Hilf-, ja segensreich könne sie sein, die Psychiatrie, glauben manche wohlmeinende, kritische Freunde dieser Disziplin, wenn nur der Zwang, der böse Zwang nicht wäre. Dann könne man dort, so heißt es, viel Gutes tun, vor allem mit den Mitteln der Psychotherapie, für die Traumatisierten, Mühseligen und Beladenen.
Im Augenblick noch schwebt über den Bürgern dieser Welt das Damoklesschwert der Psychiatrisierung. Jeder kann willkürlich hinter psychiatrischen Gittern eingesperrt und gegen seinen Willen mit Gewalt behandelt werden. Willkürlich sind Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung, weil es kein objektives Verfahren gibt, mit dem man das Vorliegen einer “psychischen Krankheit” feststellen oder die Gefährlichkeit eines Menschen für sich bzw. andere mit vertretbarer Trefferwahrscheinlichkeit prognostizieren könnte.
Diese Beliebigkeit bereitet auch den wohlmeinenden, kritischen Freunden der Psychiatrie Kopf- und Bauschmerzen; und so fordern sie eine Psychiatrie ohne Zwang. Dieser Forderung widerspricht allerdings die überwältigende Mehrheit der Psychiater, die glaubt, auf Zwang als “ultima ratio” nicht verzichten zu können. Zwar sei es immer besser, keinen Zwang anwenden zu müssen, und zumeist gelinge es ja auch, den Patienten von der Notwendigkeit einer Behandlung zu überzeugen, aber eine erzwungene Therapie sei vielfach besser als gar nichts zu tun.
Manche Patienten werden erpresst: Wenn man sich nicht freiwillig behandeln lasse, dann werde man sich die Zwangsbehandlung eben durch richterlichen Beschluss genehmigen lassen, wird gedroht. Eine freiwillige Behandlung könne unter Umständen schnell vorüber sein, aber bei einem Beschluss könne es lange, sehr lange dauern. Gut, wenn man die Medikamente nicht nehmen wolle, dann gäbe es eben keinen Ausgang, keinen Sport, keine Musiktherapie.
Dies zeigt, wie schmal der Grat zwischen direkter, handfester physischer Gewalt und so genannter Freiwilligkeit sein kann. Der Unterschied zwischen einer Spritze, die man sich unter Androhung von Gewalt gefallen lässt, und einer tatsächlich gewaltsam gesetzten Spritze scheint mir nicht übermäßig groß zu sein. Selbst wenn es keine ausgesprochene Androhung von Zwang gibt, so muss sich doch jeder Patient bewusst sein, dass er mit Gewalt zu rechnen hat.
Doch auch Patienten, die sich dies nicht bewusst machen, können sich vermutlich der Atmosphäre der Gewalt nicht entziehen, die insgesamt im psychiatrischen Sektor herrscht, nicht nur in den geschlossenen Abteilungen oder im Maßregelvollzug. Auch die private psychotherapeutische Praxis ist Teil eines Systems, in dem Menschen willkürlich ihrer Freiheit beraubt und gegen ihren Willen einer psychiatrischen Behandlung unterzogen werden können.
Und so ist die Atmosphäre in der Psychiatrie generell vergiftet. Wer im bequemen Ohrensessel im Behandlungszimmer seines Psychotherapeuten seine Gedanken schweifen lässt, darf nicht wähnen, er sei davor gefeit, sich wenig später hinter psychiatrischen Gittern an ein Bett gefesselt wiederzufinden. Wer dies für Panikmache hält, möge sich vor Augen führen, dass jährlich allein in Deutschland rund 200.000 Menschen zwangsuntergebracht werden. Und in dieser Zahl sind jene nicht enthalten, die sich freiwillig, aber unter Androhung von Gewalt in einer psychiatrischen Anstalt aufhalten.
Wie könnte eine Psychiatrie ohne Zwang aussehen? Es ist schwer, sich dies auch nur vorzustellen, denn im Augenblick ist die Psychiatrie bis in den letzten Winkel vom Geist des Zwangs beherrscht. Gewalt ist immer präsent, zumindest unausgesprochen. Auch wer seine Augen davor verschließt, ist in die Atmosphäre der Gewalt getaucht. Und diese Atmosphäre bestimmt sein Verhalten, ob ihm dies bewusst ist oder nicht.
Aus meiner Sicht ist es überaus zweifelhaft, ob es eine Psychiatrie ohne Zwang überhaupt geben kann. Die Diagnostik ist nicht valide, die Ursachen der angeblichen psychischen Krankheiten sind unbekannt, die Erfolge der “Behandlungen” sind überaus zweifelhaft. Unter diesen Bedingungen drängt sich der Verdacht auf, dass viele Patienten sich aus dem, häufig unbewussten, Motiv in die Psychiatrie begeben, dem Zwang zuvorzukommen.
Es dürfte wohl niemand bestreiten, dass sich Verkehrsteilnehmer anders verhalten würden, wenn sie nicht mit der Verkehrspolizei rechnen müssten. Viele halten sich, mehr schlecht als recht, an die Verkehrsregeln, weil sie ein Bußgeld vermeiden wollen. Selten aber ist dies der bewusste Grund für Konformität.
Und so ist die mögliche Zwangseinweisung in die Psychiatrie auch selten der bewusste Grund für die Konformität der Bürger. Dies bedeutet aber nicht, dass sie in der Verhaltensregulation keine Rolle spielte. Da psychiatrische Diagnosen und Prognosen willkürlich sind, gilt es, eine Vielzahl von Verhaltensmustern zu vermeiden. Sicher ist sicher.
Und so wirkt sich psychiatrischer Zwang natürlich disziplinierend auf die gesamte Gesellschaft aus. Unlängst ging durch die Medien, dass die Zahl der “psychisch Kranken” unter den Hartz-4-Empfängern beständig steige. Dies bedeutet selbstverständlich auch, dass die Wahrscheinlichkeit von Zwangsunterbringungen in diesem Kreis von Mitbürgern zunimmt. Wer entsprechende Leistungen erhält, so lautet die implizite Botschaft, muss sich also besonders vorsehen.
Viele begeben sich freiwillig in die Psychiatrie, weil sie dazu genötigt wurden. Arbeitgeber, Angehörige und andere gutwillige Menschen im Umfeld der Betroffenen haben ihnen dies mit sorgenvoller Miene geraten. Menschen mit Lebensproblemen fassen einen solchen Rat allerdings nur zu oft als Drohung auf. Im Klartext heißt der Rat nämlich unter Umständen: “Wenn du nicht zum Psychiater gehst, dann hast du dir die Konsequenzen selbst zuzuschreiben!”
Wer die Psychiatrie des Zwangs entkleiden wollte, müsste im Grunde unsere gesamte Gesellschaft verändern. Denn ohne Zwang könnte die Psychiatrie ihrer Aufgabe zur Entsorgung der Abweichenden kaum gerecht werden; auch wenn Zwang in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle nicht physisch ausgeübt wird. Fast immer genügt es, den Menschen die Instrumente zu zeigen, um sie zur Räson zu bringen.
Doch ohne diese Instrumente wäre die Psychiatrie ein zahnloser Hund. Niemand identifiziert sich mit einem Aggressor, dem erkennbar die Hände gebunden sind, und so würde eine Psychiatrie ohne Zwang auch die meisten ihrer glücklichen und zufriedenen Patienten einbüßen. Wenn Freuds Hypothese zutrifft, dass Menschen in Stunden der Not dazu neigen, sich einer strengen, aber beschützenden Autorität zu unterwerfen, dann kann eine ihrer Zuchtmittel beraubte Psychiatrie nicht florieren und wohl auch nicht überleben.
Manche Freud-Kritiker meinen, dass diese vom Begründer der Psychoanalyse als allgemeiner Wesenszug des Menschen gedeutete Neigung nur Ausdruck klassengesellschaftlicher Verhältnisse sei. Dies mag sein oder auch nicht. In dieser Kritik offenbart sich jedenfalls eine Hoffnung, die ich teile. Aus dieser Einschätzung leitet sich für mich die Konsequenz ab, dass die Überwindung der Zwangspsychiatrie und die Überwindung der Klassengesellschaft Hand in Hand gehen müssen.
Entgegen anders lautenden Gerüchten, gibt es die Psychiatrie als medizinische Spezialdisziplin erst sei Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre gegenwärtige Form entwickelte sich gemeinsam mit der modernen Demokratie. Ich wage die Hypothese, dass Psychiatrie und bürgerliche Demokratie Zwillingsschwestern sind. Die Psychiatrie ermöglicht es der bürgerliche Demokratie, Menschen die bürgerlichen Freiheitsrechte abzuerkennen (oder damit zu drohen), ohne dass dafür ein rechtfertigender, auf Fakten beruhender Grund vorliegen muss.
Die bürgerliche Demokratie ist auf diese Möglichkeit angewiesen, denn Ausbeutung und Entfremdung bringen Menschen hervor, die sie anders, im Rahmen der gegebenen Klassenverhältnisse, nicht in den Griff zu bekommen vermag. In prosperierenden und insgesamt friedlichen Gesellschaften kann man zwar die Zügel der Psychiatrie lockern, aber bürgerliche Demokratien sind nicht auf Dauer prosperierend und friedlich.
Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass man auf die Forderung nach Abschaffung der Zwangspsychiatrie verzichten solle, weil dies ja doch nichts bringe. Wer die bürgerliche Demokratie beim Wort und deren Slogan “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” ernst nimmt, der wird dies wohl fordern müssen, unabhängig von den Erfolgsaussichten.
Es ist unbedingt zu fordern, dass die Menschenrechte eingehalten werden, auch wenn die bürgerliche Gesellschaft dies aufgrund eines inneren Widerspruchs nicht in jedem Fall kann. Wenn sie die Menschenrechte aber nicht in jedem Fall einhalten kann, dann kann sie diese überhaupt nicht einhalten. Sie sind nämlich nicht teilbar. Dies transparent zu machen, ist eine vornehme Aufgabe der Psychiatriekritik.
Manche Hirnforscher haben sich zu der Forderung verstiegen, die Gefängnisse abzuschaffen. Da niemand einen freien Willen besitze und da demgemäß alle schuldunfähig seien, müssten Verbrecher ausnahmslos in der Psychiatrie einer Behandlung unterzogen werden. Wenn sie nicht dem Menschenbild des “freien und mündigen Bürgers” verpflichtet wäre, könnte die moderne Gesellschaft durchaus auf Polizei und Justiz verzichten, nicht aber auf eine Psychiatrie mit Zwangsmöglichkeit.
Manche Psychiatriekritiker lehnen zwar den Begriff der “psychischen Krankheit” und das “biomedizinische Krankheitsverständnis” ab, behaupten aber, die Phänomene, die von der Psychiatrie als Krankheitssymptome gedeutet würden, fänden ihre Ursache in psycho-sozialen Faktoren und Traumatisierungen. Ich warne vor einer solchen Sichtweise. Die Psychiatrie könnte nämlich das biomedizinische Modell aufgeben und sich diese Sichtweise zu eigen machen, ohne dass sie deswegen ihren Zwangscharakter verlieren müsste.
Es gibt, vor allem in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, eine wachsende Zahl von Psychiatern, die einen solchen “Paradigmenwechsel” fordern. Die Psychiatrie könnte ohne das biomedizinische Modell überleben, auch wenn sie sich dadurch eines bewährten Marketinginstruments berauben würde, dass allerdings überwiegend der Pharmaindustrie dient. In der Praxis ist es ja egal, ob jemand aufgrund von Hirnstörungen oder aufgrund von Traumatisierungen “erkrankt” ist.
Auch der Traumatisierte muss behandelt werden. Da die Traumatisierung seine “Krankheit” verursachte, da er also nicht verantwortlich ist, muss er u. U. sogar zwangsbehandelt werden. Man kann ihm auch Medikamente geben, ohne dass man sich auf das biomedizinische Modell berufen müsste. Entscheidend ist doch, so könnte es dann heißen, dass die Medikamente Linderung verschaffen.
Eine konsequente Psychiatriekritik darf sich auf einen derartigen “Paradigmenwechsel” – lies: Kuhhandel – nicht einlassen. Es gilt, die bürgerliche Gesellschaft unablässig an ihr Bekenntnis zum freien und mündigen Bürger zu erinnern. Kein Erwachsener darf als unmündig betrachtet werden, es sei denn, er sei nachweislich aufgrund eines Hirnschadens nicht in der Lage dazu, Verantwortung für sich zu übernehmen.
Psychiatrie ohne Zwang? Sie müsste auf echter Freiwilligkeit beruhen. Diese kann sich nur entfalten, wenn alle Patienten über den Stand der Erkenntnis zutreffend aufgeklärt werden. Wer wird sich behandeln lassen, wenn er weiß, dass psychiatrische Medikamente im Allgemeinen mehr schaden als nutzen, wenn er weiß, dass Psychotherapien nicht effektiver sind als Placebos, wenn er weiß, dass psychiatrische Diagnosen aus der Luft gegriffen sind, wenn er weiß, dass psychiatrische Prognosen nicht besser sind als die Glaskugelschau, wenn er weiß, dass die psychiatrische Forschung und Praxis hochgradig von der Pharmaindustrie korrumpiert wurden und wenn er zudem noch all dies wüsste, was wir heute nur ahnen können?
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