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Warum wird einer “psychisch krank”?

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Beim Stand der empirischen Forschung muss man daran zweifeln, dass die so genannten psychischen Krankheiten tatsächlich Krankheiten sind. Jedenfalls ist es der Psychiatrie bisher noch nicht gelungen, die Prozesse im Nervensystem zu identifizieren, die diesen Krankheiten angeblich ursächlich zugrunde liegen. Desgleichen war der Versuch, die genetischen Wurzeln zu ergründen, bisher weitgehend ein Fehlschlag. Seitdem sie sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur modernen Wissenschaft wandelte, versucht die Psychiatrie, den biologischen Ursachen der mutmaßlichen psychischen Krankheiten auf die Spur zu kommen, bisher allerdings vergeblich. Nach wie vor hängt es nur von der subjektiven Meinung des Diagnostikers ab, ob jemand als “psychisch krank” eingestuft wird oder nicht.

Es mag also erlaubt sein, nach alternativen Erklärungen für Phänomene zu suchen, die ja zweifellos existieren.

  • Ein Mensch wird “depressiv”, um vor einer Lebensaufgabe auszuweichen, bei der er zu scheitern fürchtet.
  • Ein Mensch wird “paranoid”, weil er so eine Erklärung für das Versagen bei der Meisterung einer Lebensaufgabe hat (die Freimaurer, Illuminaten, Marsmenschen, Geheimdienste usw. waren schuld)
  • Ein Mensch wird “hyperaktiv”, weil dies in seinem Bezugssystem von ihm so erwartet wird (weil beispielsweise die Eltern vor der Scheidung stehen und die Sorge um ihr Kind sie wieder zusammenschmiedet)

In diesen drei Fällen übernimmt der Mensch offensichtlich die Rolle des psychisch Kranken, um sich der Verantwortung zu entziehen (durch Self-handicapping, durch Wahnbildung) oder weil er dem Drängen signifikanter Anderer zur Übernahme dieser Rolle nachgegeben hat. In jedem Fall haben ihn die Umstände seines Lebens geneigt gemacht, sich aus freien Stücken dazu zu entscheiden, “psychisch krank” zu sein.

Wenn wir genauer hinschauen, so vermute ich, werden wir in jedem Fall einer so genannten psychischen Krankheit ähnliche Muster entdecken. Heute ist es Mode geworden, als Ersatz für die oder als Ergänzung zu den “biologischen” Ursachen psychische Traumata für “psychische Krankheiten” verantwortlich zu machen. Und ich will gar nicht bestreiten, dass traumatisierende Umwelt Menschen besonders geneigt stimmen können, sofort oder im späteren Leben die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Aber es bleibt dennoch die freie Entscheidung des Betroffenen; er ist nicht wie ein Automat dazu gezwungen.

Natürlich gibt es neurologische und andere körperliche Erkrankungen mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben. Diese und nur diese bedürfen des Arztes. Bei den so genannten psychischen Krankheiten aber ist nach menschlichem Ermessen “körperlich” alles in Ordnung. Und daher fallen sie auch nicht in den Zuständigkeitsbereich der Medizin. Es geht hier nämlich nicht darum, eine Krankheit zu heilen, sondern darum, Entscheidungen zu überdenken und ggf. neu zu fällen.

Obwohl diese Zusammenhänge offensichtlich sind, werden sie von Psychiatern geflissentlich übersehen. Es gibt allerdings Ausnahmen. Eine davon ist der unlängst verstorbene William Glasser. Auf der Website des William-Glasser-Instituts heißt es: “Dr. Glasser’s approach is non-traditional. He does not believe in the concept of mental illness unless there is something organically wrong with the brain that can be confirmed by a pathologist.”

“Psychisch krank” zu sein, beruht also auf Entscheidungen des Betroffenen. Die “psychische Krankheit” ist teilweise real und teilweise fiktiv. Real sind die problematischen Verhaltensweisen und Erlebnisformen, fiktiv sind die Krankheiten, die sie angeblich verursachen. Die Psychiatrie ist ein System, dass im fiktiven Teil der so genannten psychischen Krankheiten wurzelt. Da sich aber der ganze Mensch in eine psychiatrische Behandlung begibt und den realen Teil des Phänomens natürlich mitbringt, erweckt die Psychiatrie den Anschein einer handfesten Grundlage.

Doch wer einen kritischen Blick auf die Befunde der (nicht von der Pharma-Industrie abhängigen) Forschung wirft, erkennt sehr schnell, dass sie vollends im Fiktiven wurzelt. Nichts von dem, was sie voraussetzt und verspricht, kann sie empirisch erhärten. Sie hält dennoch an dieser Fiktion fest, weil diese erstens ihre Tätigkeit (Geld) und zweitens ihre Kontrolle (Macht) legitimiert.

Selbst wenn jemand zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen wurde, ist es seine eigene Entscheidung, “psychisch krank” zu sein. Man kann sich gegen eine solche Diagnose auch wehren. Gustl Mollath hat bewiesen, dass man auch 7 Jahre lang im Maßregelvollzug sitzen kann, ohne sich als “psychisch krank” empfinden zu müssen. Während dieser Zeit hat Mollath tapfer die Rolle des Gefangenen eingenommen und der Versuchung widerstanden, seine Existenz im Fiktiven zu verwurzeln, obwohl dies in seinem Bezugssystem, dem Maßregelvollzug, so von ihm erwartet wurde.

Nicht immer wird auf Menschen ein so massiver Druck ausgeübt, sich in die Rolle des “psychisch Kranken” zu fügen, wie auf Gustl Mollath. Aber bei vielen genügt auch ein wesentlich geringerer Druck, um sie gefügig zu machen. Und nicht wenige geben nur zu gerne nach oder werden selbst aktiv, um sich in eine “psychisch Krankheit” zu flüchten. Es gibt schwierige Lebensumstände, unter denen es – nicht nur subjektiv – die beste aller realen Möglichkeiten sein mag, sich als “psychisch Kranker” zu präsentieren. Dies ist nicht schwer, denn die Diagnose ist willkürlich, und wer sie einmal hat, der kann tun, was er will: Alles, was er tut und sagt, wird dann als “Symptom” seiner Krankheit oder als Ausdruck eines “Genesungsprozesses” aufgefasst.

Dennoch muss es als Unverfrorenheit gegenüber den Mitmenschen aufgefasst werden, “psychisch krank” zu sein. Die einzige Entschuldigung, die ich gelten lasse, besteht darin, dass ein Mensch totaler Desinformation unterliegt und daher tatsächlich glaubt, psychisch krank zu sein. Die psychiatrische “Hypnose” hat seine Fähigkeit zu kritischem Denken ausgeschaltet und er verwechselt seine freie Entscheidung zur Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken” mit einem krankheitsbedingten Phänomen. Tief im Innern aber, so will mir scheinen, spüren die meisten “psychisch Kranken”, dass sie in einen Sumpf geraten sind, aus dem sie sich durchaus selbst befreien könnten, wenn sie nicht zu feige oder zu bequem dazu wären.

Ist diese Unverfrorenheit verzeihlich? Sind wir nicht alle mitunter zu feige und / oder zu bequem, um notwendige und mögliche Veränderungen in unserem Leben zu verwirklichen? Wissen wir nicht nur zu oft, dass wir uns einen Ruck geben müssten und finden dennoch die Kraft nicht dazu? Die Psychiatrie baut auf dieses nur zu reale Phänomen, es ist eine ihrer Geschäftsgrundlagen. Sie verzeiht Unverfrorenheiten dieser Art nur zu gern. Und darum ist sie manchem glücklichen Patienten auch ans Herz gewachsen. Die weißen Kittel und Anzüge strahlen eine Reinheit aus, die es sonst kaum noch gibt in dieser Welt.

Warum wird einer “psychisch krank”? Wird er verführt durch eine Gesellschaft, die nur zu gern den Selbstbetrug belohnt, wenn dies im Interesse der Reichen und Mächtigen liegt? Oder ist dies eine Neigung, die in die Conditio humana eingebaut ist? Wie auch immer: Die “psychische Krankheit” wird, wie die Statistiken zeigen, zunehmend zur Normalität, sehr zur Freude der Psychiatrie und Pharma-Industrie. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin berichtet: “Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen hat unterdessen zugenommen. Im Jahr 2008 waren es noch 41 Millionen verpasste Arbeitstage, im Jahr 2011 bereits 59,2 Millionen.”

“Psychisch krank” wird einer, weil er aus irgendeinem Grund “psychisch krank” sein will. Dieser Grund mag gut oder schlecht durchdacht sein oder auf schierer Gedankenlosigkeit beruhen. Es gibt keine äußere Macht oder Kraft, die den “Kranken” daran hindern könnte, seine Entscheidung zur “psychischen Krankheit” zu revidieren. Die Gesellschaft kann es den “psychisch Kranken” leicht machen, dies zu tun – oder schwer. Sie kann ihm nahelegen, diese Ausflucht zu wählen; sie kann ihn ermutigen, nach produktiveren Lösungen für Lebensprobleme zu suchen. Unsere Gesellschaft scheint sich auf dem Weg der Medikalisierung, der Verkrankung zu befinden. Wollen wir das wirklich – oder haben wir nur noch nicht genug über Alternativen nachgedacht?

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