hypoaktiv. Dann sind die entsprechenden negativen somatischen Zustände schwach.
  2. Das verantwortliche System im Gehirn ist bei der Verarbeitung von Gedanken an mögliche Belohnungen hyperaktiv. Dann sind die entsprechenden positiven somatischen Zustände stark. Die Autoren schreiben:

“In jedem Fall ist das Endresultat eine Verschiebung der Wahl des Verhaltens in Richtung des unmittelbaren Ergebnisses, dies bedeutet eine Suche nach der unmittelbaren Belohnung und eine Ignoranz gegenüber der verzögerten Bestrafung.”

In der eigenen Untersuchung habe man Hinweise für ein hypo-funktionierendes “VM cortex-insular/SII, SI cortex system” bei einigen Substanzabhängigen gefunden, und zwar in Bezug auf Bestrafung. Andere Untersuchungen hätten aber auch Anzeichen für ein hyper-funktionierendes “VM cortex-insular/SII, SI cortex system” bei einigen Drogenabhängigen entdeckt, und zwar in Bezug auf Belohnungen.

“Both lines of evidence support a common behavioral outcome related to an increase in the value of immediate drug reward, and a decrease in the value of future punishment.”

Das ist wohl wahr: Beide “Linien der Evidenz” stehen nicht in Widerspruch zur Alltagserfahrung vieler Generationen auf diesem Planeten, dass manche Menschen, darunter auch Substanzabhängige, langfristige Nachteile zugunsten kurzfristiger Vorteile billigend in Kauf nehmen. Für Aussagen obiger Art hat sich in der kritischen Literatur inzwischen der Ausdruck “Neuro-Redundanz” eingebürgert.

Immerhin legt diese triviale, populäre (und deswegen vermutlich halbwahre) Einsicht zur “Geisteshaltung” vieler Substanzabhängiger die Schlussfolgerung nahe, dass die Testaufgabe extern valide sei, also dass sie tatsächlich das Verhalten und die Entscheidungen von Substanzabhängigen im “realen Leben” widerspiegele. Ob dies wirklich der Fall ist, ob die Entscheidungen bei Substanzabhängigen realiter grundsätzlich diesem Muster unterliegen – kurzfristige Vorteile auf Kosten langfristiger Nachteile – bleibt allerdings eine offene Frage. Im Test zeigen sich ja die Nachteile der Wahl von Stapeln mit hohen Gewinnen, aber auch hohen Einbußen ziemlich schnell, wohingegen dies beim Drogenkonsum in der Regel nicht der Fall ist. Es kann Jahre dauern, bis die desaströsen Konsequenzen des Alkohols, des Heroins, des Kokains sichtbar werden (sofern sie sich überhaupt zeigen) und bis dahin ist u. U. High Life angesagt. Mit anderen Worten: Was den Rauschmittelkonsum betrifft, so herrschen im beschriebenen Test und im realen Leben völlig unterschiedliche Bedingungen. Es ist auch keineswegs der Fall, dass die nachteiligen Folgen im realen Leben, so wie im Test, zwangsläufig eintreten. Wie wir im Verlauf dieses Texts noch erfahren werden, gelingt es einer großen Zahl von Substanzabhängigen, rechtzeitig “die Kurve zu kratzen” und sich zur Abstinenz oder zum kontrollierten Konsum durchzuringen. Außerdem haben manche Substanzabhängige auch keinen oder kaum Einfluss auf ihr Geschick, sondern werden von äußeren Umständen beherrscht, so dass sich für sie eine Strategie, die langfristige Konsequenzen beachtet, kaum oder gar nicht lohnt. Auch dazu später mehr.

Die Studie von Bechara, Dolan und Hindes

Diese Studie (5) ist die Fortsetzung der zuvor beschriebenen Untersuchung. Wieder wurde die bereits skizzierte “Gambling Task” eingesetzt, allerdings in einer modifizierten Variante. Die Versuchspersonen waren dieselben wie im ursprünglichen Experiment (6). Die Frage lautete: Ist die Entscheidungsfindung bei Drogenabhängigen als Ausdruck einer Kurzsichtigkeit für die Zukunft oder als “Hypersensitivität” (gesteigerte Anfälligkeit) für Belohnungen zu verstehen? Die Variation der Aufgabe bestand darin, dass die “guten” Stapel hohe unmittelbare Bestrafung, dafür aber eine höhere verzögerte Belohnung erbrachten. Die “schlechten” Stapel waren mit niedriger unmittelbarer Bestrafung, dafür aber auch mit geringerer verzögerter Belohnung verbunden. Gegenüber dem Vorgänger-Experiment wurde also die Reihenfolge von Belohnungen und Bestrafungen umgekehrt. Wie im ersten Experiment wurde das Verhältnis von Belohnung und Bestrafung im Zeitverlauf günstiger bei den “guten” Stapeln und ungünstiger bei den “schlechten”. Die Messung der elektrodermalen Aktivität erfolgte nach dem Erhalt von Belohnungen und während der Zeit, in der sie überlegten, welchen Stapel sie wählen sollten.

Die Autoren sagten folgende Ergebnisse des Experiments voraus:

“Hypersensitivität für Belohnungen bei Substanzabhängigen würde mit einem Profil der verhaltensmäßigen und elektrodermalen Messungen übereinstimmen, das Beeinträchtigung in der ursprünglichen “Gambling Task” und keine Beeinträchtigung in der variierten “Gambling Task” einschließt, verbunden mit abnorm hoher elektrodermaler Aktivität bei Belohnungen wie auch mit antizipatorischer elektrodermaler Aktivität, wenn ein hoher Gewinn erwartet wird.

Die Begründung für die normale Leistung der Substanzabhängigen in der variierten “Gambling Task” fußt auf der Beobachtung, dass “normale” Kontroll-Personen anfänglich zögern, die “guten” Stapel zu wählen, …, und zwar wegen der höheren Kosten, die mit diesen Stapeln verbunden sind, bevor man eine Belohnung erhält. Hypersensitivität für Belohnungen, insbesondere wenn sie mit Hyposensivitivität für Bestrafungen verbunden ist, hilft, diese Zögerlichkeit zu überwinden, fördert die Wahl des “guten” Stapels und führt zu einer früheren Begegnung mit einer höheren Belohnung und daher zu einer weiteren Verstärkung der Wahl dieses Stapels.

Auf der anderen Seite wäre die mangelnde Sensititvität gegenüber der, positiven oder negativen, Zukunft mit einem Profil verhaltensmäßiger und elektrodermaler Maße konsistent, das Beeinträchtigung in der ursprünglichen wie auch in der variierten “Gambling Task” einschließt, verbunden mit einer normalen elektrodermalen Aktivität nach Belohnungen, aber auch mit einer defekten antizipatorischen elektrodermalen Aktivität. Mit anderen Worten: Insensitivität für die Zukunft wäre mit einem Muster von Ergebnissen konsistent, das den VM-Patienten ähnelt.”

Basierend auf den Ergebnissen des ersten Experiments, wurden alle Versuchspersonen nach dem dort spezifizierten Kriterium in die Gruppen der Beeinträchtigten bzw. der Nicht-Beeinträchtigten eingeteilt. Dies ist ein methodischer Fortschritt gegenüber dem ersten Experiment, weil nämlich eine nachträgliche Veränderung von Gruppeneinteilungen nach dem Erhalt der Daten die Anwendung von Signifikanztests letztlich als wenig sinnvoll erscheinen lässt. Hat man nämlich erst einmal die Daten, so kann man, wenn man sich ums Methodische nicht schert, die Gruppeneinteilung so lange verändern, bis man ein Ergebnis erhält, das “signifikant” zu werden verspricht. Der Signifikanztest ist aber dazu da zu prüfen, wie sich die Daten mit der Hypothese vertragen oder nicht; wenn die Hypothese nach Erhalt der Daten so verändert wird, dass sie angesichts der Daten im besten Licht erscheint, dann stellt man die Logik des Signifikanztests auf den Kopf. Wenn wir mit einem Experiment eine Hypothese prüfen wollen, dann muss logischerweise die Hypothese feststehen, bevor die Daten erhoben werden. Führt das Experiment zu neuen Hypothesen, dann müssen diese in einem weiteren Experiment geprüft werden; es ist keineswegs zulässig, diese dann an demselben Datensatz zu überprüfen.

Und nun zu den wichtigsten Ergebnissen:

Die Untergruppe der Substanzabhängigen, die nach dem ersten Experiment als “impaired” (beeinträchtigt) eingestuft wurden, konnten in zwei Leistungsgruppen eingeteilt werden: Eine Unter-Untergruppe (36 Prozent) erbrachte schwache Leistungen in der variierten Aufgabe und zeigte ähnliche verhaltensmäßige und behaviorale Beeinträchtigungen wie VM-Patienten. Die andere Unter-Untergruppe (64 Prozent) bewältigte die variierte Aufgabe normal, doch zeigte sie ausgeprägte elektrodermale Aktivität nach Belohnung und in Antizipation von Ergebnissen, die große Belohnungen hervorbrachten.

Dementsprechend ließen sich die Substanzabhängigen insgesamt in drei Gruppen einteilen:

  1. Eine Gruppe, die sich hinsichtlich keiner der Messungen als beeinträchtigt erwiesen hat und daher den “normalen” Versuchspersonen gleicht;
  2. eine weitere Gruppe, die den VM-Patienten ähnelt und gegenüber der Zukunft, ob positiv oder negativ, insensitiv ist;
  3. eine dritte Gruppe schließlich, die gegenüber Belohnungen hypersensitiv ist, so dass die Gegenwart oder die Erwartung von Belohnungen ihr Verhalten dominiert.

Die Autoren versuchen, ihre Befunde im Licht neurophysiologischer Studien im Allgemeinen und der Theorie somatischer Marker im Besonderen zu interpretieren. Der daran Interessierte mag die Studie im Original lesen. Leider steckt die empirische neurowissenschaftliche Literatur voller Widersprüche; selten wird versucht, Studien zu replizieren, noch seltener gelingt dies; im Allgemeinen stehen Ergebnisse, die einander teilweise bestätigen, teilweise und mitunter auch fundamental widersprechen, unverbunden nebeneinander (7, 8).

In diesem reichen Angebot wird vermutlich jeder fündig, ganz gleich, was er experimentell herausgefunden hat; es werden sich immer Studien finden, die mit den eigenen Resultaten übereinzustimmen scheinen. Die in den letzten Jahren sich explosionsartig vergrößernde Zahl von neurowissenschaftlichen Studien gestattet es selbst den Fleißigsten nicht mehr, hier den Überblick zu behalten. Entsprechend schwer ist die Würdigung solcher Arbeiten, bei denen sich die Autoren zum Beleg ihrer Thesen nicht nur mit den eigenen experimentellen Daten begnügen können, sondern auf eine Fülle anderer Studien zurückgreifen müssen.

Und so begrüße ich Untersuchungen, die Zusammenhänge über Reize und Reaktionen prognostizieren und sich der Spekulation über die Inhalte der Blackbox dazwischen enthalten. Wenn sich diese Prognosen in mehreren Experimenten bestätigen, dann darf man sich berechtigt fühlen, den Ergebnissen zu vertrauen. Solche Experimente sind überschaubar und ihre Auswertung ist nachvollziehbar, weil die Hypothesen in einer stringenten Beziehung zu den Beobachtungen im Experiment stehen. Demgegenüber präsentieren Bechara und Mitarbeiter eine Flut von Signifikanztests, ohne zu bedenken, dass selbst dann, wenn sämtliche Beziehungen zwischen den einbezogenen Variablen rein zufällig wären, der eine oder andere Zusammenhang oder Unterschied schon allein aus wahrscheinlichkeitstheoretischen Gründen signifikant sein müsste – auch wenn nichts anderes dahintersteckt als heiße Luft. Überdies beziehen sich ihre Hypothesen auf Konstrukte, die gar nicht direkt beobachtet werden, nämlich auf Dysregulationen von neuronalen Schaltkreisen in diversen Hirnregionen. Die Beziehung zwischen diesen Schaltkreisen und dem beobachtbaren Verhalten in den Experimenten ist hypothetisch; sie ergibt sich nicht zwingend aus dem Versuchsplan und den Untersuchungsmethoden; die Daten wären auch mit anderen als den von den Autoren vorgeschlagenen Erklärungen verträglich.

 Substanzabhängigkeit – eine Krankheit? Oder eine Entscheidung?

Bechara und Mitarbeiter unterstellen, dass Substanzabhängigkeit zumindest bei einer Teilgruppe der Betroffenen eine Krankheit sei, die ursächlich auf einer Normabweichung von Hirnfunktionen oder -strukturen beruhe. Dies ist keine Außenseitermeinung, sondern heute leider die vorherrschende Ansicht des Psycho-Mainstreams. Die Psychiaterin Sally Satel und der Psychologe Scott O. Lilienfeld betrachten diesen Trend jedoch mit großer Sorge (8). Die Auffassung, dass Abhängigkeit eine Hirnerkrankung sei, könne vielleicht als gute Public Relations bezeichnet werden, sei aber schlechte Erziehung und schlechte Wissenschaft.

“Die Brüche in den neuronalen Mechanismen, die mit der Abhängigkeit assoziiert sind, beschränken die Fähigkeit eines Individuums zu wählen, aber sie zerstören sie nicht.”

Man dürfe aus der Tatsache, dass Abhängigkeit mit Veränderungen im Gehirn einhergehe, nicht schließen, dass es sich dabei um eine Hirnerkrankung handele. Denn jede Erfahrung verändere das Gehirn, ganz gleich, ob es sich dabei darum handele, eine neue Sprache zu lernen oder sich in einer neuen Stadt zurecht zu finden. Zwar erzeuge der fortgesetzte Substanzkonsum mit der Zeit ein starkes Verlangen, das sich naturgemäß auch in Hirnprozessen widerspiegele, aber dieses Verlangen habe den Betroffenen nicht vollständig im Griff. Dies zeige sich sogar bei Heroinabhängigen. Diese seien nur während eines kleinen Teils ihres Tages “high” und meistens damit beschäftigt, Geld für Drogen oder diese selbst zu beschaffen (14). Dies sei ein Leben voller Stress, das mitunter aber von Phasen relativer Ruhe unterbrochen sei, in denen viele Substanzabhängige darüber nachdächten, mit oder ohne fremde Hilfe abstinent zu werden, und vielen gelänge dies auch.

Sehr vielen sogar. Die Überwindung der Substanzabhängigkeit sei nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Autoren zitieren beispielsweise die “Epidemiologic Catchment Area Study”, die 19.000 Personen einbezog. Unter denen, die im Alter von 24 Jahren substanzabhängig wurden, waren 75 Prozent im Alter von 37 Jahren “clean”. Zu ähnlichen und noch höheren Zahlen kamen weitere Studien mit erheblich größeren Stichproben. Man dürfe nicht von einer kleinen Zahl schwerstgestörter Süchtiger, die es nicht schafften, sich von den Drogen zu befreien, auf die große Mehrheit der Betroffenen schließen.

Das Modell der Abhängigkeit als einer Gehirnkrankheit beraube den Betroffenen seiner Verantwortung für sich selbst und lasse ihn auf eine medizinische bzw. chemische Kur hoffen, die es aber nicht geben könne. Vielmehr komme es auf die Entscheidung des Einzelnen an, fortan den entsprechenden Verlockungen zu widerstehen – und das Durchhalten einer solchen Entscheidung würde am besten durch eine Verpflichtung gefördert, deren Einhaltung von signifikanten Anderen kontrolliert werden könne.

Man müsse erkennen, dass Rauschmittel immer einen Zweck erfüllten, nämlich den, Probleme und eigene Schwächen zu verdrängen. Das Gehirnmodell der Abhängigkeit sei hier keine Hilfe, weil es der emotionalen Logik nicht gerecht werde, die Abhängigkeit auslöst und aufrecht erhält.

Die Autoren berichten von folgendem Fall, der in lustiger Form die Legende vom unwiderstehlichen Zwang zum Rauschgiftkonsum demontiert:

“Im Dezember 1966 wurde Leroy Powell in Austin, Texas, von einem städtischen Gericht zu einer Strafe von $ 20 verurteilt, weil er sich öffentlich in betrunkenem Zustand gezeigt hatte. Powell focht dieses Urteil vor dem Bezirksgericht an; sein Anwalt erklärte, sein Mandant leide an der Krankheit des chronischen Alkoholismus’. Powells öffentlicher Rauschzustand sei deswegen nicht sein eigener Wille gewesen und die Strafe stelle eine grausame und unübliche Form der Bestrafung dar. Ein Psychiater erschien und gutachtete, dass Powell gegenüber der Versuchung zu trinken machtlos war.

Powell trat vor die Schranken des Gerichts. Am Morgen seiner Verhandlung hatte er einen Drink um 8 Uhr, den ihm sein Anwalt gab, vermutlich um das morgendliche Zittern abzustellen. Es folgt nun ein Exzerpt aus dem Kreuzverhör:

Frage: Sie haben einen Drink um 8 Uhr genommen, weil sie trinken wollten.

Antwort: Ja.

F.: Und Sie wussten, dass, wenn sie ihn trinken, dass sie dann weitertrinken und betrunken werden?

A.: Nun, da ich hier in der Verhandlung zu erscheinen hatte, habe ich nur den einen Drink genommen.

F.: Sie wussten, dass Sie hier heute Nachmittag erscheinen mussten, aber an diesem Morgen haben Sie einen Drink genommen und Sie wussten, dass Sie sich es sich nicht leisten konnten, weiterzutrinken und zum Gericht kommen mussten; stimmt das?

A.: Ja, das stimmt.

F.: Weil Sie wussten, was sie tun würden, wenn sie weitertrinken würden, dass sie dann umkippen oder aufgegriffen werden würden.

A.: Ja.

F.: Und sie wollten nicht, dass Ihnen das heute passiert?

A.: Nein.

F.: Nicht heute?

A.: Nein.

F.: Deswegen hatten Sie nur einen Drink.

A.: Ja.”

Dies klingt wie unfreiwilliges Kabarett. Es zeigt aber einen Widerspruch im Verhalten von vielen Abhängigen: Sie behaupten steif und fest, nur einem unwiderstehlichen Zwang nachzugeben, obwohl sie durch ihr tagtägliches Verhalten beweisen, dass sie diesem Zwang gar nicht unterliegen. Das Vorhandensein der Fähigkeit, den Konsum in Abhängigkeit von befürchteten Konsequenzen einzuschränken, wurde, so schreiben die Autoren, im Übrigen auch durch empirische Studien nachgewiesen.

Der britische Psychiater Anthony Daniels arbeitete langjährig in Gefängnissen mit Drogenabhängigen. Später gab er diesen Beruf auf und wurde ein erfolgreicher Journalist und Schriftsteller. Er schreibt unter dem Autorennamen Theodore Dalrymple. Es sei, so sagt er in seinem Buch “Spoilt Rotten” (9), die schiere Sentimentalität, Drogenabhängige als Opfer einer Krankheit zu betrachten. Die meisten Heroinabhängigen konsumierten diese Substanz zunächst nur gelegentlich, bevor sie die Droge regelmäßig nähmen und physiologisch abhängig würden. Es sei nicht wahr, dass sie vom Heroin schlagartig süchtig würden, wie viele von ihnen zur Entschuldigung ihres Verhaltens behaupteten. Im Gegenteil: Sie würden mit derselben Entschiedenheit abhängig vom Heroin, mit der andere Weinliebhaber oder Briefmarkensammler würden. Das Heroin triebe sie auch nicht in die Kriminalität. Vielmehr sei die Abhängigkeit durchaus mit normaler Arbeit verträglich, außerdem wüssten die später Betroffenen lange zuvor, welches Leben sie als Heroinabhängige erwarte. Außerdem sei die Beschaffungskriminalität mit einem Ausmaß an Aktivität verbunden, das sehr wohl in legale Kanäle geleitet werden könnte. Und schlussendlich seien die meisten kriminellen Heroinabhängigen bereits vor Entwicklung ihrer Sucht mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Überdies sei auch der Entzug nicht so schrecklich, dass man ihn nicht durchstehen könne, wenn man denn wolle.

Jeffrey A. Schaler (10) bestreitet die Theorie, dass Abhängigkeit eine Krankheit sei, mit den folgenden Argumenten:

  1. Abhängigkeit ist intendiertes Verhalten; der Süchtige beabsichtigt, sein Suchtmittel zu konsumieren.
  2. Der Abhängige ist in der Lage, seinen Konsum zu moderieren.

Beide Punkte würden durch eine große Zahl von Studien empirisch erhärtet. Dies bedeutet, dass die Abhängigkeit von Substanzen keineswegs ein Automatismus sein kann, der auf einer Dysfunktion des Gehirns beruht und der notwendig (unabhängig von Lebensumständen) zum Suchtverhalten und zu seinen Konsequenzen führt. Abhängigkeit, so Schaler, ist keine Krankheit, sondern eine Wahl, eine Entscheidung.

In seinem Buch über die Abhängigkeit als Wahl (11) bestätigt Gene Heyman diese Sichtweise. Das Problem der Rauschmittel sei, dass sie den Wert aller Verhaltensalternativen neutralisieren. Sex, gutes Essen, Freunde, was auch immer, im Zweifelsfall gewinnt die Droge. Dies ist jedenfalls der Fall, solange wir nur die lokale Perspektive, die Sichtweise des Augenblicks einnehmen. Aus globaler Perspektive betrachtet, ist das Rauschmittel zweifellos nicht die beste aller Alternativen. Je weniger Drogen wir nehmen, desto stärker kann die Freude werden, die wir bei anderen Aktivitäten empfinden. Statistiken, so Heyman, beweisen nun eindeutig, dass eine große Zahl von Abhängigen im Lauf der Zeit in der Lage ist, die globale Perspektive einzunehmen und sich für einen kontrollierten Konsum oder auch für die Abstinenz zu entscheiden. Es sind häufig veränderte Lebensumstände (zum Beispiel eine Eheschließung), die diesen Wandel bewirken.

Die unter den Vertretern des Krankheitsmodells vorherrschende Position besagt: Beim Abhängigen ist das Dopamin-System verändert, so dass im Lauf der Zeit nur noch die Droge der Wahl die Ausschüttung von Dopamin in den Nucleus accumbens (NAC) auszulösen vermag. Andere potenzielle Belohnungen können dies, mit fortschreitender Suchtentwicklung, entsprechend immer weniger. Der NAC ist zuständig für zielgerichtetes Verhalten und für die Motivation, Ziele zu verfolgen. Dumm nur, dass der NAC in alle Aktivitäten involviert ist, die Freude bereiten. Ganz gleich, ob wir ein Pop-Konzert besuchen, uns zum ersten Mal allein mit unserer neuen Flamme treffen, mit dem Flieger im Urlaubsparadies landen oder Heroin konsumieren (12).

Dies ist der Grund, warum Leute wie Bechara nach spezifischen Defekten in Entscheidungsprozessen suchen, die Substanzabhängige von anderen Leuten unterscheiden. Solche Spezifika wird es vermutlich geben, keine Frage. Solange Menschen von einer bestimmten Droge abhängig sind, bleibt es nicht aus, dass bestimmte Prozesse in ihrem Hirn auf diese Droge zugeschnitten sind und ihr Verhalten bestimmen. Vergleichbares wird bei Paul geschehen, sobald er sich in Paula verliebt hat. Keine Frage. Doch um von einer Krankheit sprechen zu können, müsste ein Automatismus ablaufen, der sich weitgehend der Kontrolle durch den Betroffenen entzieht und in allen sozialen Kontexten abläuft, sobald nur der entsprechende, eine Belohnung versprechende Reiz prinzipiell verfügbar ist. Wenn wir von Franks Sinatras bemerkenswerter Gestaltung der Entzugsszene im Film “Der Mann mit dem goldenen Arm” einmal absehen, beobachten wir derartige Automatismen sogar in den krassesten Fällen und extremsten Situationen bei Substanzabhängigen nicht. Auch Leute, die man nicht einsperrt oder gar ans Bett fesselt, können einen Substanzentzug durchstehen, obwohl an der nächsten Straßenecke die Droge ihrer Wahl auf sie wartet. Und Paul ist in der Lage, eine vierzehntägige, unaufschiebbare Dienstreise ohne Paula zu ertragen, wenngleich ungern.

In Becharas Experimenten zeigte im Übrigen auch eine Teilgruppe der angeblich Normalen ein Muster, das an Substanzabhängige oder gar an VM-Patienten gemahnte. Bechara und Mitarbeiter kommentieren dies mit dem Verdacht, dass die Angehörigen dieser Teilgruppe womöglich Gefahr liefen, selbst substanzabhängig zu werden. Mag sein, oder auch nicht. Es kann genauso gut sein, dass es sich bei den Unterschieden zwischen Drogenabhängigen, Normalen und VM-Patienten um ein experimentelles Artefakt handelt, dass in keiner stringent nachvollziehbaren Beziehung zur Entscheidungsfindung im realen Leben steht.

Fazit: Es gibt einige, eher schlecht als recht bestätigte Theorien zu Hirnprozessen bei Substanzabhängigen, die aber das Krankheitsmodell nicht bestätigen können, weil sie einerseits keine klare Abgrenzung zwischen Süchtigen und Nicht-Süchtigen ermöglichen und weil andererseits (auf Grundlage der entsprechenden Experimente) nicht entschieden werden kann, ob es sich bei diesen Hirnprozessen um reversible Anpassungen an das süchtige Verhalten handelt oder um dauerhafte Störungen, die ohne ärztliche Behandlung (oder sogar trotz dieser) in aller Regel bestehen bleiben.

Demgegenüber steht, abgeleitet aus alltäglicher Erfahrung, ein Bild des Süchtigen, der sich selbst konditioniert, und zwar mit Substanzen, die in der jeweiligen Situation alles in den Schatten stellen, was sich dem Abhängigen sonst noch bietet. Er entscheidet sich für diese begrenzte, lokale Sichtweise, und im Rahmen dieser Sichtweise handelt er durchaus rational. Er maximiert den Belohnungswert seines Handelns. Dass er dabei unter Umständen in Experimenten zur Entscheidungsfindung Menschen mit nachgewiesenen  neurologischen Störungen ähnelt, bedeutet nicht, dass eine neurologische Störung für sein Verhalten verantwortlich ist. Wenn zwei Menschen Fieber haben, heißt dies ja auch nicht, dass dem Fieber bei diesen beiden Menschen derselbe organische Prozess ursächlich zugrunde liegen muss.

Somatische Marker

Wenden wir uns noch einmal der Theorie der somatischen Marker zu, die den Arbeiten von Bechara und Mitarbeitern zugrunde liegt. Könnte es nicht sein, dass eine Störung der Signalfunktion körperlicher emotionaler Zustände für die suboptimale Entscheidungsfindung bei Süchtigen, insbesondere für ihre Neigung zur bedenkenlosen Bevorzugung unmittelbarer Belohnungen unter Missachtung der langfristigen Folgen, verantwortlich ist?

Antonio Verdejo-García und Antoine Bechara haben in einem Übersichtsartikel (13) die empirischen Befunde zusammengetragen, die aus ihrer Sicht für diese Hypothese sprechen. Sie schließen aus der von ihnen gesichteten Literatur, dass es wenigstens

“zwei zugrunde liegende Typen von Dysfunktionen gibt, bei denen emotionale Signale (somatische Marker) (in der Entscheidungsfindung, HUG) die unmittelbaren Handlungsergebnisse bei Abhängigkeiten begünstigen: (1) eine Hyperaktivität im Mandelkern oder dem impulsiven System, die den belohnenden Einfluss verfügbarer Anreize übertreibt, und (2) eine Hypoaktivität im präfrontalen Kortex oder dem reflektierenden System, das die langfristigen Konsequenzen einer gegebenen Handlung vorhersagt.”

Rufen wir uns zunächst noch einmal die Theorie der somatischen Marker ins Gedächtnis:

“Wenn ein negativer somatischer Marker neben ein besonderes zukünftiges Ergebnis gestellt wird, wirkt die Kombination wie eine Alarmglocke. Wenn ein positiver somatischer Marker stattdessen daneben gestellt wird, wird er zu einem Blinklicht des Anreizes. Dies ist die Essenz der Hypothese der somatischen Marker.”

Die Autoren meinen, dass Defekte in den neuronalen Netzwerken, die für die somatischen Marker verantwortlich zeichnen, die Schwierigkeiten hervorrufen, die Substanzabhängige dabei haben, vorteilhafte (advantageous) Entscheidungen zu fällen. Ich möchte mich nicht mit den Details der Untersuchungen auseinandersetzen, die nach Bekunden der Autoren diese Meinung stützen, sondern nur einige grundsätzliche Aspekte dieses Ansatzes beleuchten.

Unter “vorteilhaft” verstehen die Autoren solche Entscheidungen, die langfristig das Verhältnis von Kosten und Nutzen optimieren. Dies setzt u. a. voraus, dass eine langfristige Handlungsplanung möglich ist. Für einen Substanzabhängigen in einer prekären Lebenssituation, für den “die Zukunft in den Sternen” steht, der also gar keine Chance sieht, durch gegenwärtiges Handeln seine zukünftige Lage entscheidend zu beeinflussen, mag eine ausschließliche Orientierung an der unmittelbaren Belohnung durchaus rational sein. Solche Erwägungen liegen jedoch offenbar jenseits des Horizonts dieser Autoren. Unabhängig davon, werfen diese Überlegungen Fragen zur Validität der geschilderten Experimente von Bechara und Mitarbeitern auf. Hier war die Beziehung zwischen den Handlungen und ihren Ergebnissen ja fix: Es gab “gute” und “schlechte” Stapel, derart, dass die “guten” langfristig mehr Erfolg brachten als die “schlechten”. Was aber, wenn es solche Stapel im Leben einer bestimmten Sorte von Substanzabhängigen gar nicht gibt? Wenn es für sie tatsächlich klüger ist zu nehmen, was man kriegen kann, ohne sich über die ohnehin unbeeinflussbaren Folgen Gedanken zu machen? Könnte es sein, dass bei der Denkweise von Bechara und ähnlich gestrickten Menschen die Lebenswelt der gehobenen Mittelklasse Pate stand?

Wenn also bestimmte Substanzabhängige sich so entscheiden, als ob Dysfunktionen von neuronalen Netzwerken diese Entscheidungen hervorriefen, so kann die wahre Erklärung dafür eine andere, eine kontextbezogen andere sein: Es ist durchaus denkbar, dass diese Substanzabhängigen nie gelernt haben, eine globale Perspektive einzunehmen. Sie haben dies nicht gelernt, weil ihnen eine solche Sichtweise in dem Lebensumfeld, das sie kennen gelernt haben, keinen Vorteil gebracht hätte. In einem solchen Lebensumfeld hängen die Geschicke von Menschen in überwältigendem Ausmaß von Umwelteinflüssen ab, die sich beim besten Willen der Kontrolle durch das Individuum entziehen. Es ist daher gar nicht möglich, Entscheidungen am Ziel der langfristigen Optimierung von Kosten und Nutzen zu orientieren. Es kommt darauf an, sofort zuzugreifen und zu konsumieren, wenn sich eine entsprechende Gelegenheit bietet. Wer an ein solches Muster des Entscheidens und Verhaltens gewöhnt ist, der mag es schwer haben, sich in einem Experiment erfolgreich zu verhalten, in dem der Erfolg von Kriterien abhängt, die man gar nicht verinnerlicht hat. Um dies zu erklären, muss man keine dysfunktionalen neuronalen Netzwerke voraussetzen, sondern nur solche Netzwerke, die so funktionieren, wie es im jeweiligen realen Umfeld des Versuchsteilnehmers sinnvoll ist. Falls man hier also von einem Defekt sprechen will, dann sollte man ihn in der Umwelt suchen – und nicht im Gehirn.

Die Lebenssituation vieler Substanzabhängiger mag auch erklären, warum sie bei der Beschaffungs-Kriminalität und -Prostitution erhebliche Risiken eingehen und die langfristigen Folgen zu ignorieren scheinen. Wer die Hoffnung auf eine Karriere in der bürgerlichen Welt nie gehabt oder längst aufgegeben und sich mit der Perspektive eines Lebens zwischen Drogenszene, Knast und Therapie bereits abgefunden hat, dem sind die langfristigen Folgen seines Handelns vermutlich eher gleichgültig. Wohl aber kann er auf die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung mittels Drogen durchaus verzichten, wenn es darum geht, durch diverse legale und illegale Aktivitäten Geld für die laufenden Kosten zu beschaffen, die mit einem Leben als Substanzabhängiger alltäglich verbunden sind (siehe Fußnote 14). In diesem Falle kann er nicht zwischen “guten” und “schlechten” Stapeln wählen, sondern er hat keine andere Wahl als die, sich der Geldbeschaffung für Drogen zu widmen und entsprechend vorübergehend auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zu verzichten. Er könnte sich dieser Zwickmühle nur durch die Entscheidung für eine globale Perspektive entziehen, doch zu dieser wird er durch seine Lebensumstände nicht gerade ermutigt.

Kurz: Es ist denkbar, dass diese “Gambling Task” besser mit der Lebenssituation von “Normalen” übereinstimmt als mit der Lage von Substanzabhängigen und dass deswegen die Normalen bei dieser Aufgabe besser abschneiden, weil sie in stärkerem Maße ihren alltäglichen Entscheidungssituationen entspricht. Holzschnittartig formuliert: Während es sich im Leben des “Normalen” durchaus auszahlt, zugunsten langfristiger Ziele kurzfristig auf Bedürfnisbefriedigung zu verzichten bzw. eine Einschränkung in Kauf zu nehmen, darf sich der “Drogenabhängige” derartige Perspektiven nicht ausrechnen. Er verhält sich wie ein “Normaler” nur in einer Zwangslage. Daraus ergeben sich unterschiedliche Lebenspläne und damit auch unterschiedliche Formen der Entscheidungsfindung. Der Normale ist geübter, sich im Sinne des Experiments vorteilhaft zu verhalten als der Substanzabhängige.

Immerhin versäumen die Autoren in der abschließenden Diskussion ihres Beitrags folgenden Hinweis nicht:

“Weitere Forschungen sind notwendig, um sich der Frage zu widmen, wie vorbestehende genetische Faktoren und / oder Einflüsse aus der Umwelt zu den neuronalen funktionellen Abnormitäten führen, die die Entwicklung dieser verschiedenen Störungen erklären könnten.”

Zu den weiteren Störungen, denen die von ihnen beschriebenen Dysfunktionen mutmaßlich zugrunde liegen, zählen die Verfasser die Spielsucht, die Zwangsstörung und die antisoziale Persönlichkeitsstörung. Selbst wenn die genannten Schaltkreise tatsächlich an diesen Störungen beteiligt sein sollten, ist immer noch nicht die Frage beantwortet, ob es sich dabei nicht um nachvollziehbare, naheliegende und sinnvolle Anpassungen an Umwelten handeln könnte, in denen Menschen im Schnitt besser zurechtkommen, wenn sie ein stärkeres Gewicht auf unmittelbare Belohnungen legen und dabei die möglichen langfristigen Strafen ignorieren. Um ein krasses Beispiel zu nennen: Während einer Hungersnot werden Menschen eventuell verschimmelte Lebensmittel essen, auch wenn sie wissen, dass dies erhebliche langfristige gesundheitliche Gefahren birgt. Sie machen dennoch satt. Ihnen deswegen neuronale funktionelle Abnormitäten zu unterstellen, wäre reichlich zynisch.

Es stellt sich grundsätzlich die Frage, ob Experimente wie die beschriebenen die Lebenslage aller Versuchsteilnehmer gleich gut widerspiegeln. Es geht ja schließlich nicht darum, nur – Kunst für die Kunst – das Verhalten in der experimentellen Situation zu erklären, sondern man möchte vom Verhalten im Experiment auf das Verhalten im realen Leben schließen. Was in der einen Lebenslage als dysfunktional erscheint, mag in einer anderen eventuell sogar alternativlos sein. Es mag unvernünftig sein, für die Freuden täglichen, massiven Alkoholkonsums seine Ehe, seinen Arbeitsplatz, sein Wohlleben aufs Spiel zu setzen. Doch was ist mit Leuten, die keine Ehepartner haben, keinen Arbeitsplatz und deren Aussichten auf ein Wohlleben irgendeiner Art insgesamt überaus schlecht sind? Solche Überlegungen gelten im Übrigen auch für Menschen, die Ehepartner, Arbeitsplatz, Yacht und Haus besitzen, all dies aber aus welchen Gründen auch immer nicht genießen können und keine Hoffnung haben, dass sich dies irgendwann einmal ändern wird. Wäre es dann nicht im Grunde vernünftig, dem einzigen, was Spaß macht, dem Rauschmittel zuzusprechen, koste es, was es wolle? Anhedonie wird bekanntlich sehr häufig bei Abhängigen beobachtet (15).

Fortsetzung folgt

Im dritten Teil meiner Auseinandersetzung mit der Entscheidungsfindung bei den so genannten psychisch Kranken werde ich mich auf die so genannten Depressiven konzentrieren. Die “Depression” befällt die Betroffenen angeblich oftmals aus heiterem Himmel und sie ist, so scheint es, ein zutiefst negativer Zustand, der nicht selten sogar einen Suizid nach sich zieht. Kein Gedanke also daran, dass die “Depression” auf einer freien Entscheidung beruhen könnte, oder?

Anmerkungen

(1) Bechara, A. & Damásio, H. (2002). Decision-making and addiction (part I): impaired activation of somatic states in substance dependent individuals when pondering decisions with negative future consequences. Neuropsychologia 40, 1675–1689

(2) Damásio, A. R. (1997). Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München: Deutscher Taschenbuch Verlag

(3) Damásio, A. R. & Anderson, S. W. (2003). The frontal lobes. In: Heilman, K. et al. Clincal Neuropsychology. Oxford: Oxford University Press, Seiten 404 – 446

(4) Cook, T. D. & Campbell, D. T. (1979). Quasi-Experimentation. Design & Analysis Issues for Field Settings. Boston: Houghton Mifflin Company

(5) Bechara, A., Dolan, S. & Hindes, A. (2002). Decision-making and addiction (part II): myopia for the future or hypersensitivity to reward? Neuropsychologia 40, 1690–1705

(6) Hier stellt sich allerdings die Frage, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, zunächst zu versuchen, das ursprüngliche Experiment zu replizieren, zumal dies ohnehin, aufgrund einer Modifikation der Hypothese im Verlauf der Studie und anderer methodischer Mängel, allenfalls als explorativ bzw. “heuristisch” verstanden werden kann. Aber selbst wenn ein Experiment, das inferenzstatistisch ausgewertet wird, einwandfrei ist, muss es, aus wahrscheinlichkeitstheoretischen Gründen, erst mehrfach, von unabhängigen Forschern und in unterschiedlichen Institutionen, repliziert worden sein, bevor die Resultate ernst genommen werden können. Siehe: Moonesinghe R, Khoury MJ, Janssens ACJW (2007) Most Published Research Findings Are False—But a Little Replication Goes a Long Way. PLoS Med 4(2): e28. doi:10.1371/journal.pmed.0040028

(7) Uttal, W. R. (2011). Mind and Brain. A Critical Appraisal of Cognitive Neuroscience. Cambridge: MIT Press

(8) Satel, S. & Lilienfeld, S. O. (2013). Brainwashed. The Seductive Appeal of Mindless Neuroscience. New York, N. Y.: Basic Books

(9) Dalrymple, T. (2010). Spoilt Rotten. The Toxic Cult of Sentimentality. London: Gibson Square Books

(10) Schaler, J. A. (2002). Addiction is a Choice. Psychiatric Times, Oct 1

(11) Heyman, G. M. (2009). Addiction: A Disorder of Choice. Harvard: Harvard University Press

(12) Lewis, M. (2012). Why Addiction is NOT a Brain Disease. PLOS Blogs, Nov 12

(13) Verdejo-García, A. & Bechara, A. (2009). A somatic-marker theory of addiction. Neuropharmacology, 56(Suppl 1): 48–62

(14) Bechara und Mitarbeiter haben wegen dieser Tatsache ein Paradox zu erklären: Wenn einige Substanzabhängige sich tatsächlich wie bestimmte Hirngeschädigte verhalten und nicht willens oder in der Lage sind, die langfristigen Konsequenzen ihres Konsums zu bedenken, wie kann es ihnen dann gelingen, das Geld für Drogen und diese selbst durch legale oder illegale Tätigkeit zu beschaffen? Stellen wir uns einmal vor, ein Heroinsüchtiger habe noch ein Tütchen Stoff, müsse aber, um die Versorgung auf Dauer aufrecht zu erhalten, auf Diebestour gehen oder sich prostituieren. Hätten Bechara und Mitarbeiter recht mit ihrer These, so wäre doch ein Teil der Drogenabhängigen mit diesem Sachstand heillos überfordert. Diese Drogenabhängigen mit “Dysregulation” würden schließlich, aufgrund ihrer Unfähigkeit, eine dauerhafte Versorgung aufrecht zu erhalten, früher oder später von selbst geheilt, mangels Stoff. Um eine derartige Sucht zu finanzieren, muss man nämlich ständig aktiv sein und nicht nur dann, wenn einen die Entzugserscheinungen plagen – wobei es zusätzlich zu bedenken gilt, dass man während eines Abstinenzsyndroms kein besonders guter Autodieb, Dealer und auch kein guter Verkäufer des eigenen Körpers ist.

(15) Stavros Hatzigiakoumis, D. et al. (2011). Anhedonia and Substance Dependence: Clinical Elaborates and Treatment Options. Front Psychiatry. 2011; 2: 10

(16) Der Grund für das Scheitern der meisten Replikationsversuche dürfte vor allem darin bestehen, dass es sich bei vielen der angeblich signifikanten Ergebnisse statistischer Tests um Scheinsignifikanzen handelt, dass also die reale Irrtumswahrscheinlichkeit die nominelle (meist 5 Prozent) bei weitem überschreitet. Siehe: Staddon, J. (). The New Behaviorism. New York, N. Y.: Psychology Press

(17) Unter Substanzabhängigen werden im Folgenden alle Abhängigen von Stoffen verstanden, also von legalen und illegalen Drogen – im Unterschied zu den nicht an Stoffe gebundenen Süchtigen, wie zum Beispiel den Spiel-, Kauf- oder Sex-Süchtigen.

(18) Der Mandelkern (Amygdala) ist im Besonderen bei der Entstehung von Angst und ganz allgemein an der Regulation emotionaler Reaktionen beteiligt.

(19) Im Gegensatz zum Fehler erster Art lässt sich der Fehler zweiter Art nicht berechnen. Wird also die Nullhypothese beibehalten, so ist dies stets mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit verbunden, deren Größe sich nicht exakt bestimmen lässt. Der Fehler zweiter Art hängt mit der Trennschärfe des Tests zusammen. Die Trennschärfe (Power) eines statistischen Tests ist die Wahrscheinlichkeit, dass er die Nullhypothese korrekt verwirft, wenn sie falsch ist. Die Power hängt u. a. von der für den Fehler erster Art gewählten Irrtumswahrscheinlichkeit, von der Stichprobengröße und von der Größe des “wahren” Effekts in der jeweiligen Population ab. Dieser “wahre” Effekt ist aber unbekannt und kann daher nur geschätzt werden. Man kann die Effektgröße auf Basis bisheriger Studien zu dem in Rede stehenden Phänomen bestimmen. Doch das ist schieres Glatteis. Einer der Gründe dafür wird “Publication Bias” genannt. Forscher neigen dazu, nur signifikante Befunde zu veröffentlichen und die Studien mit nicht-signifikanten Ergebnissen in der Schublade verschwinden zu lassen. Das Ergebnis ist eine Überschätzung des wahren Effekts. Je kleiner der wahre Effekt, desto größer ist der die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers zweiter Art.

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