Die Auffassung, dass sich “psychisch Kranke” zur “psychischen Krankheit” entscheiden, kann selbst bei Menschen, die der Psychiatriekritik wohlwollend gegenüberstehen, Verwirrung, wenn nicht Empörung hervorrufen. Um diese Auffassung zu begreifen, also um nicht nur emotional auf sie zu reagieren, muss man sich allerdings die grundsätzlichen Möglichkeiten und Sichtweisen vor Augen führen.
- Ein Mensch wird aufgrund einer Hirnstörung oder anderer körperlicher Faktoren psychisch krank. Seine Entscheidungen spielen keine Rolle. Er agiert wie ein Automat.
- Ein Mensch wird aufgrund von schädlichen Einflüssen aus der Umwelt psychisch krank (beispielsweise Traumatisierungen in der frühen Kindheit). Seine Entscheidungen spielen keine Rolle. Er agiert wie ein Automat.
- Ein Mensch entscheidet sich dazu, die Rolle des “psychisch Kranken” einzunehmen. Er kann dazu durch äußere Umstände oder / und körperliche Faktoren verführt oder genötigt werden, aber er hat prinzipiell die Wahl. Er ist kein Automat, kein Roboter, sondern ein mit freiem Willen begabter Mensch wie du und ich.
Das heutige medizinische Modell “psychischer Krankeiten” lässt sich in etwa wie folgt zusammenfassen: Umweltbelastungen können eine psychische Krankheit hervorrufen. Aber ob jemand dem Stress gewachsen ist oder mit einer “psychischen Krankheit” reagiert, hängt von biologischen Faktoren ab, die als die eigentliche Ursache der “psychischen Krankheiten” gesehen werden müssen. Die Erkrankung wird durch einen inneren Prozess im Individuum hervorgerufen, auf den der Betroffene, wenn überhaupt, nur geringen Einfluss hat. Deswegen muss er sich, möglichst früh, in ärztliche Behandlung begeben.
Das heutige sozialwissenschaftliche Modell “psychischer Störungen” bestreitet den Einfluss biologischer Einflussgrößen nicht, sieht aber die entscheidenden Ursachen in sozialen Faktoren, wie Arbeitslosigkeit, Arbeitsbelastung, Rasse, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Klassenlage usw. In diesem Modell ist der Mensch überwiegend Produkt seiner Umwelt und wird als “Reaktionsautomat” gesehen, als Spielball der sozio-ökonomischen Bedingungen seines Lebens. Psychotherapien können “ein Stück weit” helfen; eine grundsätzliche Lösung ist jedoch nur von einer Veränderung dieser Bedingungen zu erwarten.
Es gibt natürlich auch Versuche, diese beiden Ansätze in bio-psycho-sozialen Modellen miteinander zu kombinieren; aber auch in diesen Modellen spielen die Entscheidungen des Betroffenen, wenn überhaupt, nur eine zweitrangige Rolle; sie sind etwas, zu dem die “Kranken” durch die Interventionen professioneller Helfer gebracht werden müssen.
Diesen drei Modelltypen ist folgende Grundauffassung gemeinsam: Auf der einen Seite steht der wissende Arzt oder “Sozialingenieur”, der die Behandlung steuert, und auf der anderen Seite steht der “Patient”, der sich den Anweisungen des professionellen Helfers fügen muss. Mitunter bemüht man sich, diese Hierarchie durch Ideen zur Partizipation der “Patienten” zu überkleistern, aber am Grundsätzlichen ändert sich dadurch nichts, weil der Patient nicht als Entscheider gesehen wird, sondern als Opfer von Kräften, die sich seiner Kontrolle entziehen.
Mein Standpunkt ist von diesen Ansätzen grundsätzlich unterschieden. Die so genannten Symptome der so genannten Patienten beruhen auf Entscheidungen, die oftmals unter widrigen und verwirrenden Umständen gefällt werden. Sie können als sinnvoll verstanden werden, wenn man die Situationen berücksichtigt, in denen die “Patienten” stecken. Dazu muss man aber genauer hinsehen und darf nicht vorgefertigte Modelle an die Betroffenen und ihre Lebenslagen herantragen. Niemand ist ein “Reaktionsautomat”. Von Extremfällen abgesehen, zwingen uns nicht innere oder äußere Mechanismen zu unseren Handlungen. Wir erhalten Informationen, die wir mehr oder weniger bewusst reflektieren und wir entscheiden uns dann für die eine oder andere Alternative. Wenn uns dann das Verhalten und bekundete Erleben “psychisch krank” erscheint, so bedeutet dies nicht, dass es tatsächlich Ausdruck einer “psychischen Krankheit” wäre; vielmehr ist es Ausdruck von Entscheidungen, zu denen auch die Entscheidung zählen kann (aber nicht muss), die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen.
Entscheidungen aber fällt jeder Mensch in eigener Verantwortung. Sie sind das Ergebnis der Abwägung von Fakten und Präferenzen im Inneren des Individuums. Zutritt zur Innenwelt hat nur das Individuum selbst. Wenn überhaupt irgendwer weiß, was in unserer Innenwelt vorgeht, dann ist es der Einzelne selbst. Spezialisten, die es besser zu wissen vorgeben, sollte man grundsätzlich misstrauen, denn sie beanspruchen Unmögliches für sich, sind also entweder größenwahnsinnig, Schwindler oder dumm. William Glasser sagt zu Recht. Der einzige Mensch, den wir ändern können, sind wir selbst. Wenn wir versuchen, andere zu ändern, so gelingt uns dies höchstens sehr unvollkommen und dann fangen die Frustrationen an. Daher sind Psychiater und andere Psycho-Profis sehr häufig frustriert und allzu frustrierten Leuten sollte man aus dem Weg gehen.
Entgegen anders lautenden Gerüchten steht mein Menschenbild im Übrigen nicht im Widerspruch zur naturwissenschaftlichen Forschung. Es wurden bisher noch keine Fakten bekannt, die gegen den freien Willen des Menschen sprechen. Dieser ist mit den Erkenntnissen der Neurowissenschaften durchaus verträglich. Es steht im Übrigen auch im Einklang mit der Alltagserfahrung, wenn man genauer hinschaut. Kein “Alkoholiker” beispielsweise wird mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen, sich die Flasche an den Hals zu setzen. Er entscheidet sich dazu und er kann, unter bestimmten Bedingungen, auch darauf verzichten. Kein “Schizophrener” muss seinen Nachbarn bezichtigen, ein Verbündeter der Außerirdischen zu sein. Er entscheidet sich dazu und kann, unter bestimmten Bedingungen, auch darauf verzichten. Was uns als zwanghaft oder automatisch erscheint, kann, und muss, als die Beharrlichkeit eines starken Willens gedeutet werden.
Aus meiner Sicht ist eine fundamentale Kritik der Psychiatrie nur vom Standpunkt eines solchen Menschenbildes möglich. Wenn wir einräumen, dass der Mensch die Kontrolle über sich selbst prinzipiell an unpersönliche Prozesse (beispielsweise im Gehirn oder in der Gesellschaft) verlieren könne, dann kann prinzipiell auch fürsorgliche Bevormundung gerechtfertigt sein. Viele denken scheinbar insgeheim: “Weil ich die fürsorgliche Bevormundung seltsamer Menschen will, darum kann es gar nicht anders sein, als dass Menschen mitunter die Kontrolle über sich verlieren können.”
Die Hypothese, dass beispielsweise der “Wahn” durchaus als sinnhafte Lebensäußerung verstanden werden kann, hat Richard P. Bentall in seinem Buch “Madness Explained” anhand zahlloser empirischer Studien erhärtet. Die psychiatrische Sichtweise, dass es sich bei den “psychischen Krankheiten” um Störungen ohne sozialen Sinn handele, findet keinen Fußhalt in der empirischen Forschung. Dies ist meines Erachtens auch nicht verwunderlich, denn sie beruht auf einem falschen Menschenbild. Wir müssen akzeptieren, dass die so genannten Symptome sinnstiftende Momente im Leben der so genannten “psychisch Kranken” darstellen. Wer das nicht begreift, wird diese Leute auch dann nicht in Ruhe lassen, wenn sie in Ruhe gelassen werden wollen. Und das ist schlimm, sehr schlimm. Fatal.
Gerade im Fall Mollath wird deutlich, dass es hier ums Ganze geht. Viele angebliche Psychiatriekritiker behaupten, dass Gustl Mollath Unrecht widerfahren sei, weil er sich offensichtlich bester psychischer Gesundheit erfreue. Dies bedeutet im Umkehrschluss aber zugleich, dass Menschen aus gutem Grund wegen schlechter psychischer Gesundheit im Maßregelvollzug festgehalten werden. Dabei wird offenbar übersehen, dass der Begriff der “psychischen Gesundheit” ebenso unangemessen ist wie der Begriff der “psychischen Krankheit”. Niemand entscheidet sich, beispielsweise, Krebs zu haben, und selbst wenn sich jemand dazu entschiede, würde er ihn deswegen nicht bekommen. Anders ist das bei den “psychischen Krankheiten”. Wer zum Psychiater geht, ganz gleich, in welchem Zustand, verlässt die Praxis nicht ohne eine psychiatrische Diagnose, im Regelfall jedenfalls, und es gibt keine Methode, mit der man objektiv feststellen könnte, ob diese Diagnose zutrifft.
Grundsätzlich aber geht es hier um weit mehr als nur um Psychiatriekritik. All diese Fragen kreisen doch letztendlich um die Grundfrage, in welcher Art von Gesellschaft wir eigentlich leben wollen: in einer freien oder in einer, in der über jedem Bürger das Damoklesschwert der fürsorglichen Bevormundung steht? Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der die Menschen die Verantwortung für ihr Leben und für die Veränderung ihrer Persönlichkeit selbst übernehmen? Oder wollen wir ein kostspieliges Heer von Menschen aufrecht erhalten, deren notwendig frustrierende Aufgabe darin besteht, andere zu verändern?
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