Ein Mann sitzt im Gerichtssaal. Sein Name: Nedopil, Norbert Nedopil. Er beobachtet den Angeklagten, Gustl Mollath. Er sitzt einige Tage dort, macht sich ein Bild. Dann endlich trägt er sein Gutachten vor. Der Live-Blog der Mittelbayerischen schreibt ihm folgende Aussagen zu:
“Nedopil führt aus, dass in keinem der vorherigen Gutachten dargelegt wurde, wie die Reifenstechereien mit einem Wahn begründet werden könnten. Doch von alle Gutachtern wurden auffällige Persönlichkeitsmerkmale (Rigidität, Selbstüberschätzung, Übernachhaltigkeit, egozentrische Sichtweise) diagnostiziert, die er hier auch gesehen habe. Eine Störung zu diagnostizieren sei aber nicht ohne weitergehende Untersuchung möglich. Eine Persönlichkeitsstörung sei aus seiner Sicht zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu begründen, aber auch nicht auszuschließen.”
Nedopil hat Persönlichkeitsmerkmale gesehen. Bei Mollath. Leider verrät er dem Gericht nicht, wie das möglich ist. Man kann menschliches Verhalten sehen, fraglos. Aber Persönlichkeitsmerkmale? Menschliches Verhalten beruht auf einem Wechselspiel von Faktoren, die in der Umwelt liegen (Reizen) und von Einflussgrößen, die in der Person angesiedelt sind (Dispositionen). Manche meinen, dass zudem der Zufall eine erhebliche Rolle spiele und wieder andere sind sogar so verwegen, einen freien Willen ins Spiel zu bringen.
Aus dem folgt natürlich, dass auch das Verhalten Gustl Mollaths ein Produkt der genannten Faktoren ist, so dass niemand “sehen” kann, welche Rolle Persönlichkeitsmerkmale bei seinem Verhalten vor Gericht spielen. Aus meiner Sicht handelt es sich hier um eine doppelte Unterstellung:
- Nedopil interpretiert Verhaltensweisen Mollaths als “rigide”, “selbstüberschätzend”, “übernachhaltig”, und “egozentrisch”. Rigidität, Selbstüberschätzung, Übernachhaltigkeit und die “egonzentrische Sichtweise” kann er ja nicht beobachtet haben. Vielmehr hat er von beobachtbarem Verhalten auf kognitive Prozesse geschlossen. Dieser Schluss ist aber nicht zwingend, da ein und dasselbe Verhalten von einer Vielzahl unterschiedlicher interner Prozesse abhängen kann.
- Nedopil deutet die beobachteten Verhaltensweisen als intern verursacht, also als Persönlichkeitsmerkmale, obwohl natürlich nicht auszuschließen ist, dass sie vollständig oder teilweise unter der Kontrolle externer Faktoren stehen, nämlich durch das Verhalten anderer Menschen vor Gericht und anderswo konditioniert wurden.
Andere Gutachter, sagt Nedopil, hätten diese auffälligen Persönlichkeitsmerkmale ebenfalls diagnostiziert. Falls dies zutreffen sollte, so könnte man dieses Faktum allenfalls für einen Hinweis auf die Reliabilität dieser Diagnose halten, nicht aber dürfte man daraus schließen, dass diese Persönlichkeitseinstufung auch valide sei. Valide wäre sie nämlich nur, wenn die diagnostische Aussage überprüfbar mit der Realität Gustl Mollaths zusammenhinge. Ein solche Überprüfung wäre zwar nur in Grenzen möglich, aber immerhin denkbar: nämlich durch systematische Beobachtung seines Verhaltens in unterschiedlichen Situationen und mit unterschiedlichen Interaktionspartnern.
Nedopil hatte zu Beginn seines Vortrags eingeräumt: “Wenn man das, was ich über Herrn Mollath weiß, zusammenfasst, ist es herzlich wenig.”
Wie es ihm auf dieser Grundlage möglich sein soll, Persönlichkeitsmerkmale zu diagnostizieren? Wenden wir uns den genannten Merkmalen im Einzelnen zu:
- Rigidität. Damit ist aus psychologischer Sicht eine Starrheit der Einstellung gemeint und eine geringe Neigung, sein Verhalten situativen Bedingungen anzupassen. Jedoch ist das Beibehalten von Einstellungen und die Verweigerung zur Anpassung an Situationen nicht stets einer Rigidität geschuldet. Es ist vorstellbar, dass ein Mensch für derartige Verhaltensweisen belohnt und für davon abweichende bestraft wurde, dass er sie deswegen beibehält und dass er sie aufgeben würde, wenn sich die Reaktionen auf sein Verhalten entsprechend ändern würden.
- Selbstüberschätzung. Psychologisch betrachtet ist die die Tendenz, eigene Leistungen oder das eigene Wissen unangemessen hoch einzuschätzen. Auch wenn man nur in eher seltenen Fällen die Unangemessenheit der Einschätzung objektiv nachweisen kann, will ich aus pragmatischer Sicht gern einräumen, dass es Menschen gibt, die eine übertriebene Einschätzung ihrer Leistungen und ihres Wissens bekunden. Doch es ist keineswegs gewiss, dass sie dies aufgrund einer inneren Neigung, eines Persönlichkeitsmerkmals tun. Auch wenn wir gern die Augen davor verschließen, so ist es leider nicht zu bestreiten, dass Leute, die sehr, die allzu sehr von sich überzeugt sind, mitunter damit durchaus Erfolg haben, ja, sogar bewundert werden. Es könnte also auch hier gelten, was bereits zur Rigidität gesagt wurde: Konditionierung.
- Übernachhaltigkeit. Dieses “Persönlichkeitsmerkmal” sagt mir nichts. Gibt es das überhaupt? Hat der Berichterstatter hier einen Terminus nicht richtig verstanden? In den Lehrbüchern der Persönlichkeitspsychologie, die sich in den Regalen neben meinem Schreibtisch finden, wird dieses “Persönlichkeitsmerkmal” jedenfalls nicht aufgeführt. Vermutlich gilt für dies, sofern es denn tatsächlich existiert, das bereits zur Rigidität und Selbstüberschätzung Gesagte.
- Egozentrische Sichtweise. Der Egozentriker neigt dazu, sich selbst in den Mittelpunkt zu rücken. Ihm wird eine übertriebene Selbstbezogenheit unterstellt. Vielleicht hat Norbert Nedopil dies ja nicht bemerkt, aber der Mann, den er zu beobachten die Aufgabe hatte, ist der Angeklagte. Er steht also im Mittelpunkt, ob er will oder nicht. Da könnte doch ein gewisses Maß an Selbstbezogenheit auch situativ bedingt sein, will ich meinen. Abgesehen davon, dass auch hier die grundsätzlichen Gesichtspunkte gelten, die bereits zur Rigidität, zur Selbstüberschätzung und (vorsorglich) auch zur Übernachhaltigkeit gesagt wurden, ist ein übertriebener Selbstbezug für einen Angeklagten, der sich verteidigen will, nur natürlich und sicher auch schwer zu überwinden.
Nedopil sagt, dass eine Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren ohne weitere Untersuchung nicht möglich sei. Es fragt sich, warum dies nicht möglich sein soll, wenn der Psychiater doch nach eigenem Bekunden mit der Gabe ausgestattet ist, Persönlichkeitsmerkmale zu sehen. Warum kann er dann nicht sehen, ob die Persönlichkeit gestört ist?
Es gibt es eine Vielzahl von Persönlichkeitstheorien und dementsprechend auch zahllose Definitionen der Persönlichkeit. Eine Fülle von Persönlichkeitsmerkmalen zur Beschreibung der Persönlichkeit wurde in Lehrbüchern und Fachartikeln aufgelistet. Keine dieser Theorien, Definitionen und Auflistungen kann als verbindlich betrachtet werden; keine hat sich im Licht der Empirie als eindeutig überlegen erwiesen. Unter diesen Bedingungen will es mir doch als sehr gewagt erscheinen, eine Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren. Da fragt man sich nämlich gleich: Gemäß welcher Definition von Persönlichkeit ist denn die Persönlichkeit des Diagnostizierten gestört?
Laut Live-Blog der Mittelbayerischen sagte Nedopil resümierend:
“Am Ende aber bleibe die Unsicherheit.”
Ja, sicher. Nur, um welche Art von Unsicherheit handelt es sich hier? Ist es die Unsicherheit, die all unsere Einschätzungen menschlichen Verhaltens, menschlicher Lebensumstände und menschlicher Persönlichkeiten zugrunde liegt. Ober ist es eine spezifische Unsicherheit, die sich aus einer kritischen Würdigung der Informationen ergibt, die Nedopil über Mollath vorliegen – über einen Mann, von dem er nach eigenem Bekunden herzlich wenig weiß?
Unsicherheit hat viele Gesichter. Ihr Blick ist nicht stets unschlüssig, er kann distanzierend, er kann vernichtend sein. Auch ich weiß herzlich wenig über Gustl Mollath. Bei mir allerdings stellt sich die Unsicherheit nicht erst am Ende ein. Sie ist ein dauerhaftes Merkmal der Einschätzung eines Menschen, von dem man herzlich wenig weiß. Sie ist nicht das achselzuckende Resümee einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem herzlich Wenigen.
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