Die Zahl der Studien, die sich mit den Ursachen “psychischer Krankheiten” im Einzelnen oder insgesamt auseinandersetzen, ist unüberschaubar geworden. Zusammenfassende Bewertungen des Forschungsstandes klingen etwa so…
“With new insights come new challenges. It is becoming increasingly clear that the genetic underpinnings of mental disorders are highly complex, likely involving the interaction between many risk genes. An enormous variety of experiences and environmental factors may influence development, and the ability of these factors to confer risk may change across the lifespan. It is challenging to demonstrate how interactions between genes, environment, experiences, and development contribute to the formation and function of neural circuits. We still know little about how information is stored in neural circuits. In addition, the very definition of mental disorders as complex clusters of behaviors makes it difficult to deconstruct behavioral components and link them to underlying neural circuitry (National Institute of Mental Health).”
(“Mit neuen Einsichten kommen neue Herausforderungen. Es wird zunehmend klar, dass die genetischen Grundlagen von psychischen Krankheiten hoch komplex sind und wahrscheinlich die Interaktion von vielen Risikogenen einschließen. Eine gewaltige Vielfalt von Erfahrungen und Umweltfaktoren könnte die Entwicklung beeinflussen, und die Fähigkeit dieser Faktoren, Risiko zu vermitteln, könnte sich während der Lebensspanne ändern. Es ist eine Herausforderung zu demonstrieren, wie die Interaktionen zwischen Genen, Umwelt, Erfahrungen und Entwicklung zur Bildung und Funktion neuronaler Schaltkreise beitragen. Wir wissen immer noch wenig darüber, wie Informationen in neuronalen Schaltkreisen gespeichert werden. Zusätzlich, die bloße Definition von psychischen Krankheiten als komplexe Muster von Verhaltensweisen macht es schwer, verhaltensmäßige Komponenten zu dekonstruieren und sie mit neuronalen Schaltkreisen zu verbinden.”)
… oder so…
“There are no known biological causes for any of the psychiatric disorders apart from dementia and some rare chromosomal disorders. Consequently, there are no biological tests such as blood tests or brain scans that can be used to provide independent objective data in support of any psychiatric diagnosis (Council for Evidence-Based Psychiatry).”
(“Es gibt keine bekannten biologischen Ursachen irgendwelcher psychischen Krankheiten, jenseits der Demenz oder einiger seltener Chromosomen-Störungen. Entsprechend gibt es keine biologischen Tests wie Bluttests oder Brain Scans, die genutzt werden könnten, um unabhängige objektive Daten zur Stützung irgendeiner psychiatrischen Diagnose bereitzustellen.”)
Während weitgehende Einigkeit darüber besteht, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Ursachen “psychischer Krankheiten” definitiv noch nicht geklärt sind, wird die Entwicklung des Feldes deutlich unterschiedlich beurteilt. Die einen versprechen sich von einer Intensivierung der biologischen Forschung und von neuen Forschungsmethoden den baldigen Durchbruch (1), wohingegen die anderen eher dafür plädieren, das Verhalten und Erleben der Betroffenen in ihrem sozialen Kontext zu verstehen (2).
Doch unabhängig davon, ob man die Forschung verstärkt naturwissenschaftlich oder sozialwissenschaftlich ausrichten möchte, muss man zunächst präzisieren, was eigentlich der elementare Gegenstand der Forschung sein soll. Dabei kann es sich im vorliegenden Fall nur um Menschen handeln, um Individuen, ganz gleich, ob man sie nun als “Probanden”, “Versuchspersonen”, “Patienten” oder wie auch immer bezeichnet.
Wenn wir also nach den Ursachen “psychischer Krankheiten” suchen oder nach den besten Möglichkeiten zu ihrer Behandlung, müssen wir zunächst einmal “psychisch Kranke” identifizieren, die wir dann ggf. zu Stichproben zusammenfassen können. Allein, dies ist schwieriger, als man bei oberflächlicher Betrachtung meinen möchte. In seinem inzwischen legendären Blog-Beitrag “Transforming Diagnosis” schreibt der Direktor des National Institute of Mental Health, Thomas Insel:
“Unlike our definitions of ischemic heart disease, lymphoma, or AIDS, the DSM diagnoses are based on a consensus about clusters of clinical symptoms, not any objective laboratory measure.”
(“Anders als unsere Definitionen der ischämischen Herzkrankheit, des Lymphoms oder von AIDS, fußen die DSM-Diagnosen auf einem Konsens über Muster von klinischen Symptomen, nicht auf irgendeinem objektiven Labor-Wert.”)
Und fügt hinzu:
“It became immediately clear that we cannot design a system based on biomarkers or cognitive performance because we lack the data.”
(Es wird unmittelbar klar, dass wir kein auf Biomarkern basiertes System entwickeln können, weil uns die Daten dazu fehlen.)
Klartext:
- Erstens gibt es keine objektiven Verfahren, um “psychisch kranke” von “psychisch gesunden” Menschen zu unterscheiden und es ist
- zweitens nicht möglich, ein diagnostisches System zu kreieren, das auf Biomarkern oder kognitiven Prozessen beruht, weil dazu die Daten fehlen.
Und hier genau liegt der Hase im Pfeffer. Die Basis jeder Forschung zu den Ursachen “psychischer Krankheiten” sind Individuen, die eindeutig “psychisch krank” oder eindeutig “psychisch gesund” sind. Man kann keine Stichproben für hypothesen-prüfende empirische Studien oder gar Entscheidungsexperimente zusammenstellen, wenn die Zuordnung der Individuen auf Grundlage subjektiver Eindrücke erfolgt.
Man kann sich das so klarmachen: Wir wollen experimentell klären, ob ein neues Plastikobjekt härter ist als gleich geformte Plastikobjekte älteren Typs. Und so bilden wir zwei Gruppen, die wir einem Härtetest aussetzen. Die eine Gruppe soll aus den neuen, die andere aus den alten Plastikobjekten bestehen. Beide Arten von Objekten liegen willkürlich gemischt auf einem Haufen. Die Auswahl der Gegenstände und die Verteilung auf die Gruppen nimmt ein Schwachsichtiger vor, der zudem an einer Empfindungsstörung in seinen Händen leidet und ansonsten keine Hilfsmittel zur Unterscheidung der Objekte zur Verfügung hat.
Es müsste sich eigentlich von selbst verstehen, dass man unter derartigen Bedingungen unmöglich die “Ursachen von psychischen Krankheiten” erforschen kann. Die gesamte einschlägige psychiatrische Forschung setzt eine hinlänglich reliable und valide Diagnostik voraus; und deswegen beruht sie auf einer Fiktion. Das weltweit größte und führende psychiatrische Forschungszentrum, das National Institute of Mental Health, vermutet, dass “psychische Krankheiten” auf gestörten Schaltkreisen im Gehirn beruhen. Doch wie soll man denn solche gestörten Schaltkreise den “psychisch Kranken” zuordnen, wenn man “psychische Krankheiten” nicht reliabel und valide diagnostizieren kann?
Es ist im Übrigen auch nicht so einfach zu bestimmen, was überhaupt ein Schaltkreis ist:
“In truth, we still do not know how to define a circuit. Where does a circuit begin or end? How do the patterns of “activity” on imaging scans actually translate to what is happening in the brain? What is the direction of information flow? In fact, the metaphor of a circuit in the sense of flow of electricity may be woefully inadequate for describing how mental activity emerges from neuronal activity in the brain (National Insitute of Mental Health).
(“Um die Wahrheit zu sagen, wir wissen nicht, wie wir einen Schaltkreis definieren sollen. Wo beginnt ein Schaltkreis und wo endet er? Wie übersetzen sich die Muster der ‘Aktivität’ auf Gehirn-Scans tatsächlich in das, was sich im Gehirn abspielt? Wie ist die Richtung des Informationsflusses? In der Tat, die Metapher des Schaltkreises im Sinne eines Flusses von Elektrizität könnte sorgenvoll unangemessen zur Beschreibung dessen sein, wie mentale Aktivität aus neuronaler Aktivität im Gehirn hervorgeht.”)
Streng genommen, haben wir also Schaltkreise auf der einen Seite, die wir nicht definieren können, von denen wir nicht wissen, wo sie beginnen und wo sie enden; und auf der anderen Seite haben wir die “psychisch Kranken”, die wir nicht mit objektiven Methoden zu diagnostizieren vermögen. Aber das führende psychiatrische Forschungsinstitut der Welt (NIMH), dass sowohl die eine, als auch die andere Seite in ihrer Website wiederholt betont und bestätigt hat, ist dennoch davon überzeugt, dass “psychische Krankheiten” auf “gestörten Schaltkreisen” beruhen und dass die genauen Details schon bald durch die Forschungen der “klinischen Neurowissenschaft” enthüllt werden.
Wenden wir uns nun dem sozialwissenschaftlichen Ansatz zu. Das wohl elaborierteste Modell dieser Art ist die psychologische Theorie der Psychosen, die der britische Psychologe und Hochschullehrer Richard Bentall in zwei voluminösen Werken ausarbeitete (3, 4). So verdienstvoll diese, durch zahllose empirische Studien gestützte Analyse auch immer sein mag, so zeigt sich doch auch hier der ernüchternde Befund, dass alle psychologischen, soziologischen und kulturellen Faktoren zusammengenommen nur einen kleinen Teil des Verhaltens und Erlebens der so genannten “psychisch Kranken” erklären können. Dies ist jedoch nicht weiter erstaunlich, weil auch die von Bentall zur Stützung seiner Thesen herbeigezogenen Autoren das Problem nicht zu lösen vermochten, in ihren Studien die Basiselemente, nämlich die Individuen den Versuchsbedingungen mit objektiven Methoden zuzuordnen.
Bentall räumt zwar ein, dass sich die Forschung besser auf “Symptome” konzentrieren sollte und nicht auf nebulöse und nicht objektiv messbare “psychische Krankheiten”; allein, die große Masse der Studien, auf die er sich stützt, bezieht sich auf “Patienten”, die mit den klassischen psychiatrischen Diagnose-Schemata der einen oder anderen “psychischen Krankheit” zugeordnet wurden. Und die “Symptome”, die zu den “Syndromen” dieser Manuale zählen, lassen sich ebenfalls nur zum Teil objektiv feststellen, nämlich nur, insofern es sich um öffentlich beobachtbare Verhaltensweisen handelt, und nicht um mentalistische Konstrukte wie beispielsweise Wahn oder Depression.
Bentall schreibt:
“In Chapter 7, I consider whether and to what extent psychiatric disorders can be said to be caused by brain desease. It turns out that this question is much more easily addressed if we attempt to explain particular kinds of complaints (symptoms) such as halluzinations and delusions, rather than meaningless diagnostic categories such as ‘schizophrenia’ (5).”
(Im Kapitel 7 erwäge ich, ob und in welchem Ausmaß psychische Krankheiten als Gehirnstörung aufgefasst werden können. Es stellt sich heraus, dass diese Frage viel besser angesprochen werden kann, wenn wir versuchen, besondere Arten von Beschwerden (Symptomen) wie Halluzinationen oder Wahnvorstellungen zu erklären, anstelle bedeutungsloser Kategorien wie ‘Schizophrenie’”.)
Nur unglücklicherweise sind, im empirischen Sinne, die “Symptome” nicht minder bedeutungslos als die Kategorien, weil sich die Kategorien aus den Symptomen zusammensetzen und die Symptome ihre Bedeutung von den Kategorien verliehen bekommen. Im empirischen Sinne bedeutungsvoll sind nur operationalisierte Phänomene, also solche, die sich öffentlich beobachten und damit intersubjektiv überprüfen lassen, und das sind nun einmal, bei Forschungen dieser Art, die Verhaltensweisen eines Menschen.
Das eingangs beschriebene Problem der Auswahl von Individuen ließe sich jedenfalls erheblich entschärfen, wenn man die Selektion der Studienteilnehmer für die Stichproben auf Basis von beobachtbaren Verhaltensweisen vornehmen würde und nicht auf Grundlage mentalistischer Konstrukte, denen ja stets ein spekulatives Moment anhaftet. Dies würde bedeuten, dass man vollständig auf schlecht operationalisierte Konstrukte, also auf “Syndrome” und “Symptome” verzichtet. Die Frage lautete dann allerdings nicht mehr, welche Ursachen “psychische Krankheiten” haben, sondern mit welchen Reizen, Rahmenbedingungen und Konsequenzen bestimmte Verhaltensweisen verbunden sind.
Wir sehen, dass ein Problembewusstsein in beiden Lagern, also bei den Naturwissenschaftlern und bei den Sozialwissenschaftlern vorhanden zu sein scheint; doch der entscheidende Schritt, nämlich die Lösung von mentalistischen Konstrukten wie Wahn, Halluzinationen, Depression, Schizophrenie und dergleichen wird nicht vollzogen. Dies behindert den Fortschritt der Wissenschaft nachhaltig. Thomas Insel und Richard Bentall sind keine “Cranks”, sondern international anerkannte wissenschaftliche Koryphäen, die hier den Finger in die Wunde legen. Allein, die notwendige Schlussfolgerung als der von ihnen zutreffend analysierten Misere vermögen sie nicht zu ziehen. Man mag rätseln, warum dies so ist.
Anmerkungen
(1) NIMH Research Domain Criteria (RDoC)
(3) Bentall, R. P. (2003) Madness Explained: Psychosis and Human Nature London: Penguin Books Ltd
(4) Bentall, R. (2009). Doctoring the mind: is our current treatment of mental illness really any good? New York, NYU Press
(5) siehe 4, Kapitel: The purpose of this book, Position 223 (Kindle edition)
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