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Mollath und die Gutachter

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Unter den Pfeilen im Köcher des gewöhnlichen Mollath-Unterstützers befindet sich auch jener, der auf das Versäumnis vieler Gutachter zielt, mit Mollath persönlich zu sprechen. Dabei wird vorausgesetzt, dass ein Gutachten besser werde durch den direkten Kontakt zwischen dem Experten und dem Probanden. Mag diese Voraussetzung auch zutreffen, sie ist völlig irrelevant, weil selbst das beste klinische Urteil nicht besser, in der Regel sogar deutlich schlechter ist als ein Prognose-Verfahren, das den Experten absichtlich ausschaltet. Es handelt sich dabei um das statistische (auch versicherungsmathematisch genannte) Verfahren, dass sich ausschließlich auf empirisch erhärtete Zusammenhänge zwischen einer kleinen Zahl objektiv messbarer (bzw. feststellbarer) Merkmale und dem Zielverhalten stützt (1, 4).

Natürlich ist man durch die Verwendung statistischer Verfahren nicht vor Fehlern geschützt. Aber wenn man sich für die klinische Urteil entscheidet, dann steigt die Fehlerwahrscheinlichkeit erheblich. Und es ist keineswegs sicher, dass ein Kliniker zu besseren Prognosen in der Lage ist, wenn er persönlich mit dem Probanden spricht. Es ist sogar wahrscheinlich, dass er sich durch ein solches Gespräch sogar in verstärktem Maße der Gefahr von Denkfehlern aussetzt, die dem menschlichen Geist nun einmal eigentümlich sind (2, 3).

Obwohl vielfach replizierte Studien eine eindeutige Sprache sprächen, so schreiben Scott O. Lilienfeld und Kollegen, dass die statistischen den klinischen Vorhersagen bei einem weiten Spektrum von Aufgaben überlegen seien, würden die meisten Kliniker auf dem klinischen Urteil beharren, sogar in Fällen, in denen ihnen nachgewiesen wurde, dass sie damit falsch lagen. Es gäbe überdies Hinweise, dass Kliniker viel zu viel Vertrauen in ihre Urteile und Vorhersagen setzten und zur Beute der grundlegenden Fehler des Denkens (z. B. Bestätigungsfehler, illusionäre Korrelation) würden (5).

Dieses abwegige Vertrauen in das klinische Urteil teilen die “Experten” mit den meisten “Laien” und so nimmt es nicht wunder, dass im Falle Mollaths ein Pfeil im Köcher seiner Unterstützer in dem Vorwurf besteht, die meisten Gutachter hätten ja gar nicht mit ihm gesprochen. Es mag sein, dass Mollath auch auf Grundlage eines statistischen Verfahrens in den Maßregelvollzug eingewiesen worden wäre. Allerdings wurde die Fehlerwahrscheinlichkeit solcher Verfahren, wenn sie auch nur halbwegs Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben können, empirisch gründlich überprüft. Sie ist nicht gering, und man kann sich darauf berufen, wenn man eine Prognose in Frage stellen will.

Im Wiederaufnahmeverfahren sitzt ein Mann im Saal, Psychiater; sein Name ist Nedopil, Norbert Nedopil. Die Süddeutsche Zeitung schreibt über ihn:

“Norbert Nedopil kann einem sehr schnell unheimlich werden. Nicht weil er unsympathisch wäre, im Gegenteil. Der Psychiatrieprofessor aus München wirkt mit seinem weißen Haar, dem Bart und der ruhigen Stimme gutmütig, fast väterlich. Doch kaum hat er ein paar seiner harmlos klingenden Fragen gestellt, kommen sich die Befragten so vor, als könne er ihnen auf den Grund ihrer Seele sehen. So viel Durchblick würde Nedopil nie für sich in Anspruch nehmen, aber er versucht, der Wirklichkeit zumindest recht nahe zu kommen.”

Während die statistischen Verfahren harten empirischen Tests unterworfen werden können, erschöpft sich die Auseinandersetzung mit der Validität von Expertenurteilen hierzulande leider in lyrischen Ergüssen der oben zitierten Art. Fakt ist: Der Professor hat weißes Haar und einen Bart. Das eigentliche Bedeutsame aber, ob er nämlich der Wirklichkeit tatsächlich nahe kommt, das wissen wir nicht. Fakt ist, dass statistische Verfahren sich im Vergleich mit dem klinischen Urteil in mehr als sechzigjähriger, intensiver Forschung meist als besser erwiesen haben; aber fest steht auch, dass selbst die besten dieser Verfahren keine Grundlage für eine ethisch vertretbare Prognose bieten. Die Zahl der Menschen, die man einsperren muss, um auch nur eine Gewalttat zu verhindern (number needed to detain), ist einfach zu groß (6).

Es mag sein, dass es irgendwann einmal bessere Prognose-Instrumente gibt als heute; dass sie im Bereich des klinischen Urteils auf Basis von Erfahrung und Intuition gefunden werden, halte ich für ausgeschlossen. Das Wunschdenken, das an die präkognitiven Fähigkeiten des psychiatrischen oder psychologischen Experten glauben will, wird nicht so leicht auszurotten sein. Denn dieses Wunschdenken schenkt ein Gefühl der Sicherheit, das wissenschaftlich fundierte Verfahren nicht zu bieten vermögen, weil sie sich an der Realität orientieren, die uns letzte Sicherheit nun einmal häufig versagt.

Anmerkungen

(1) Gresch, H. U. (2014). Klinische und statistische Vorhersagen. Pflasterritzenflora

(2) Kahneman, D. (1911). Thinking – Fast and Slow. London: Macmillan

(3) Dawes, R. (1996). House of Cards. Psychology and Psychotherapy Built on Myth. New York: Free Press

(4) Gottfredson, S. D. & Moriarty, L. J. (2006). Clinical Versus Actuarial Judgments in Criminal Justice Decisions: Should One replace the Other? Federal Probation, Volume 70 Number 2

(5) Lilienfeld, S. O., Lynn, S. J., Lohr, J. M. (2003). Science and Pseudoscience in Clinical Psychology. New York & London: The Guilford Press, Seite 3

(6) Buchanan, A. (2008).  Risk of Violence by Psychiatric Patients: Beyond the “Actuarial Versus Clinical” Assessment Debate, Psychiatric Services 2008; doi: 10.1176/appi.ps.59.2.184)

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