Regensburg. Wiederaufnahmeverfahren Gustl Mollath. Wir erinnern uns: Strate, der Anwalt und Mollath, der Angeklagte sind sich dauerhaft nicht einig. Strate legt sein Mandat nieder; dies lässt das Gericht nicht zu und bestellt ihn zum Pflichtverteidiger.
Manche Beobachter des Geschehens haben nun ein Problem. Es sind jene, die sich von folgendem Gleichungssystem (nennen wir es das SM-System) leiten lassen:
Strate = bester Verteidiger, den Mollath sich wünschen kann; selbstloser Gegner böser Juristen und Psychiater
Mollath = Lichtgestalt und Opfer böser Juristen und Psychiater
Solange folgende Zusatzannahmen gelten…
Strate = Mensch, der hinter seinem Mandanten steht
Mollath = Mensch, der hinter seinem Anwalt steht
… ist das System im Gleichgewicht. Doch nun liegen Strate und Mollath über Kreuz. Dadurch entsteht ein gedanklicher Widerspruch bei allen, die sich das SM-System zu eigen gemacht haben.
Leider kann ich nicht in die Köpfe anderer Menschen schauen. Daher weiß ich auch nicht, ob das SM-System für Argumentationen verantwortlich ist, die ich seit dem ersten Aufflackern des Streits zwischen Strate und Mollath immer wieder im Netz lese. Der grundlegende Gedankengang (Grundform “Mollath”) ist folgender:
- Mollath hat im Maßregelvollzug Schreckliches erfahren.
- Dadurch wurde er traumatisiert.
- Die Traumatisierung veränderte seine mentalen Prozesse gegenüber dem Normalen.
- Die veränderten mentalen Prozesse erklären sein Verhalten vor Gericht im Allgemeinen und gegenüber Strate im Besonderen.
Alternativ dazu wird folgende Erklärung (Alternativ “Mollath”) vorgetragen:
- Mollath steht unter dem Einfluss eines oder mehrerer Menschen, der oder die ihn manipulieren.
- Mollath ist diesen Manipulationen schutzlos ausgeliefert.
- Dies erklärt sein Verhalten vor Gericht im Allgemeinen und gegenüber Strate im Besonderen.
Mitunter werden beide Modelle auch miteinander verbunden (Synthese “Mollath”):
- Mollath hat im Maßregelvollzug Schreckliches erfahren.
- Dadurch wurde er traumatisiert.
- Die Traumatisierung veränderte seine mentalen Prozesse gegenüber dem Normalen.
- Er steht unter dem Einfluss eines oder mehrerer Menschen, die ihn manipulieren.
- Mollath ist diesen Manipulationen aufgrund seiner veränderten mentalen Prozesse schutzlos ausgeliefert.
- Dies erklärt sein Verhalten vor Gericht im Allgemeinen und gegenüber Strate im Besonderen.
Man könnte nun unterstellen, dass die Vertreter derartiger Argumentationen versuchen, damit die innere Spannung abzubauen, die durch den Widerspruch im SM-System entstanden ist. Dies wäre eine Interpretation im Sinne der Theorie von der kognitiven Dissonanz und der menschlich-allzumenschlichen Tendenz, diese, auf Teufel komm’ ‘raus, zu eliminieren (1). Mollath bliebe, erklärte man sein Verhalten in der beschriebenen Form, Lichtgestalt und Opfer; Strate wäre nach wie vor der beste Anwalt, den Mollath sich wünschen kann. Weder an der Person Mollaths, noch an der Strates müsste man aus moralischer Sicht irgendwelche Abstriche machen. (“Unser Gustl kann ja letztlich nichts dafür!”)
Doch ebenso wenig, wie die Vertreter von “Grundform ‘Mollath’”, “Alternativ ‘Mollath’” oder “Synthese ‘Mollath’” in die Köpfe anderer Menschen schauen können, sind wir dazu in der Lage zu wissen, was in den Protagonisten dieser Erklärungsmodelle vorgeht.
Für das Verhalten von Menschen können in unterschiedlicher Mischung, Einflussgrößen aus den folgenden beiden Faktorengruppen verantwortlich sein:
- Vorgänge im Inneren der Person
- Vorgänge in der Umwelt der Person.
Die Vorgänge in der Umwelt der Person können wir, zumindest teilweise und im Prinzip, beobachten oder aus Mitteilungen über Beobachtungen erschließen. Mollath saß hinter psychiatrischen Gittern. Der Maßregelvollzug ist kein Wellnesshotel. Und selbst wenn er eins wäre, so könnte ein erzwungener Aufenthalt dort dennoch ausgesprochen unangenehm sein. Doch zu den Vorgängen im Inneren der Person haben wir keinen Zugang. Dass Mollath in der Psychiatrie erheblichen Stressoren ausgesetzt war, soll nicht bezweifelt werden, aber dass er dadurch auch traumatisiert wurde, können wir nicht wissen.
Und selbst wenn er traumatisiert worden wäre, so erklärt dies nicht zwangsläufig sein Verhalten vor Gericht oder gegenüber Strate. Dass Mollath von Menschen umgeben ist, die ihm etwas einflüstern, könnte, zumindest im Prinzip, ebenso beobachtet worden sein (eventuell durch einschlägige Blog-Betreiberinnen, die sich in Kleiderschränken auf Beobachtungsposten befanden); doch dass er sich dadurch tatsächlich beeinflussen ließ, ist eine Mutmaßung, und erst recht ist es eine Spekulation zu behaupten, dass er diesem Einfluss schutzlos ausgeliefert war, weil er in der Psychiatrie traumatisiert wurde.
Zwischen den Reizen und den Reaktionen liegt ein Bereich, der sich der Beobachtung entzieht, eine Blackbox, in die wir nicht hineinschauen können, auch wenn wir es noch so gern möchten – es sei denn, wir könnten Gedanken lesen. An die Möglichkeit solcher paranormalen Phänomene glaube ich nicht. Wer die oben genannten Argumentationen vertritt, sollte, im Interesse seiner Überzeugungskraft, zunächst nachweisen, dass er die Gabe der Telepathie besitzt.
PS: Ja, aber behauptete Gustl Mollath nicht selbst, er litte an einem Trauma, das durch die Psychiatrie verursacht worden sei und begründete er damit etwa nicht seine Ablehnung der Anwesenheit des Gutachters Nedopil im Gerichtssaal? Sicher: Es wurde protokolliert, dass er von einem “Kriegstrauma” sprach. Nur erstens können wir nicht wissen, ob Mollaths diesbezügliche Aussage zutrifft und zweitens ist es fraglich, ob er selbst dies wissen kann, denn die inneren Prozesse, die unserem Verhalten und Erleben zugrunde liegen mögen, sind uns allen, und damit auch Mollath, nur in begrenztem Maße zugänglich. Die Kapazität zur Informationsverarbeitung unseres Bewusstseins ist beschränkt (auf 7 plus/minus 2 Sinneinheiten(2)) und notgedrungen werden eine Vielzahl der Reize aus unserer Umwelt und der Impulse aus unserer Innenwelt unbewusst verarbeitet.
Anmerkung
(1) Festinger, L. (1957). A Theory of Cognitive Dissonance. Stanford: Stanford University Press
(2) Miller, G. A. (1956). “The magical number seven, plus or minus two: Some limits on our capacity for processing information”. Psychological Review 63 (2): 81–97
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