Die Validität psychiatrischer Diagnosen wird bezweifelt, weil sich keine organischen Ursachen der Syndrome, die in den Manualen DSM und ICD aufgelistet werden, nachweisen ließen. Kritiker dieser Auffassung wenden ein, dass psychische eben nicht mit körperlichen Krankheiten gleichgesetzt werden könnten. Man müsse einen “psychologischen” Krankheitsbegriff zugrunde legen.
Diese Forderung geht allerdings ins Leere, denn “Validität” hängt nicht in der Luft, sie ist vielmehr immer auf das Konstrukt zu beziehen, dass dem jeweiligen Diagnose-Schema entspricht. Sowohl der psychiatrische Teil der ICD als auch das DSM beruhen auf dem medizinischen Modell psychischer Erkrankungen. Nach diesem Modell sind psychische Krankheiten im Kern Erkrankungen des Gehirns. Zwar mögen soziale, wirtschaftliche und kulturelle Faktoren eine Rolle spielen; die wesentlichen Ursachen jedoch seien in Störungen des Gehirns, aber auch des Nervensystems insgesamt sowie evtl. auch in anderen Bereichen des Körpers zu suchen.
Wenn wir also die Psychiatrie ernst nehmen, dann müssen wir fordern, dass die Validität ihrer diagnostischen Verfahren durch Korrelationen zwischen den entsprechenden Befunden und organischen Prozessen abgesichert wird. Dies ist bekanntlich bisher nicht der Fall. Es wurden, trotz Jahrzehnte langer Bemühungen, keine ursächlichen Zusammenhänge zwischen diesen Krankheitsbildern und organischen Faktoren entdeckt.
Dies gilt natürlich nicht für neurologische und andere körperliche Krankheiten mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben, aber bei diesen Krankheiten handelt es sich ja auch nicht um psychische.
Da aber ein enger mathematischer Zusammenhang zwischen der Validität und der Treffsicherheit einer Diagnose besteht, gibt es bei gegebener Datenlage keinen vernünftigen Grund, die entsprechenden Trefferquoten oberhalb der Zufallstrefferwahrscheinlichkeit anzusiedeln. Dies mag manche verblüffen oder gar empören, man mag dies für übertrieben halten – aber wenn man die Psychiatrie und den Validitätsbegriff ernst nimmt, kann man recht eigentlich gar nicht zu einer anderen Einschätzung kommen.
Natürlich ist es denkbar, dass in Zukunft solche Korrelationen entdeckt werden. Dies würde dann, in Abhängigkeit von der Ausprägung dieser Korrelationen auch zu einer höheren Trefferquote führen. Im Augenblick gilt aber noch: Wenn man nicht weiß, woran man einen Kranken erkennen kann, dann ist es unmöglich, zwischen Kranken und Gesunden zu unterscheiden.
Hier wird häufig eingewendet, dass es doch Merkmale gäbe, anhand derer man den Symptomträger erkennen könne. Dies ist fast richtig. Selbstverständlich listen die Diagnose-Schemata die Charakteristika der jeweiligen “Krankheitsbilder” auf. Allein, dadurch, dass man eine Liste von Merkmalen zusammenstellt, beweist man ja noch lange nicht, dass es sich dabei um “Symptome”einer Krankheit handelt.
Daraufhin halten mir viele entgegen, dass sich doch die “Experten” hinsichtlich der Beurteilung eines Probanden in der Regel einig seien. Erstens jedoch ist die Übereinstimmung de facto nur mäßig und zweitens bedeutet auch diese Übereinstimmung nicht, dass deswegen die Diagnose einer “psychischen Krankheit” auch zuträfe. Es könnte sich durchaus um einer Übereinstimmung von unbegründeten Vorurteilen handeln; und darum handelt es sich auch, und zwar zwangsläufig, wenn das diagnostische Verfahren nicht valide ist. Ein nicht valides diagnostisches Verfahren diagnostiziert nämlich nicht das, was es zu diagnostizieren vorgibt.
Manche meinen, dass deswegen in den diagnostischen Schemata ja auch nicht von Krankheiten, sondern von Störungen gesprochen werde. Es handele sich bei den Syndromen nur um Muster von Merkmalen, die gehäuft zusammen aufträten. Es würde nicht der Anspruch erhoben, die Ursachen dieses gemeinsamen Auftretens zu kennen. Es handele sich um pragmatische Konstrukte, bei denen sich die Frage der Validität gar nicht stelle.
Das allerdings ist auch falsch. Erstens werden diese Störungen als krankheitswertig betrachtet, sonst würden die Krankenkassen gar nicht für die Behandlung aufkommen. Zweitens treten diese Muster gar nicht gehäuft zusammen auf; eine Vielzahl von “Patienten” fällt in einen Bereich zwischen den Diagnosen; in diesem Zwischenbereich müsste bei validen Diagnosen eine Zone der Seltenheit (“zone of rarity”) liegen. Und drittens stellt sich die Frage der Validität bei einem diagnostischen Verfahren immer. Schließlich geht es darum, behandlungsbedürftige von nicht behandlungsbedürftigen Personen zu unterscheiden. Medizinisch behandlungsbedürftig ist aber nur, wer eine Krankheit hat. Er ist nicht behandlungsbedürftig allein deswegen, weil er mittels eines diagnostischen Verfahrens zweifelhafter Validität für krank erklärt wurde.
Die kritische Replik lautet im Allgemeinen, dass es doch tatsächlich behandlungsbedürftige Menschen gebe, dies sei mit bloßem Auge erkennbar und man bedürfe, um dies festzustellen, keines validen diagnostischen Instruments. Dies mag sein. Natürlich gibt es Menschen, die rasen und toben, die zutiefst niedergeschlagen sind, die sich nicht konzentrieren können oder unter unerklärlichen Ängsten leiden. Und wenn diese Menschen Hilfe suchen, dann sollte man sie ihnen auch gewähren, sofern es nicht besser wäre, sie aufzufordern, sich selbst zu helfen, weil dies im Rahmen ihrer momentanen Möglichkeiten liege.
Die gegenwärtige Psychiatrie arbeitet jedoch auf der Grundlage eines medizinischen Modells psychischer Krankheiten. Zuständig wäre sie für diese Menschen also nur dann, wenn diese auch tatsächlich psychisch krank wären. Psychisch krank wären sie nur, wenn sie an einer im Kern organischen Krankheit litten, die diese Symptome hervorbringt. Um dies festzustellen, braucht man aber ein valides diagnostisches Verfahren.
Man kann die Sache also drehen und wenden, wie man will. Die Frage nach der Validität der diagnostischen Verfahren ist die Frage nach der Legitimität psychiatrischen Handelns. Ich verstehe die emotionalen Aufwallungen, die manche befallen, wenn man diese Frage stellt. Darf es denn wahr sein, dass die Aktivität einer Institution, die seit Jahrtausenden Menschen in Nöten hilft, nicht legitim ist?
Wer in die Geschichte zurückblickt, wird feststellen, dass solchen Menschen mit Lebensproblemen fast immer, von seltenen Ausnahmen abgesehen, am besten von Personen und Institutionen außerhalb des medizinischen Rahmens geholfen wurde und dass die Psychiatrie sie schlimmstenfalls verstümmelte oder gar, wie im Dritten Reich, umbrachte. Doch dies ist ein anderes Thema, dem ich mich in anderen Postings gewidmet habe und noch widmen werde.
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