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Psychopharmaka

Es kann wohl kein Zweifel mehr daran bestehen, dass einflussreiche Kreise innerhalb der Pharmaindustrie die Psychopharmaka-Forschung in erheblichem Ausmaß verzerrend und zu ihren Gunsten beeinflusst haben. Man lese hierzu beispielsweise David Healys Buch “Pharmageddon”. Inzwischen haben sich die großen Pharma-Unternehmen allerdings weitgehend aus der Psychopharmaka-Forschung zurückgezogen. Es heißt, das Gebiet sei ihnen zu riskant und andere Bereiche seien Gewinn versprechender. Der wahre Grund dürfte letztlich darin bestehen, dass die psychiatrische Forschung den Pharma-Unternehmen keine Zielgebiete im Hirn zu nennen vermag, für die man Medikamente mit neuen Wirkmechanismen, also patentfähige und damit profitable Substanzen entwickeln könnte. Manche meinen, dies liege daran, dass die psychiatrische Forschung immer noch mit den Diagnosemanualen DSM bzw. ICD arbeite, deren “Krankheitsbilder” nicht im geringsten mit dem übereinstimmten, was wir heute über die Arbeitsweise des Gehirns wissen.

Seit ein paar Jahren wird auch in den Kreisen der psychiatrischen Wissenschaft Kritik an Psychopharmaka und am biologischen Modell “psychischer Krankheiten” laut; und böse Zungen behaupten, dies sei die Rache dafür, dass aus Pharma-Kreisen nicht mehr soviel Geld an die Universitäten und in die Taschen der einschlägig tätigen Wissenschaftler fließt. Wenn erst einmal der Patentschutz für die heute noch geschützten, gängigen Psychopharmaka abgelaufen sein wird, dann mag sich dieses Phänomen noch verstärken. Heute wird die These, dass Psychopharmaka gestörte Hirnprozesse korrigierten (chemische Ungleichgewichte usw.), von der Zunft zwar immer noch mehrheitlich vertreten, aber wie lange noch? Dass es sich dabei um Schwindel und Betrug handelt, hat beispielsweise Joanna Moncrieff in ihrem Buch “The Myth of the Chemical Cure: A Critique of Psychiatric Drug Treatment” gezeigt. Wird man diese offensichtlich abwegige Fiktion auch dann noch vertreten, wenn ärztlicherseits von der Pharmaindustrie absolut nichts mehr zu holen sein wird?

Mein zynisches Weltbild: Korrupte Ärzte im Griff der Pharmaindustrie – dieses Weltbild ist sicher ungerecht und es verzerrt die Wirklichkeit. Selbstredend hat die Psychiatrie auch ihre Schwarzwaldkliniken, mit guten Ärzten, deren kleine menschliche Schwächen sie nicht daran hindern, schlussendlich alles wieder  ins Lot zu bringen. Darum halten ja auch die meisten Menschen die Psychiatrie, trotz mancher Missstände, für eine notwendige Institution. Von meinem zynischen Weltbild mag ich dennoch nicht lassen, da mir bewusst ist, was es für die Betroffenen bedeutet, mit psychiatrischen und dies heißt überwiegend mit psychopharmakologischen Mitteln wieder ins Lot gebracht worden zu sein. Der Preis für die häufig fragwürdigen, oft überwiegend auf dem Placebo-Effekt beruhenden Wirkungen der Psychopharmaka ist die Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken”. Dies bedeutete: teilzuhaben an einer Veranstaltung, in der Lebensprobleme als “Krankheiten” inszeniert werden.

Es gibt zahllose Befunde, die einen engen Zusammenhang zwischen sozialen bzw. ökonomischen Schieflagen und den so genannten psychischen Krankheiten belegen, wohingegen Belege für einen Zusammenhang zwischen psychischen Krankheiten und gestörten Hirnprozessen oder genetischen Faktoren spärlich und methodisch meist fragwürdig sind. Dennoch behandelt die biologische Psychiatrie letztere als erst- und erstgenannte als zweitrangig, sofern sie überhaupt beachtet werden. Kritiker sprechen von einer Überkleisterung sozio-ökonomischer Probleme durch eine medikamentöse Therapie, die Betroffene bestenfalls gleichgültig und emotional stumpf macht. Dies mag helfen, insofern es die passive Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse erleichtert; eine echte Lösung ist dies dennoch nicht. Psychotherapien, die nach dem medizinischen Modell Worte wie Pillen verabreichen, an die sozialökonomischen Schwierigkeiten aber nicht rühren, sind gleichermaßen keine echte Lösung von Lebensproblemen.

Manche räumen ein, dass Psychopharmaka langfristig zwar mehr schadeten als nutzten, unterstellen aber, dass sie kurzfristig ein wahrer Segen sein könnten. Auf einer oberflächlichen Ebene betrachtet, auf der sich auch die Befürworter des mäßigen Alkoholkonsums bewegen, mag dies durchaus zutreffen. Schaut man genauer hin, so erkennt man dennoch darin eine Strategie des Ausweichens vor grundlegenden Problemlösungen. Eine gemobbte Sekretärin beispielsweise, die, wenn’s wirklich nicht mehr anders geht, gelegentlich und kurzfristig ein Beruhigungsmittel nimmt, wird dadurch vielleicht befähigt, an ihrem Arbeitsplatz auszuharren. Dass dies aber eine wünschenswerte Problemlösung sei, mag bezweifelt werden.

Aus Sicht der biologischen Psychiatrie sind psychische Störungen Hirnerkrankungen ohne sozialen Sinn. Stress mag als Auslöser eine Rolle spielen, gesunde Leute aber seien dem Stress des Lebens gewachsen; nur die biologisch Vorgeschädigten kämen damit nicht zurecht. Aus dieser Sicht handelt die oben erwähnte Sekretärin natürlich vernünftig. Die Geschäftsleitung ihres Unternehmens wird dies sicher recht sein, denn es enthebt sie der Notwendigkeit, gegen das Mobbing vorzugehen; man kann sich also Ärger ersparen. Wer aber die Entwicklung der gesamten Gesellschaft im Auge hat, kann solche Vorgänge nicht als akzeptabel betrachten. In allen Industriestaaten hat sich der Konsum von Psychopharmaka zu einer gesellschaftlich akzeptierten Gewohnheit entwickelt. Das führt dazu, dass soziale und ökonomische Probleme viel eher hingenommen werden. Der Politik scheint dies zu gefallen; dies könnte man zumindest aus der Tatsache schließen, dass sie nichts Einschneidendes dagegen unternimmt.

Psychopharmaka sind also nicht nur ein chemisches, sondern auch ein politisches Gift. Manche meinen, sie seien dennoch ein notwendiges Übel, denn so schnell, wie manche Leute Hilfe brauchten, könne man die Gesellschaft nicht ändern. Auch wenn Psychopharmaka nicht das “Gelbe vom Ei” seien, so sei der grundsätzliche Verzicht darauf dies noch viel, viel weniger. Mitunter müsse man, zähneknirschend, den Teufel mit Beelzebub austreiben. Es dürfte nur wenige Menschen geben, die einer solchen Sicht nicht spontan zustimmen. An solcher Spontaneität habe ich nichts auszusetzen, solange sie nicht späteres Nachdenken verhindert. Dieses spätere Nachdenken sollte sich auf die Frage konzentrieren, ob es von Fall zu Fall nicht Alternativen ohne Psychopharmaka gebe, ohne das deswegen gleich die ganze Gesellschaft verändert werden müsste. Könnte man nicht beispielsweise den “Schizophrenen” in eine Einrichtung stecken, die auf Therapie und Medikamente (weitgehend) verzichtet, anstatt ihn mit Drogen vollzupumpen? Überall da, wo Derartiges versucht wurde bzw. wird, scheint es es erfolgreich zu sein. Dafür sprechen die, allerdings noch spärlichen, Befunde einschlägiger Studien (1).

Das System aber hat kein besonders ausgeprägtes Interesse an solchen Alternativen, auch wenn vereinzelt Einrichtungen dieser Art geduldet, mitunter sogar gefördert werden. Dennoch könnte man mehr davon bekommen, wenn Betroffene und Angehörige Druck auf das System ausüben würden, Revolution machen müsste man deswegen nicht. Doch die vermeintliche Knopfdrucklösung durch Griff zu Psychopharmaka ist einfach zu verlockend; sie verspricht das günstigste Verhältnis von Aufwand und Ertrag. Dies behauptet jedenfalls die Marketing-Maschine des psychiatrisch-psychopharmakologischen Komplexes. Doch wie glaubwürdig ist diese Marketing-Maschine?

Psychopharmaka, so denken manche, seien effizient (schnell wirksam) und ideologiefrei (unabhängig von psychotherapeutischem Firlefanz). Dies macht sie attraktiv. Man habe, so glaubt man, einfach nicht die Zeit, sich mit den Hintergründen seiner Lebensprobleme vertieft auseinanderzusetzen. Vermutlich denken vor allem Männer so, besonders, wenn sie im Berufsleben stehen und Wichtigeres zu bearbeiten haben als die eigene “Psyche”. Sie unterliegen einem Trugschluss, denn es geht hier gar nicht um die “Psyche”. Es geht um ihre konkreten Lebensverhältnisse, ihre Arbeit, ihr Eheleben, ihre (oft kaum vorhandene) Freizeit. Es spricht viel dafür, dass die so genannten psychischen Störungen Ausdruck von Missverhältnissen in diesen Lebenssphären sind. Wer meint, in diesen Bereichen Wichtiges zu tun zu haben, der kann diese Missverhältnisse nicht aussparen und die Auseinandersetzung damit durch Psychopharmaka ersetzen. Richtige Männer schlucken keine Psychopharmaka.

Und die Frauen? Sie hätten, vor allem ab vierzig, am liebsten esoterisch angehauchte Psychotherapie und dazu, zur Sicherheit, Psychopharmaka. Es hat wenig Zweck, dagegen zu argumentieren. Ein Mann kann Frauen nur raten, diesen Weg zu beschreiten (in der Hoffnung, dass sie dann deswegen dagegen opponieren und zumindest die Psychopharmaka weglassen). Psychopharmaka ändern jedenfalls nichts an den besonderen  Lebensverhältnissen, die bei Frauen recht häufig zu Problemen führen, die dann – weil frau es nicht besser weiß – in der Rolle der “psychisch Kranken” ausgelebt werden. Was auch immer unter patriarchalischen Verhältnissen zu verstehen sein mag: Es wird durch Psychopharmaka nicht besser.

Männer, Frauen, reißt euch zusammen. Das klingt altmodisch, das hört die Pharmaindustrie nicht gern. Dennoch: Reißt euch am Riemen. Ändert, was sich ändern lässt und was sich (noch) nicht ändern lässt, dass erduldet ohne Medikamente, illegale Drogen oder Alkohol.

Anmerkung

Calton, T. et al. (2008). A Systematic Review of the Soteria Paradigm for the Treatment of People Diagnosed With Schizophrenia. Schizophr Bull, 34 (1): 181-192

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