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“Psychisch krank”– eine freie Entscheidung?

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Manche Psychiatriekritiker bestreiten zwar, so wie ich, die Existenz “psychischer Krankheiten” – sie meinen aber, im Gegensatz zu mir, dass die Phänomene, die von der Psychiatrie als Symptome einer “psychischen Krankheit” missdeutet würden, ursächlich auf Traumata und psycho-soziale Faktoren zurückzuführen seien.

Auf der einen Seite steht also das biomedizinische Modell, auf der anderen Seite das psycho-sozial-traumatheoretische. Die einen glauben an Vererbung und Hirnstörungen, die anderen an sexuellen Missbrauch, körperliche Verwahrlosung, menschliche Verelendung unter misslichen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen.

In der Praxis haben beide Ursachen-Modelle in etwa dieselben Auswirkungen. Die einen sagen, biomedizinische Faktoren riefen die “psychische Krankheit” hervor. Die anderen sagen, für die als “psychisch krank” missdeuteten Phänomene seien Umweltfaktoren verantwortlich. In beiden Fällen unterliegt, so wird behauptet, der betroffene Mensch einem Mechanismus, der ihm keine Wahl lässt. Die Vertreter des biomedizinischen Modells unterstellen, dieser Mechanismus sei ein körperlicher. Die Anhänger des “sozialwissenschaftlichen” Modells meinen, dieser Mechanismus sei ein psychischer.

Beiden Sichtweisen ist gemeinsam, dass der Mensch keine Wahl hat. Er ist für sein Geschick nicht verantwortlich. Die einen zeigen die rätselhaften und mitunter störenden Phänomene, weil etwas in ihrem Gehirn oder in ihrem Körper im Allgemeinen nicht stimmt. Die anderen bringen sie hervor, weil sie in der Kindheit traumatisiert wurden oder weil sie unter verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen leben.

Die logische Schlussfolgerung: Da die Betroffenen ja nichts dafür können, muss nach beiden Modellen irgendwer sonst die Verantwortung für sie übernehmen, zumindest teilweise. Ob dies nun der Arzt ist, mit seinen Pillen, oder ob dies nun der Psychologe ist, mit seiner Psychotherapie, ganz gleich: Der Betroffene hat keine Wahl, er ist Opfer, entweder seiner Hirnerkrankung oder seine Lebensumstände. Diese Faktoren führen automatisch dazu, dass er aus der Rolle fällt und sich gegebenenfalls auch schwer danebenbenimmt.

Für beide Modelle gibt es nicht die Spur eines empirischen Beweises. Dies hindert deren Vertreter aber nicht, sie mit wahrem Glaubenseifer zu verteidigen. Es soll sogar vorkommen, dass sich Angehörige von diesem Virus anstecken lassen, obwohl sie es aus eigener Anschauung eigentlich besser wissen müssten. Die so genannten psychisch Kranken mögen sich in dieser oder jener Hinsicht zwar von den so genannten Normalen unterscheiden; aber in einer Hinsicht gibt es keinen Unterschied: Sie alle fällen tagtäglich eine Vielzahl von Entscheidungen, die den weiteren Verlauf ihres Lebens u. U. maßgeblich beeinflussen.

Natürlich kann jeder Aufsichtsrat werden oder ein “psychisch Kranker” auf Hartz-4. Selbstverständlich hängt die Wahrscheinlichkeit des einen oder anderen nicht nur von unseren Entscheidungen ab. Wer beispielsweise nicht aus der gehobenen Mittelschicht bzw. der Oberschicht stammt, hat nur geringe Chancen, Aufsichtsrat zu werden. Nicht alles, wozu wir uns entscheiden, wird uns auch gelingen, selbst wenn wir uns auf den Kopf stellen, es zu erreichen. Der Spross einer schwer reichen Familie dürfte es schwer haben, als “psychisch Kranker” auf Hartz-4 zu landen, auch wenn er sich noch so sehr bemüht.

Dies bedeutet aber nicht, dass unser Leben vorgezeichnet wäre. Dies wäre sogar dann nicht der Fall, so will mir scheinen, wenn unser Verhalten und Erleben auch von unseren Erbanlagen abhinge. Und dies ist, so will mir scheinen, ebenfalls nicht so, wenn uns verheerende Lebensverhältnisse belasten. Der Mensch ist kein Automat. Er hat einen freien Willen. Er kann wählen. Zwar hat er keinen oder nur geringen Einfluss auf die Zahl der Alternativen und der diesen zugeordneten Erfolgswahrscheinlichkeiten  - dennoch steht er seinem Leben als ein Wählender gegenüber und er ist dennoch kein Blatt im Wind.

Und so wird auch niemand “psychisch krank”, wie man Krebs oder ein Nierenleiden bekommt. Selbst wenn man raucht und säuft und dadurch zu körperlichen Erkrankungen beiträgt, lassen sich diese nicht mit “psychischen Krankheiten” vergleichen. Denn die so genannten psychischen Krankheiten beruhen ausschließlich auf Entscheidungen und diese Entscheidungen können rückgängig gemacht werden.

Es mag zwar sein, dass ein Mensch irgendwelchen seltsamen Phänomenen, wie beispielsweise einem Zwang, hilflos gegenübersteht. Aber er wird nur “zwangskrank”, wenn er sich dazu entscheidet, diese Diagnose zu akzeptieren und die Rolle des “Zwangskranken” zu übernehmen. Denn die Diagnose ist eine willkürliche Zuschreibung; es gibt nicht die Spur eines Beweises dafür, dass der Zwang durch einen körperlichen Prozess, auf den der einzelne keinen Einfluss hat, verursacht wird.

Selbstverständlich gibt es auch nicht die Spur eines Beweises dafür, dass der Zwang durch sexuellen Missbrauch beispielsweise oder durch miserable Lebensverhältnisse verursacht wurde. Er beruht auf einer Entscheidung. In aller Regel hat sich der Betroffene zum Zwang entschieden, weil ihm dies die beste unter allen möglichen Alternativen zu sein scheint. Diese Beurteilung der Alternativen mag falsch sein, es mag Möglichkeiten geben, die dem Betroffenen besser dienen würden, allein: Darauf kommt es nicht an.

Es kommt darauf an, wie wir uns entscheiden. Unter allen Umständen haben wir die Wahl, auch wenn sich uns nur mehr oder weniger schlechte Alternativen bieten. Und selbst wenn wir glauben, eine Maschine zu sein, so beruht dieser Glaube auf freier Entscheidung. Nichts zwingt uns dazu, dies zu glauben. Wir haben die Verantwortung. Wenn wir sie übernehmen, müssen wir uns allerdings, sofern wir logisch bleiben wollen, von allzu billigen, wenngleich scheinbar selbstdienlichen Entschuldigungen verabschieden.

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