Ein Mensch bringt einen anderen um und wird gefasst. Bei seiner Vernehmung gibt er an, eine Stimme gehört zu haben, die sonst niemand hören könne. Diese Stimme habe ihm die Tat befohlen. Wie unter Zwang habe er diesem Befehl gehorchen müssen. Vor Gericht wird der Mensch für schuldunfähig erklärt und in den Maßregelvollzug eingewiesen. Ist dies gerechtfertigt? Spielte bei dieser Tat tatsächlich eine so genannte Kommando-Halluzination eine entscheidende Rolle?
Es gibt eine Reihe von Sichtweisen, hier die wohl wichtigsten:
- Der Mensch reagierte aufgrund einer Erkrankung seines Gehirns wie ein Automat auf den Befehl einer halluzinierten Stimme.
- Der Mensch ist ein Simulant.
- Der Mensch hatte die Absicht, den Mord zu begehen, aber er verleugnete diese Absicht und setzte an ihre Stelle den unwiderstehlichen Befehl einer Stimme, die sonst niemand hört.
Welche dieser Erklärungen trifft zu?
Bisher ist es der Forschung, trotz Jahrzehnte langer Bemühungen, nicht gelungen, Hirnprozesse zu identifizieren, die für ein derartiges Verhalten ursächlich sein könnten. Es sind auch keine Störungen des Nervensystems bekannt, die einen Menschen seines freien Willens berauben könnten. Wie Peter Ulric Tse in seinem Buch “The Neural Basis of Free Will” zeigte, gibt es keinen neurowissenschaftlichen Grund, dem Menschen generell den freien Willen abzusprechen. Daraus folgt, dass wir, wissenschaftlich betrachtet, keinen Anlass haben zu glauben, dass der erwähnte Mensch tatsächlich, aufgrund einer Erkrankung seines Gehirns, schuldunfähig wie ein Automat oder ein wildes Tier, seine Tat begangen habe.
Die Studien zu Gewalttaten unter dem mutmaßlichen Einfluss von Kommando-Halluzinationen stecken noch in den Kinderschuhen und strotzen vor methodischen Fehlern. Dies zeigt sich beispielsweise in einer gründlichen Meta-Studie von L. G. Braham und Mitarbeitern (Acting on command hallucinations and dangerous behavior: a critique of the major findings in the last decade. Clin Psychol Rev. 2004 Sep; 24 (5): 513-28). Die Gewissheit, mit der man sich im Falle dieses Menschen für die erste Interpretation seines Verhaltens entschied, hat also keinen Fußhalt in der Wissenschaft.
Nun könnte der Mensch natürlich auch ein Simulant sein. Doch dies ist ziemlich unwahrscheinlich, weil es sich im Gefängnis weitaus angenehmer lebt als im Maßregelvollzug und weil man als “psychisch kranker” Mörder eine viel geringere Wahrscheinlichkeit hat, freizukommen als ein Straftäter unter sonst gleichen Bedingungen.
Die dritte Erklärung vertritt der amerikanische Psychiater und Psychiatriekritiker Thomas Szasz, u. a. in seinem Aufsatz: Mental illness: psychiatry’s phlogiston (J Med Ethics 2001; 27:297-301). Hier schreibt er:
As I have shown elsewhere, the so-called voices some mentally ill people “hear” are their own inner voices or self conversations, whose authorship they disown.(10) This interpretation is supported by the fact that neuroimaging studies of hallucinating persons reveal activation of Broca’s (speech) area, not activation of Wernicke’s (auditory) area.(13)
…
The “mental patient” who attributes his misdeed to “voices”-that is, to an agent, other than himself, whose authority is irresistible-is not the victim of an irresistible impulse; he is an agent, a victimiser rationalising his action by attributing it to an irresistible authority. The analogy between a person who “hears voices” and an object, say a computer programmed to play chess, responding to information, is false. Mental patients responding to the commands of “voices” resemble persons responding to the commands of authorities with irresistible powers, exemplified by “suicide-bombers” who martyr themselves in the name of God. Both types of persons are moral agents, albeit both types represent themselves as slave-like objects, executing the wills of others (often identified as God or the devil). These representations are dramatic metaphors that actors and audience alike may, or may not, interpret as literal truths. It is not by accident that, in all the psychiatric literature, there is not a single account of voices that command a schizophrenic to be especially kind to his wife. That is because being kind to one’s wife is not the sort of behaviour to which we want to assign a causal (psychiatric) explanation.
Es spricht also sehr viel dafür, dass ein Mensch, der einen anderen unter dem angeblichen Einfluss von Stimmen umbringt, eine Art “Gesichtswahrung” betreibt. Dies ist der wahre Sinn der Kommando-Halluzination. Die eigene Absicht einer fremden Stimme zuzuschreiben, ist eine Fehlattribution, deren Funktion uns sofort ins Auge springt, wenn wir uns vom Mythos der Schizophrenie als einer Gehirnerkrankung lösen.
Der Schutz des Selbstwertgefühls spielt generell eine erhebliche Rolle im “psychotischen” Geschehen. Ein Beleg dafür findet sich in den Büchern Richard Bentalls (Madness explained; Doctoring the mind), der die einschlägige Literatur zu diesem Thema ausgewertet hat. Unter diesen Bedingungen liegt es nahe, die Einstufung dieses Menschen als “schuldunfähig” nicht für gerechtfertigt zu betrachten. Dieser Mensch hätte also Anspruch darauf, seine Strafe im normalen Strafvollzug abzusitzen.
Eine Studie J. Jungingers zeigt, dass sich Menschen mit Kommando-Halluzinationen durch ein erhöhtes Risiko gefährlichen Verhaltens auszeichnen (Command Hallucinations and the Prediction of Dangerousness. Psychiatric Services, September 1995, 46:911-914). Dies verblüfft ganz und gar nicht, wenn man die oben beschriebene Funktion dieser Halluzinationen ins Auge fasst.
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