Im Wiederaufnahmeverfahren gegen Gustl Mollath äußerte sich der Gerichtspsychiater Norbert Nedopil zur Verdachtsdiagnose. Es sagte laut einer Website des Psychologen Rudolf Sponsel:
“Eine Verdachtsdiagnose bleibt solange aufrechterhalten, bis belegt werden kann, dass der Verdacht falsch ist.”
Sponsel schreibt dazu: “Ein solches Vorgehen ist in der Psychodiagnostik der kassenärztlichen Vereinigung unzulässig. Dort wird der Zusatz ‘V’ für Verdacht nur das erste Quartal seiner Vergabe akzeptiert. Die Diagnose kann nur bleiben, wenn sie den Zusatz (G = gesichert) erhält, ansonsten muss sie verschwinden.”
Auf welche Weise aber gelangen psychiatrische Diagnostiker von einer Verdachts- zu einer gesicherten Diagnose? Werfen wir zunächst einen Blick darauf, was man in der Medizin unter einer Verdachtsdiagnose versteht:
Im DocCheck-Flexikon heißt es:
“Die Verdachtsdiagnose ist eine ärztliche Arbeitshypothese, die dazu dient, die weitere Richtung der Diagnostik festzulegen. Sie ist die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung wahrscheinlichste Diagnose.”
Und weiter:
“Verdachtsdiagnosen sind ein alltägliches ärztliches Handlungsinstrument, da bei vielen Bagatellerkrankungen die Diagnose oft allein aus dem klinischen Bild, ohne Zuhilfenahme objektiver Laborparameter gestellt wird.”
Der übliche Weg in der Medizin von der Verdachtsdiagnose zur gesicherten Diagnose besteht also darin, die ärztliche Arbeitshypothese unter Zuhilfenahme objektiver Laborparameter zu erhärten.
Der Leiter des weltweit größten psychiatrischen Forschungsinstituts, des National Institute of Mental Health, Thomas Insel schreibt in seinem Director’s Blog zutreffend über das DSM, das diagnostische Handbuch der amerikanischen Psychiatrie:
“Anders als bei unseren Definitionen der Ischämischen Herzkrankheit, des Lymphoms oder von AIDS, beruhen die DSM-Diagnosen auf dem Konsens über Muster klinischer Symptome, nicht auf irgendwelchen objektiven Labor-Daten. In der übrigen Medizin entspräche dies dem Kreieren diagnostischer Systeme auf Basis der Natur von Brustschmerzen oder der Qualität des Fiebers.”
Daraus folgt zwingend, dass die psychiatrische Diagnostik nicht auf dem sonst in der Medizin üblichen Wege von der Verdachtsdiagnose zur gesicherten Diagnose voranschreiten kann. Denn Laborparameter oder sonstige Befunde, die auf objektiven Verfahren beruhen, stehen ihr nicht zur Verfügung. Die psychiatrische Diagnostik bezieht sich auf eine Konfiguration von Phänomenen, die sie als “Muster klinischer Symptome” deutet und von denen sie mutmaßt, dass sie Ausdruck einer “psychischen Krankheit” seien.
In der Medizin beschränkt man sich z. B. auf Verdachtsdiagnosen, wenn es sich um eine Bagatellerkrankung handelt, wenn bei einem Notfall die Zeit drängt, wenn eine regelgerechte Diagnostik unnötig invasiv und damit belastend wäre oder wenn das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zuungunsten einer diagnostischen Sicherung mit objektiven Methoden ausfällt. Dies ist in der Psychiatrie aber nicht der Fall: Hier sind alle Diagnosen Verdachtsdiagnosen, weil der Psychiatrie die Möglichkeit fehlt, ihre Diagnosen im sonst in der Medizin üblichen Sinne zu erhärten.
“Eine Verdachtsdiagnose bleibt solange aufrechterhalten, bis belegt werden kann, dass der Verdacht falsch ist.”
In der Medizin kann sich eine Verdachtsdiagnose als falsch erweisen, wenn sich die Anzeichen, die üblicherweise mit einer Krankheit verbunden und objektiv messbar sind, als nicht gegeben herausstellen.
Anzeichen (oder Zeichen) unterscheiden sich von Symptomen durch mehrere bedeutsame Merkmale:
- Sie können mit einem hohen Grad von Reliabilität beobachtet werden.
- Sie können (evtl. unter Zuhilfenahme von Messinstrumenten) direkt beobachtet und müssen nicht aus den Äußerungen des Patienten abgeleitet werden.
- Ihre Zahl ist kleiner als die der Symptome, die ihnen zugeordnet sind.
- Es gibt eine zumindest plausible, oft aber empirisch erhärtete Beziehung zwischen den Anzeichen und den Symptomen, von denen man annimmt, dass sie zu einem bedeutungsvollen Krankheitsbild zusammengeschlossen sind (1).
In der Psychiatrie beruht die Diagnostik jedoch weitgehend auf Symptomen, auf subjektiven Beschwerden, die vom mutmaßlichen Patienten berichtet oder die ihm von Dritten unterstellt werden. Direkt beobachtbare Phänomene, die unabhängig von Äußerungen des mutmaßlichen Patienten oder Dritter gedeutet werden können, gibt es allenfalls im randständigen Bereich. So mag ein Mensch unruhig wirken, aber um diese Unruhe spekulativ als Ausdruck einer psychischen Krankheit interpretieren zu können, muss man vom Betroffenen geäußerte oder von Dritten gemutmaßte Gründe für diese Unruhe berücksichtigen.
“Eine Verdachtsdiagnose bleibt solange aufrechterhalten, bis belegt werden kann, dass der Verdacht falsch ist.”
Auf welche Weise, wenn nicht auf dem in der Medizin üblichen Wege, kann belegt werden, dass eine psychiatrische Verdachtsdiagnose falsch ist? Ein Beispiel: Verdacht auf Depression. Ein Patient hat Mühe, seine familiären und beruflichen Aufgaben zu bewältigen. Charakteristische “Symptome” sind nicht oder nur grenzwertig ausgeprägt. Aber das Gesamtbild erweckt den Verdacht, dass es sich um eine Depression handeln könne, die der mutmaßliche Patient aber bestreitet. Vielmehr leide er an heftigen Schmerzen und sei durch diese beeinträchtigt. Körperliche Ursachen für diese Schmerzen lassen sich aber nicht erkennen. Handelt es sich um eine “larvierte Depression”? Die Hypothese lautet: Die Depression wird körperlich ausgelebt. Wie könnte man diesen Verdacht zerstreuen?
“Eine Verdachtsdiagnose bleibt solange aufrechterhalten, bis belegt werden kann, dass der Verdacht falsch ist.”
Laut Live-Blog in der Mittelbayerischen fährt Norbert Nedopil fort:
“Das sei auch im forensischen Bereich so: Ein Patient kann erst entlassen werden, wenn keine Zweifel geblieben sind. ‘Zweifel sind vom forensischen Psychiater offen zu legen.’”
Ein Verdacht kann also nur durch Zweifel des Diagnostikers ausgeräumt werden, ansonsten muss der “Patient” ggf. hinter psychiatrischen Gittern bleiben. In seinem Wörterbuch der philosophischen Begriffe definiert Rudolf Eisler den Zweifel wie folgt:
“Zweifel (dubium, dubitatio) ist der (gefühlsmäßig charakterisierte) Zustand der Unentschiedenheit, des Schwankens zwischen mehreren Denkmotiven, deren keines das volle Übergewicht hat, so dass das Denken nicht durch objektive Gründe bestimmt werden kann.”
Folgt man dieser Definition und bedenkt das bisher Ausgeführte, so müsste der psychiatrische Diagnostiker letztlich jede seiner Verdachtsdiagnosen verwerfen, weil alles dafür spricht, an ihnen zu zweifeln. Denn objektive Gründe für seine Diagnose lassen sich ja nicht erkennen.
Wohlbekannt ist selbstverständlich auch mir das Phänomen des übertriebenen Zweifels. Es wird mir gelegentlich entgegengehalten, einer solchen Tendenz zu unterliegen, wenn ich beispielsweise angesichts eines Rasenden und Tobenden nicht glauben mag, dass es sich bei einem solchen Individuum um einen Kranken handeln könne. Daran, dass er rast und tobt, allerdings zweifele ich nicht, schließlich meine ich schon, meinen Augen und Ohren trauen zu können. Allein, nirgendwo kann ich die Anzeichen einer Krankheit entdecken. Das macht den Unterschied.
Anmerkung
(1) Boyle, M. (2002). Schizophrenia. A Scientific Delusion? 2nd edition. London & New York: Routledge
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