In einem Beitrag zum Wiederaufnahmeverfahren Gustl Mollaths schrieb Ursula Prem:
“Auf die Nachfrage von Gerhard Strate zum Inhalt des Gesprächs gibt Krach an, sie habe Wörthmüller gefragt, was Mollaths Krankheit sein könnte. Dieser habe sich nicht festgelegt und nur gesagt: »Da ist schon was …« – Mein Kommentar dazu: Auch nach sorgfältigster Nachsuche konnte ich keinen entsprechenden ICD-10-Code für eine Krankheit dieses Namens ausmachen.”
Dazu verfasste ich folgenden Kommentar:
“‘Da ist schon was’ ist die saloppe Bezeichnung für eine ‘Krankheit’, die im ICD mit F99 kodiert wird, nämlich als ‘Psychische Störung ohne nähere Angabe’. Davon zu unterscheiden ist die ‘Organische psychische Störung ohne nähere Angabe’ (F06.9). Wenn also alle Stricke reißen und man in der Fülle beliebiger psychiatrischer ‘Krankheitsbilder’ nichts Passendes findet, bleibt immer noch F99.”
Inzwischen habe ich über diese ominöse Diagnose F99 noch einmal nachgedacht. Zunächst hielt ihn sie für ein hübsches Beispiel unfreiwilliger Komik, doch nun weiß ich es besser. Es gilt nämlich zu bedenken, dass es sich bei den “Syndromen” der psychiatrischen Diagnostik um Konstrukte handelt, die sich nicht hinlänglich genau voneinander und vom “Normalen” abgrenzen lassen. Sie sind auch aus diesem Grunde nicht valide (1).
Deswegen ist die Aufteilung des Konstrukts der “psychischen Krankheit” in einzelne “Krankheitsbilder” eigentlich überflüssig, da die psychiatrische Diagnostik die Wirklichkeit gestörten menschlichen Verhaltens und Erlebens so differenziert nicht widerzuspiegeln vermag. Und da sie auch keine klare Scheidelinie zwischen dem Kranken und dem Gesunden anzugeben weiß, bleibt nur eine Erkenntnis bestehen: Wir sind alle F99.
Auch wenn uns hierzu noch keine Daten vorliegen, so darf doch als sicher vorausgesetzt werden, dass menschliche Wesen bereits im Mutterleib F99 sind. Dieser Status endet erst in dem Augenblick, da der Tod zweifelsfrei feststeht. In der Zwischenzeit dürfte es wohl das Beste für uns sein, regelmäßig unsere Medikamente zu nehmen. Da ist schon was! So oder so, F99 nämlich: eine psychische Störung ohne nähere Angabe.
F99 ist eine wirklich komfortable Diagnose: Unsere Ärzte haben freie Hand und auch wir können tun und lassen, was wir wollen, ohne dadurch unseren Status als “psychisch Kranke” in Frage zu stellen. Diesen Freiraum hätten wir nicht, wenn wir an einer profanen, einer so genannten somatischen Krankheit litten.
Die Diagnose “Fußpilz” zwingt uns beispielsweise dazu, die Symptome Rötung, Nässen, Schuppung, Blasenbildung, Juckreiz und am besten auch noch Entzündungen auszuprägen sowie Dermatophyten dafür verantwortlich zu machen. Dem Arzt wären weitgehend die Hände gebunden, er müsste ein Antimykotikum einsetzen, also eine Substanz, die den Krankheitserreger kausal bekämpft.
Freuen wir uns also, wenn uns außer F99 nichts fehlt. Dann ist unsere Behandlung nicht mehr in die seelenlose, starre, mechanische Welt der Kausalität eingebunden. Der Psychiater darf sich vielmehr die Freiheit nehmen, nach Gutdünken zahllose Mittel und Verfahren an uns auszuprobieren und deren Auswirkungen kraft Daumenpeilung einzuschätzen. Wir sollten es dafür an Dankbarkeit nicht fehlen lassen, weil wir als F99er sonst nur zu leicht ins Gefährliche oder Suizidale abgleiten und zwangsbehandelt werden müssen.
Das Kapitel V der ICD (“Psychische und Verhaltensstörungen”) käme also gut mit nur einem F-Code aus, wenn da die Krankenkasse nicht wäre. Dort haben Männer das Sagen, und Männer lieben Geräte mit vielen Knöpfen und Schaltern, beispielsweise am Auto, am Computer, an der Wasch- und an der Geschirrspülmaschine. Diese Vorliebe übertragen sie auch auf ihre Arbeit und das Reich des Symbolischen. Und so schreibt der Arzt beispielsweise F21 oder F60.3 auf seinen Zettel, obwohl F völlig genügen würde, also in Worten: Da ist schon was.
Anmerkung
(1) Kendell, R. & Jablensky, A. (2003). Distinguishing Between the Validity and Utility of Psychiatric Diagnoses, Am J Psychiatry; 160:4–12
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