Hin und wieder schreiben mir Psychiatrie-Erfahrene, ich sei genauso schlimm wie Psychiater, weil ich mich auf Empirie und Wissenschaft beriefe. Die Wissenschaft stecke ja doch nur mit der Psychiatrie unter einer Decke und es käme vielmehr darauf an, seinen Emotionen freien Lauf zu gewähren und die Sau gegen die Psychiatrie herauszulassen.
Wenn jemand all jene Vorurteile bestätigen möchte, die gegen die Irren so im Schwange sind, dann habe ich selbstverständlich nichts dagegen; schließlich leben wir in einem freien Land (jedenfalls laut Grundgesetz). Allerdings kann ich mich mit einer solchen Haltung nicht anfreunden. Vielmehr halte ich sie sogar für töricht. Denn im Licht der wissenschaftlichen Forschung betrachtet steht die Psychiatrie vor einem Scherbenhaufen. Dies erkennt man aber nur, wenn man sich mit den einschlägigen Studien auseinandersetzt.
Natürlich kann man Kritisches zur Wissenschaft anmerken, aber es gibt nichts Besseres. Das sollte man bei aller Kritik bedenken. Behaupten kann man viel, doch ohne Begründung ist eine Behauptung kein Argument, so plausibel sie auch erscheinen mag. Die beste Begründung ist immer noch die empirische, also jene, die eine Behauptung systematisch mit der Wirklichkeit vergleicht. Und das ist Wissenschaft, nichts anderes.
Dennoch will ich die Einwände gegen die Wissenschaft nicht gering schätzen; in ihnen steckt zweifelsfrei ein wahrer Kern:
- Natürlich gibt es korrupte Wissenschaftler, die Studien verfälschen. Aber es ist ein Prinzip der Wissenschaft, das Untersuchungen repliziert werden müssen, wenn sie als beweiskräftig gelten sollen. Und so besteht immerhin die Hoffnung, das Replikationsversuche scheitern, wenn sich ehrliche Forscher der Sache annehmen.
- Natürlich gibt es schlechte Studien, die den gängigen methodischen Anforderungen nicht genügen. Da die Studien jedoch in Forschungsberichten dokumentiert werden, kann man die Mängel herausarbeiten und kritisieren.
- Natürlich sagt die Statistik nichts über den Einzelfall. Ob beispielsweise ein Medikament, das bei 95 Prozent der Konsumenten Schaden anrichtet, auch Herrn Meyer schädigen wird, wissen wir nicht. Selbst wenn Herr Meyer es genommen hat und Schäden bei ihm auftreten, können wir nicht sicher sagen, ob die Schäden durch das Medikament oder durch andere Faktoren verursacht wurden. Zuverlässiges Wissen über den Einzelfall gibt es nicht. Wir können aber mit Recht fordern, dass ein Medikament oder ein Verfahren, das im statistischen Schnitt mehr schadet als nutzt (wie beispielsweise Neuroleptika) nicht mehr angewendet werden darf.
- Natürlich gibt es viele Dinge zwischen Himmel und Erde, die nicht wissenschaftlich erforscht werden können. Andererseits aber gibt es genug Dinge zwischen Himmel und Erde, die wissenschaftlicher Forschung zugänglich sind. Die feinstofflichen Wirkungen einer Psychotherapie beispielsweise entziehen sich der grobstofflichen Wissenschaft, klar. Die meisten “Patienten” wollen aber wissen, ob das störende Verhalten nach der Psychotherapie verschwunden sein wird oder nicht. Und das kann man feststellen und systematisch erforschen.
- Natürlich redet die Wissenschaft häufig über die Köpfe der Menschen hinweg, und diese streben nicht selten gar nicht nach Beweisen, sondern nach plausiblen Erklärungen. Das allerdings haben Psychiatrie und Pharmawirtschaft auch erkannt, und ihre Marketingmaschinerie versteht es ausgezeichnet, sich mit stromlinienförmigen Parolen und eingängigen “Erkenntnissen” ins Gemüt der Normalverbraucher einzuschleichen. Die können das besser als Psychiatriekritiker und vor allem: Die haben mehr Geld, um ihre Botschaft zu verbreiten.
- Natürlich hat die Wissenschaft häufig keine klaren, einfachen, eindeutigen Erkenntnisse oder gar Wahrheiten zu bieten, die es mit den grobschlächtigen Schlagzeilen der Propaganda aufnehmen könnten. Es ist aber auch nicht besonders klug, mit Steinschleudern gegen Panzer anzutreten. Auf dem Feld der Propaganda werden Psychiatrie und Pharmawirtschaft ihren Kritikern immer überlegen sein. Es ist rührend zu sehen, wie sich manche Psychiatriekritiker bemühen, es den Marketing-Experten gleichzutun. Es ist nur nicht damit zu rechnen, dass dies die eigentlichen Zielgruppen vor lauter Rührung auch anerkennen.
- Natürlich ist es schwer, wissenschaftlich zu argumentieren, wenn der heilige Zorn im Gedärm wütet. Wer aber seinen Impulsen nachgibt, entspricht genau dem Bild, das sich die Gesellschaft von den Irren macht. Das ist beileibe nicht klug.
- Natürlich ist es vielmehr klug, in wohlwollender Haltung zu kritisieren. Man sollte stets mit der Möglichkeit rechnen, dass der Kritisierte Recht haben könnte. Saubere, redliche, nicht korrupte empirische Wissenschaft ist der beste Schiedsrichter. Überlassen wir ihm das Urteil.
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