Ein Gedankenexperiment:
Eine neue ansteckende Krankheit tritt auf. Sie kann tödlich verlaufen. Manche Betroffene verweigern die Behandlung. Es gibt einen Test, der das Vorliegen des verantwortlichen Krankheitserregers feststellen soll. Dieser Test hat aber einen Nachteil: Seine Validität ist unbekannt. Zwar korreliert er mit einzelnen Symptomen der Krankheit, aber diese Symptome könnten auch von anderen Prozessen hervorgerufen werden. Es gibt keinen bisher nachgewiesenen Zusammenhang zwischen den Testergebnissen und den mit der Infektion verbundenen körperlichen Vorgängen. Dies bedeutet, dass wir nicht wissen können,
- wie viele der positiv getesteten Probanden tatsächlich infiziert sind und
- wie viele der negativ getesteten Probanden nicht doch das Virus in sich tragen.
Erschwerend kommt hinzu, dass unterschiedliche Labors mit dem Test bei ein und demselben Probanden nicht selten zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen.
Es stellt sich nun die Frage, ob dieser Test die Grundlage für die zwangsweise Unterbringung und Behandlung eines Menschen sein sollte. Wenn wir diesen Test als Basis akzeptieren, nehmen wir in Kauf, eine unbekannt große Zahl von Menschen ihrer Freiheit zu berauben, obwohl sie nicht infiziert und damit auch nicht gefährlich sind, also weder andere, noch sich selbst krankheitsbedingt schädigen werden.
Wie würden Sie entscheiden?
Nicht gerade erleichtert würde Ihre Entscheidung durch die Tatsache, dass Sie noch nicht einmal wüssten, ob die Phänomene, die Sie als Symptome der Ansteckung deuten, tatsächlich durch ein Virus hervorgebracht werden. Es könnten andere Ursachen vorliegen, so dass die übliche Behandlung, die eine Ansteckung voraussetzt, nicht angemessen und unnötig belastend wäre.
Schlussendlich gilt es auch noch zu bedenken, dass die Behandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche und oftmals irreversible Schadwirkungen nach sich zieht.
Nehmen wir einmal an, lieber Leser, Sie wären davon überzeugt, dass es “psychisch Kranke” tatsächlich gäbe, also beispielsweise “Schizophrene”; und sie glaubten zudem, dass manche dieser “Erkrankten” krankheitsuneinsichtig seien und andere oder sich selbst schädigen könnten. Unter diesen Bedingungen träfe das oben geschilderte Gedankenexperiment passgenau auf Ihre Entscheidungssituation zu. Ja, sicher, Sie sind durchdrungen von der Gewissheit, dass die merkwürdigen Muster des Verhaltens bestimmter Leute krankhaft sind und ja, Sie glauben fest daran, dass einige dieser Leute eine Bedrohung darstellen und sicher, Sie vertrauen darauf, dass die Ärzte schon wissen werden, was sie tun. Allein, ob dieses Vertrauen auch gerechtfertigt ist, das wissen Sie nicht.
Wie würden Sie entscheiden?
Kehren wir noch einmal zu unserem Gedankenexperiment zurück. Nehmen wir einmal an, dass die Infizierten aus welchen Gründen auch immer stigmatisiert würden. Wer also fälschlich als infiziert diagnostiziert würde, müsste nicht nur eine unnötige Freiheitsberaubung und eine potenziell gefährliche Behandlung über sich ergehen lassen, sondern er wäre allein durch die Diagnose schon fürs Leben gezeichnet, liefe Gefahr, vom Partner verlassen zu werden, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, kurz: sozial ausgegrenzt zu werden. Grundlage dafür wäre ein Test, dessen Qualität nicht eingeschätzt werden kann.
Nehmen wir nun an, lieber Leser, Sie müssten an diesem Gedankenexperiment zweimal teilnehmen. Im ersten Durchgang ginge es um die bereits geschilderte Infektionskrankheit und beim zweiten Versuch stünde eine so genannte psychische Krankheit zu Debatte. Würden Sie in beiden Fällen gleich entscheiden?
Unterstellen wir zudem, dass die Behandlung in beiden Fällen mit überaus aversiven Begleiterscheinungen verbunden wäre. Im Mittelpunkt stünden Medikamente, deren Wirkung als unangenehm, ja, sogar quälend erlebt werden könnte. Dies ist bei der Behandlung von “Schizophrenen” tatsächlich der Fall; bei der erfundenen Infektionskrankheit unterstellen wir es zum Zwecke der Vergleichbarkeit. Für den Fall einer unnötigen Maßnahme käme eine Zwangsbehandlung also einer Folterung gleich.
“Die Anzahl der notwendigen Behandlungen (en. number needed to treat NNT) ist eine statistische Maßzahl, die angibt, wie viele Patienten pro Zeiteinheit (z. B. 1 Jahr) mit der Testsubstanz oder Testmethode behandelt werden müssen, um das gewünschte Therapieziel bei einem Patienten zu erreichen bzw. um ein Ereignis (z. B. Herzinfarkt) zu verhindern (Wikipedia).”
Wie viele Menschen, lieber Leser, würden Sie foltern lassen, um aus einem der Gefolterten, der die interessierende Information tatsächlich hat, die Wahrheit herauszupressen? Wie hoch würden Sie, Hand aufs Herz, die “number needed to torture” ansetzen?
Wie viele Menschen, lieber Leser, würden Sie Ihrer Freiheit berauben und mit Neuroleptika behandeln lassen, um einen Suizid oder eine schwere Gewalttat zu verhindern?
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