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Üble Nachrede

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Vor Ausflügen ins Juristische schrecke ich im Allgemeinen zurück. Denn ich bin kein Jurist, die Materie ist kompliziert und oftmals führen Plausibilität und “gesunder Menschenverstand” in die Irre, wenn es gilt, rechtliche Sachverhalte richtig einzuordnen.

Heute bin ich beim Surfen im Internet zufällig auf folgende Textpassage gestoßen:

“Wer in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird, wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Tat öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.”

Diese Stelle stammt aus dem Strafgesetzbuch (§ 186 StGB). Sie wirft Fragen bezüglich des Themas auf, das in der Pflasterritzenflora bevorzugt behandelt wird.

  1. Eine psychiatrische Diagnose ist eine Tatsachenbehauptung.
  2. Tatsachen sind, im Sinne von § 263 StGB, konkrete Zustände oder Vorgänge aus Gegenwart und Vergangenheit, die dem Beweis zugänglich sind.
  3. Medizinische Diagnosen sind dem Beweis zugänglich.
  4. Eine psychiatrische Diagnose ist eine medizinische Diagnose.
  5. Eine Diagnose wird als gesichert betrachtet, wenn die Symptome und Befunde spezifisch für ein bestimmtes Krankheitsbild sind.
  6. Auch in der Psychiatrie werden Diagnosen häufig als gesichert bezeichnet.
  7. Psychiatrische Diagnosen sind aber weder reliabel, noch valide. Weder stimmen mehrere Diagnostiker hinsichtlich eines Patienten ausreichend überein; noch ließ sich bisher nachweisen, dass die Diagnosen hinlänglich mit irgendetwas Pathologischem dort draußen in der Realität zusammenhängen (1).
  8. Man darf voraussetzen, dass der in Punkt 7 angesprochene Sachverhalt den psychiatrischen Diagnostikern bekannt ist. Dies ergibt sich ja allein schon aus der Tatsache, dass sie bei ihren Diagnosen nicht auf objektive Verfahren, auf Laborwerte zurückgreifen können, um ihre Diagnose zu erhärten.
  9. Es muss den Psychiatern gleichermaßen bekannt sein, dass eine psychiatrische Diagnose geeignet ist, jemanden verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Die von psychiatrischen Verbänden und Institutionen lancierten Anti-Stigma-Kampagnen sprechen hier eine eindeutige Sprache.

Da drängt sich dem juristischen Laien natürlich eine Frage auf: Warum werden Psychiater, die einem Menschen beispielsweise eine Schizophrenie unterstellen und diese Diagnose als gesichert bezeichnen (was erforderlich ist, wenn die Krankenkasse die Behandlung bezahlen soll), nicht vor Gericht gestellt und verurteilt?

Mir ist nicht bekannt, dass psychiatrische Diagnostiker regelhaft in solchen Fällen mutmaßlicher übler Nachrede vor den Kadi gezogen würden. Vielmehr werden Jahr für Jahr in Deutschland Hunderttausende psychiatrisch diagnostiziert, ohne dass unsere Gerichte dadurch erkennbar belastet würden.

Da ich an der Weisheit unserer Justiz natürlich nicht zu zweifeln wage und da ich meinen juristischen Unverstand bereits bekundet habe, bleibt nur eine Antwort übrig: Ich irre mich. Ich unterliege einem Denkfehler. Allein, ich vermag nicht zu erkennen, welcher das sein könnte.

Da wird beispielsweise einem Menschen eine “Schizophrenie” unterstellt, weil er Stimmen hört, die sonst niemand hört, und meint, dieses Phänomen würde durch einen Nachbarn hervorgerufen, der ihn mit einem umgebauten Mikrowellen-Ofen besende. Organisch fehlt dem Manne nichts. Kein Biomarker weist auf eine “Schizophrenie” hin; sein Gehirn-Scan ist unauffällig. Dennoch behauptet sein Psychiater, er litte an einer “krankheitswertigen” psychischen Störung, die auf einem chemischen Ungleichgewicht in seinem Gehirn beruhe.

Jedoch handelt es sich bei dieser Unterstellung keineswegs um eine erweislich wahre Tatsache und sie ist geeignet, den angeblich “Schizophrenen” verächtlich zu machen. Schließlich gelten Schizophrene in der öffentlichen Meinung als mental gestört, unberechenbar und sogar gefährlich.

Dem juristischen Laien drängt sich hier fraglos der Verdacht auf, dass in diesem Falle der Straftatbestand der üblen Nachrede erfüllt sein könnte, weil ja die die unterstellte Tatsache ehrenrührig und nicht erweislich wahr ist.

Vielleicht findet sich ja ein juristisch versierter Leser der Pflasterritzenflora, der in der Lage ist, mir dieses Mirakel zu erklären. Warum landen die eigentlich nicht alle im Knast?

Anmerkung

(1) Grundfragen psychiatrischer Diagnostik

The post Üble Nachrede appeared first on Pflasterritzenflora.


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