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Wahlempfehlung für “Die Linke”?

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Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener und die Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener empfehlen – auf Basis einer Befragung von 1126 Kandidatinnen und Kandidaten zur Bundestagswahl 2013 – die Wahl der Partei “Die Linke”. Nur diese Partei setze sich für eine bedingungslos gewaltfreie Psychiatrie ein und fordere konsequent die Abschaffung aller psychiatrischen Sondergesetze.

Allerdings versehen die genannten Vereinigungen ihre Wahlempfehlung mit einem Warnhinweis. In einer Stellungnahme zu einer Kleinen Anfrage habe die Gesundheitsministerin des Landes Brandenburg, Anita Tack am 24. 05. 2013 betont, dass man zwischen Menschen, die aufgrund ihres freien Willens ein Recht auf Krankheit hätten, und krankheitsbedingt nicht zur Krankheitseinsicht fähigen Menschen unterscheiden müsse. Letztere gegen ihre Willen zu behandeln, sei durchaus verfassungskonform.

Im Klartext bedeutet dies: Da es keine objektiven Methoden gibt, die Fähigkeit zur freien Willensbildung bei den sogenannten psychisch Kranken festzustellen, redet die Ministerin ärztlicher und juristischer Willkür das Wort. Daher ist der Warnhinweis gerechtfertigt. Man kann nicht zuverlässig ausschließen, dass die Linke bei einer Regierungsbeteiligung Gesetzen zur Aufrechterhaltung der Zwangspsychiatrie zustimmen wird.

Es ist zwar nicht zu bestreiten, dass die Linke in Sachen Zwangspsychiatrie mit Abstand den besten Eindruck hinterlässt, aber ob sie nach der Wahl hält, was sie vor der Wahl verspricht, ist keineswegs gewiss. Es geht hier im Übrigen nicht um eine Bagatelle, sondern u. a. darum, ob man Menschen im Falle eines Falles gewaltsam schwere Nervengifte verabreichen darf,  deren Wirkungen oftmals als sehr unangenehm empfunden werden und die teilweise (evtl. sogar irreversibel) gesundheitsschädigend sind.

Wenn wir von schweren geistigen Behinderungen einmal absehen, gibt es keinen vernünftigen, auf Fakten fußenden Grund, Menschen den freien Willen abzusprechen. Dies gilt auch für so genannte psychisch Kranke, die nicht “krankheitseinsichtig” sind. Das Konstrukt der “psychischen Krankheit” ist bekanntlich nicht valide; warum sollte sich also ein Mensch zu einer “psychischen Krankheit” bekennen, wenn man diese nicht mit objektiven Methoden feststellen kann? Nach den Kriterien der Psychiatrie müsste man sogar den unverbrüchlichen Glauben an dieses Konstrukt als Wahnvorstellung bezeichnen.

Ich gehöre schon zu den älteren Semestern und ich habe in meinem bisherigen Leben nur allzu oft erleben müssen, wie Parteien ihre Wahlversprechen gebrochen haben; und deswegen spreche ich grundsätzlich keine Wahlempfehlungen aus, da ich nicht, was voraussehbar wäre, als schlechter Ratgeber dastehen möchte. Ich wäre sehr überrascht, wenn in absehbarer Zeit die Zwangspsychiatrie abgeschafft würde. Selbst wenn die Linke an der Regierung beteiligt würde, hätte ich da keine große Hoffnung. Zu tief ist in den Köpfen der Bevölkerungsmehrheit die Überzeugung verwurzelt, dass man “psychisch kranke und deswegen gefährliche” Menschen präventiv wegsperren müsse.

Mitunter fordern Parteien vor der Wahl Unmögliches und betonen nach der Wahl, dass Politik die Kunst des Möglichen sei. Wer Parteien wegen ihrer Programme und Wahlversprechen wählt, ist meines Erachtens schief gewickelt. Sie können immer behaupten, dass widrige, unvorhersehbare Umstände oder der Koalitionspartner sie zwängen, von ihren Ankündigungen schweren Herzens abzurücken. Es ist kaum vorstellbar, dass irgendeine Regierung – mit linker Beteiligung oder nicht – es riskieren würde, die Zwangspsychiatrie abzuschaffen. Der nächste angeblich irre Mörder wäre ein gefundenes Fressen für die Opposition und würde in der Bevölkerung einen Sturm der Entrüstung auslösen.

Eine Wahlempfehlung für die Linke, auch wenn ich sie nicht ausspreche, halte ich durchaus für vertretbar, aber aus anderen Gründen. Einen gesetzlicher Mindestlohn von zehn Euro, die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze auf 500 Euro und die Abschaffung der Rente mit 67 zu fordern, beispielsweise, ist ja nicht unrealistisch. Auch hier übernehme ich keine Garantie dafür, dass diese Partei als Voraussetzung einer Regierungsbeteiligung oder Duldung, darauf besteht; aber die Wahrscheinlichkeit ist doch deutlich höher als in Sachen Zwangspsychiatrie.

Solange nicht eine Mehrheit der Bevölkerung den politischen Charakter der Zwangspsychiatrie durchschaut, haben die Befürworter ihrer Abschaffung schlechte Karten. Wer Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung für notwendige medizinische Maßnahmen hält, wird zu dieser Einsicht wohl eher nicht vordringen. Daher hätte man die Kandidatinnen und Kandidaten fragen sollen, ob sie an die Existenz psychischer Krankheiten glauben. Die Antworten hätten eine sicherere Prognose ihres zukünftigen Verhaltens im Bundestag erlaubt.

Das ist in der Tat die entscheidende Frage. Dass es Menschen gibt, deren Verhalten und bekundetes Erleben Rätsel aufgeben und irrational erscheinen, steht ja außer Frage. Dass manche Menschen rasen und toben, in abgrundtiefe Traurigkeit versunken sind oder sich konfuser Betriebsamkeit anheimgeben, beispielsweise, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Aber ist dies die Folge einer psychischen Krankheit, das Ergebnis eines eingeschränkten oder nicht mehr vorhandenen freien Willens? Oder haben sich die Menschen, im Gegenteil, frei dazu entschieden?

Das Konzept der freien Entscheidung steht im Widerspruch zum Konstrukt der “psychischen Krankheit”.

  • Der “psychisch Kranke” ist allenfalls eingeschränkt für seine “Symptome” verantwortlich; diese sind vielmehr Ausdruck einer “Psychopathologie”; diese Menschen bedürfen des Arztes. Im Extremfall muss man die psychisch Kranken dazu zwingen, sich einer Behandlung zu unterziehen, weil ihnen krankheitsbedingt die Krankheitseinsicht fehlt.
  • Nach dem Konzept der freien Entscheidung kann der Mensch zwar andere und sogar sich selbst glauben machen, er habe die Kontrolle über sich verloren, aber weder die wissenschaftliche Forschung, noch die allgemeine Lebenserfahrung zwingen uns dazu, uns diese Auffassung zu eigen zu machen.

Bisher ist es uns noch nicht gelungen, menschliches Verhalten unter realen Lebensbedingungen halbwegs treffsicher vorherzusagen; dies gilt auch für gewalttätiges oder selbstschädigendes Handeln. Dies beweist zwar nicht das Konzept der freien Entscheidung, aber es spricht eindeutig dafür. Beim Stand der wissenschaftlichen Forschung müssen wir jedenfalls eine größere Zahl von Menschen einsperren, um eine Gewalttat oder einen Suizid zu verhindern. Die Validität psychiatrischer Prognosen ist für eine vertretbare Trefferquote viel zu gering.

Wer das Konzept der freien Entscheidung vertritt, lehnt das Konstrukt der “psychischen Krankheit” ab und muss sich daher auch für die unbedingte Abschaffung der Zwangspsychiatrie einsetzen. Wer aber das Konstrukt der “psychischen Krankheit” für angemessen hält, dessen grundsätzliche Ablehnung der Zwangspsychiatrie ist zumindest fragwürdig. Ich kann es natürlich nicht wissen, aber ich könnte es mir sehr gut vorstellen, dass die meisten Politiker der Linken, die sich jetzt vor der Wahl gegen die Zwangspsychiatrie aussprechen, sich diesen grundlegenden Sachverhalt noch nicht klargemacht haben.

Wenn es nämlich psychische Krankheiten gäbe, dann müsste man auch mit Menschen rechnen, die krankheitsbedingt ein erhöhtes Gewaltrisiko aufweisen und dann wäre u. U. auch an eine zwangsweise Behandlung zu denken. Es wäre womöglich sogar fahrlässig, darauf zu verzichten.

Wenn es aber keine psychischen Krankheiten geben würde, dann dürfte man auch niemandem unterstellen, er sei wegen einer solchen Erkrankung gefährlicher als andere Leute. Und dann wäre es verwerflich, ihn wegen dieser mutmaßlichen Gefährlichkeit zwangsweise einer Behandlung hinter den Gittern der Psychiatrie zu unterwerfen.

Dass es keinen wissenschaftlich, empirisch erhärteten Beweis für die Existenz der so genannten psychischen Krankheiten gibt, habe ich in der Pflasterritzenflora wiederholt betont, und bisher hat sich auch noch niemand zu Wort gemeldet, mit der Behauptung, einen derartigen Beweis vorlegen zu können. Bisher wurden nur die “Symptome” als Beweis für die Krankheit ausgegeben; dabei wurde aber geflissentlich übersehen, dass Phänomene aus wissenschaftlicher Sicht erst dann als “Symptome” gedeutet werden können, wenn sich nachweisen lässt, dass sie auf einer Krankheit beruhen.

Zurück zur Partei “Die Linke”: Erstens hat sich diese Partei meines Wissens noch nicht vom Konstrukt der “psychischen Krankheiten” distanziert. Zweitens hat sie dieses Thema, bevor der Fall Mollath hochkochte, auch nicht sonderlich interessiert. Dies hat mich, bei aller Sympathie für diese Partei (die ich für eine echt sozialdemokratische halte), immer schon sehr irritiert und auch skeptisch gemacht. Dies ist ja kein Randthema, sondern es gehört durchaus zu den zentralen Fragen, die sich gerade den sozialen Schichten stellen, für die sich diese Partei starkzumachen behauptet.

The post Wahlempfehlung für “Die Linke”? appeared first on Pflasterritzenflora.


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