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Zahlenspiel: Genetik, Psychiatrie

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Setzen wir voraus: Es gibt eine Krankheit K, die mit dem Syndrom S verbunden ist. Allerdings haben nur 70 Prozent mit S auch K. Wir verfügen über ein diagnostisches Verfahren V, das S perfekt reliabel zu diagnostizieren vermag. 100 Prozent derjenigen, bei denen V S feststellt, haben S auch.

Die Aufgabe: Wir wollen erkunden, ob eine Genvariante G für K verantwortlich ist. Wir bilden also aus den Insassen von Krankenhäusern, in denen K-Erkrankte behandelt werden, eine Stichprobe und stellen ihr eine Kontrollstichprobe gegenüber. Zur Sicherheit testen wir beide Gruppen mit V und stellen fest: Alle Versuchspersonen der Krankengruppe werden als S-Träger und alle Teilnehmer der Kontrollgruppe werden nicht als S-Träger identifiziert.

Das Vorgehen: Mit der fortschrittlichsten aller Methoden (M) untersuchen wir das Genom der Kranken- und der Kontrollgruppe hinsichtlich des Vorliegens von G. M kann mit annähernd 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen von G feststellen.

Das Ergebnis: Mit M finden wir bei 30 Prozent der Krankengruppe G, aber nur bei einem Prozent der Kontrollgruppe.

Die Schlussfolgerung: G spielt eine wesentliche Rolle im Ursachenbündel von K.

Ist diese Schlussfolgerung gerechtfertigt? V ist ein perfekt reliables Verfahren und auch M leistet, was es zu leisten verspricht. In der Krankengruppe hatten also alle S und in der Kontrollgruppe gab es niemanden mit diesem Syndrom. Beide Gruppen unterscheiden sich also systematisch hinsichtlich S voneinander. Auf den ersten Blick könnte man also vermuten, dass G, zuverlässig identifiziert mit M, tatsächlich zum Ursachenbündel von K gehört.

Das Problem: S kann auch ohne K auftreten, und zwar in 30 Prozent aller Fälle. Im Extremfall könnte G ausschließlich für einen anderen Zustand, nennen wir ihn nicht-K, verantwortlich sein, der ebenfalls S hervorbringt. Ist nicht-K dann eine andere Krankheit?

S ist als Ensemble von Symptomen definiert, die für K charakteristisch sind. Dieses Ensemble ist für nicht-K allerdings nicht definiert, also in Bezug auf nicht-K kein Syndrom, sondern, neutral, ein Phänomen. K wurde in unserem Beispiel als existierend vorausgesetzt. Dies könnte beispielsweise berechtigt sein, wenn sich K in messbaren körperlichen Veränderungen bekannter oder unbekannter Ursache manifestiert. Doch im vorliegenden Fall sind keine körperlichen Veränderungen messbar und wir sind allein auf das, voraussetzungsgemäß, nur eingeschränkt valide V angewiesen. Wir können also nicht wissen, welches Mitglied der Krankengruppe sich zu Recht in ihr befindet oder aber, obwohl S zeigend, nur scheinbar an K leidet. Kurz: Wir können nicht wissen, ob G zu den Faktoren zählt, die K hervorbringen – oder einen anderen Zustand, der ebenfalls mit S verbunden ist. Wir können auch nicht wissen, ob es sich bei diesem anderen Zustand (oder einer größeren Zahl von Zuständen) um eine Krankheit bzw. um verschiedene Krankheiten handelt oder aber um eine Spielart der Normalität.

Dieses Problem ist keineswegs nur ein Zahlenspiel. Es kennzeichnet die genetische Forschung in der Psychiatrie – und zwar unabhängig davon, ob psychische Krankheiten tatsächlich existieren oder nur willkürliche Konstrukte psychiatrischer Gremien sind. Selbst wenn psychiatrische Diagnose-Verfahren weitgehend reliabel wären, selbst wenn also zwei Psychiater hinsichtlich ein- und derselben Person in aller Regel zur gleichen Beurteilung gelangten, so wäre die Validität dieser Verfahren dennoch unbekannt.

Die Situation ist also schlimmer als im obigen Zahlenspiel. Dort weiß man immerhin laut Voraussetzung, dass 70 Prozent der Menschen mit S tatsächlich auch K haben. Wie viele Menschen mit dem Syndrom der Schizophrenie, beispielsweise, auch tatsächlich an einer Schizophrenie im medizinischen Sinne leiden, weiß niemand. Denn die entsprechenden diagnostischen Verfahren konnten bisher noch nicht durch Korrelationen mit objektiv messbaren Indikatoren eines einschlägigen pathologischen Prozesses validiert werden (3). Dies gilt im Übrigen für alle der so genannten psychischen Krankheiten (2).

Ein diagnostisches Verfahren mit niedriger Validität führt zu einer großen Zahl falsch negativer und falsch positiver Einstufungen. Ein diagnostisches Verfahren mit unbekannter Validität führt zu einer unbekannten Zahl falsch positiver und falsch negativer Einstufungen. Selbst also wenn die Methoden der psychiatrisch genetischen Forschung so perfekt wären wie M in unserem Beispiel, könnten sie die Frage nach den genetischen Ursachen psychiatrischer Erkrankungen aufgrund der mangelnden Validität der psychiatrischen Diagnostik nicht klären.

Aus Sicht der Pharmaforschung bringt Christian H. Fibiger, ein Manager und Neurowissenschaftler, das Problem auf den Punkt:

“Today, few would argue that syndromes such as schizophrenia and depression are single, homogeneous diseases. And yet when it comes to clinical research, including clinical trials, both are still almost always treated as such. For example, studies continue to be published on the genetics of both of these syndromes despite the fact that there never will be a robust genetics of either condition as the nature and severity of specific symptoms are too heterogeneous across individuals to have any consistent genetic correlates. Similarly, while DSM conceptualizations of psychiatric disease may have utility in current clinical practice, when it comes to research, they too are a barrier to progress (1).”

Die gängigen diagnostischen Instrumente der Psychiatrie, die auch in der Forschung eingesetzt werden, erweisen sich dort als eine Barriere des Fortschritts. Doch nehmen wir einmal an, es wäre möglich, diese Barriere zu überwinden. Es gelingt also, ein verbessertes Syndrom vS zu bestimmen, das folgende Eigenschaften besitzt: Immer wenn vS vorliegt, leidet ein Mensch an K und immer wenn ein Mensch an K leidet, dann liegt vS vor. Es existiert überdies ein verbessertes diagnostisches Verfahren vV, das vS reliabel zu diagnostizieren vermag. Also: Immer wenn vV vS feststellt, dann hat der Patient auch vS und er leidet entsprechend auch an K. In der Krankengruppe haben also alle K und in der Kontrollgruppe haben alle K nicht. Wieder zeigt sich, dass ein großer Teil der Krankengruppe G hat und nur ein kleiner Teil der Kontrollgruppe diese Variante aufweist. Bedeutet dies nun endlich, dass G für K mitverantwortlich ist?

Klären wir diese Frage durch ein Gedankenspiel. Wir fliegen mit unserer Zeitmaschine ins Postkutschenzeitalter und nehmen den klügsten Kopf, der sich finden lässt, mit in die Jetztzeit. Dieser Mensch hat noch nie Autos gesehen und weiß natürlich auch nicht, wie sie funktionieren. Wir lassen ihn mit dieser Frage allein. Er schaut sich den Straßenverkehr an und vergleicht ihn mit dem seiner, der Postkutschenzeit. Heute hupen die Autos, wohingegen die Pferdewagen früher nicht hupten. Der Verkehr der Jetztzeit hat also das unterscheidende Merkmal H. Nun stellt unser Mann weiterhin fest, dass H fast nur dann auftritt, wenn die Autos fahren oder kurzzeitig anhalten, nicht aber, wenn sie länger stehen. Kutschen werden von Pferden gezogen, Autos nicht. Unser Mann schließt messerscharf, dass H ein Indikator für einen Prozess ist, der Wagen auch ohne Pferde antreibt.

Und so ist das auch mit G. G kann ein Korrelat sein, dass zwar bei allen K-Kranken und bei keinen nicht-K-Menschen auftritt, das aber dennoch in keinem ursächlichen Zusammenhang zu K steht. Es trifft zwar zu, dass Autos gelegentlich hupen, besonders, wenn sie fahren, aber die Mechanismen, die Hupen und Fahren hervorbringen, stehen nicht in einem Kausalverhältnis zueinander. Unser Mann aus dem Postkutschenzeitalter müsste also viel mehr über Autos und das Verkehrssystem wissen, um den Zusammenhang zwischen Hupen, Fahren und Fahrzeugen zu verstehen. Und so müssten wir auch viel mehr über Genetik wissen als bisher, um uns erklären zu können, wie G und K zusammenhängen, sofern dies überhaupt der Fall ist.

Selbstverständlich ist es legitim, die Rolle der Genetik im menschlichen Verhalten und Erleben wissenschaftlich zu beleuchten. Dies gilt natürlich auch für die mutmaßlichen psychischen Krankheiten. Es gibt keinen vernünftigen Grund, Forschungszweige zu diskriminieren, nur weil sie Ergebnisse zeitigen können, die nicht ins eigene Konzept passen. Deswegen ist es auch nicht zu rechtfertigen, Forscher der psychiatrischen Genetik pauschal als “Erbhygieniker” zu diffamieren und in die Nähe des Nationalsozialismus zu rücken. Allerdings muss sich der Genetiker davor hüten, voreilige Schlussfolgerungen aus unzulänglichen Daten zu ziehen. Denn sonst setzt er sich dem Verdacht aus, er versuche, ideologische Positionen durch pseudowissenschaftliche “Erkenntnisse” zu untermauern. Dann allerdings, wenn erst einmal ein Forscher der politisch-ideologischen Manipulation überführt wurde, muss er sich, aus naheliegenden Gründen, Vergleiche mit den Nazis gefallen lassen. Kritikwürdig ist also nicht das Erheben von Daten an sich; es kommt darauf an, welche Schlüsse daraus gezogen werden.

Anmerkung

(1) Fibiger, C. H. (2012). Psychiatry, The Pharmaceutical Industry, and The Road to Better Therapeutics. Schizophrenia Bulletin, vol. 38 no. 4 pp. 649–650

(2) Gresch, H. U. (2014). Was taugen psychiatrische Diagnosen. Pflasterritzenflora

(3) Boyle, M. (2002). Schizophrenia. A Scientific Delusion? 2nd Edition. London & New York: Routledge

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