Das National Institute of Mental Health (NIMH) ist die größte Forschungseinrichtung für “psychische Krankheiten”, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern weltweit. Es ist Teil der “National Institutes of Health” (NIH), einer US-amerikanischen Behörde, die dem Gesundheitsministerium untersteht.
Seit 2002 ist Thomas R. Insel der Direktor des NIMH. Er ist Neurowissenschaftler und Psychiater. Seine Krawatte sitzt stets tadellos. Er ist ein Karriere-Wissenschaftler, der mit Preisen überhäuft wurde.
1971 enthüllte der amerikanische Journalist (National Geographic Magazine) Robert C. O’Brien, dass eine Gruppe von Ratten mit menschenähnlicher Intelligenz aus den Forschungslaboren des NIMH entkommen konnte. Diese Tiere haben sich inzwischen weltweit verbreitet und sie gelangten als blinde Passagiere mit Schiffen und Flugzeugen auch nach Deutschland.
Als kluge Ratten integrieren sie sich sofort in ihre Gastländer und lernen die Sprache der Einheimischen, die sie dann auch zur Verständigung untereinander benutzen, um nicht aufzufallen. Obwohl sie schon lange aus der Gefangenschaft entkommen sind, geben sie ihre feindselige Einstellung gegenüber dem NIMH im Besonderen und der Psychiatrie im Allgemeinen von Generation zu Generation weiter.
Unlängst wurde ich, als ich eine Portion Sauerkraut aus dem Fass im Keller holte, unfreiwillig Ohrenzeuge eines Gesprächs unter NIMH-Ratten, das mit zarten Untertönen einer milden Ironie begann und sich im weiteren Verlauf über diverse Zwischenstufen immer gröberen Spotts zu schrillem Hohn steigerte.
Wieder in meiner Wohnung angelangt, führte mich mein erster Weg nicht in die Küche, wo ich eigentlich hingehört hätte, sondern in mein Arbeitszimmer an den Computer. Ich gab einige der Schlüsselwörter, die ich aufgeschnappt hatte, ins Suchfeld bei Google ein.
An erster Stelle ihrer Liste präsentierte mir die Suchmaschine ein Dokument mit dem Titel “Mental Illness Defined as Disruption in Neural Circuits“. Der Autor war jener Mensch, bei dem die dissidenten NIMH-Ratten stets am lautesten gekichert hatten, wenn sie seinen Namen erwähnten: Thomas R. Insel.
Kurz zusammengefasst schreibt Insel in diesem Artikel Folgendes:
- Es wurde zu einem NIMH-Mantra, psychische Störungen als Gehirnstörungen zu beschreiben.
- Psychische Störungen unterscheiden sich aber von den klassischen neurologischen Störungen. Neurologische Störungen beruhen auf fokalen Läsionen (Schädigungen, die von einem bestimmten Zielpunkt ausgehen).
- Psychische Krankheiten sind scheinbar Störungen von Schaltkreisen im Gehirn.
- Die Störungen der Schaltkreise entstehen im Lauf der Hirnentwicklung eines Menschen.
- Die moderne Hirnforschung macht es möglich, diese gestörten Schaltkreise zu identifizieren.
- Trotz ihrer atemberaubenden, explosionsartigen Entwicklung steht die neurowissenschaftliche Forschung allerdings noch ganz am Anfang.
- Wir wissen noch nicht einmal, was ein Schaltkreis ist. Wo beginnt er? Wo endet er? Wie hängt das Muster der Aktivität, das wir auf den Brainscans sehen, mit dem zusammen, was tatsächlich im Gehirn geschieht? In welche Richtung fließt die Information?
- Die Metapher “Schaltkreis” könnte sogar völlig unzulänglich sein, um zu beschreiben, wie mentale Vorgänge aus neuronalen Abläufen hervorgehen.
- “While the neuroscience discoveries are coming fast and furious, one thing we can say already is that earlier notions of mental disorders as chemical imbalances or as social constructs are beginning to look antiquated. Much of what we are learning about the neural basis of mental illness is not yet ready for the clinic, but there can be little doubt that clinical neuroscience will soon be helping people with mental disorders to recover.”
Die Sichtweisen, dass psychische Störungen chemische Ungleichgewichtszustände im Gehirn oder soziale Konstrukte seien, beginnen, antiquiert zu erscheinen. Sonst ist nichts sicher, dies aber ist gewiss, sagt der Direktor des NIMH.
Erst jetzt, nachdem ich dies gelesen hatte, steckte mich die Heiterkeit der Ratten, die mich zuvor befremdet hatte, mit unwiderstehlicher Virulenz an. Ich brauchte mehrere Papiertaschentücher, um den Bildschirm wieder klar zu bekommen.
So ist das also: Die bisherigen biologischen Theorien psychischer Störungen sind tot, sagt der Chef des NIMH. Die “psychischen Störungen” sind auch keine sozialen Konstrukte. Nein. Die Schaltkreise sind schuld. Wir wissen zwar nicht, was die Schaltkreise sind. Aber schon bald wird die klinische Neurowissenschaft Menschen mit “psychischen Störungen” helfen zu genesen.
Schon bald? Kenner der Psychiatriegeschichte wissen, dass dieses “Schon bald!” seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wie Bierschaum auf einem Gebräu aus schierer Unwissenheit schwimmt.
Ach ja, ich vergaß: Was sagt der Direktor denn zur Genetik? Wir hören doch immer wieder von Psychiatern, dass die meisten “psychischen Störungen” auf einer genetischen Grundlage beruhten. Die NIMH-Einschätzung lautet:
With new insights come new challenges. It is becoming increasingly clear that the genetic underpinnings of mental disorders are highly complex, likely involving the interaction between many risk genes. An enormous variety of experiences and environmental factors may influence development, and the ability of these factors to confer risk may change across the lifespan. It is challenging to demonstrate how interactions between genes, environment, experiences, and development contribute to the formation and function of neural circuits. We still know little about how information is stored in neural circuits. In addition, the very definition of mental disorders as complex clusters of behaviors makes it difficult to deconstruct behavioral components and link them to underlying neural circuitry.
Das Zusammenwirken zwischen Genen und Umwelt und Erfahrungen ist hoch komplex und wir wissen so gut wie gar nichts darüber. Die Schaltkreise sind zwar für psychische Störungen verantwortlich, aber wie dort Informationen gespeichert werden, ist unbekannt. “Zudem macht es allein die Definition von psychischen Störungen als komplexen Mustern von Verhalten schwierig, Verhaltenskomponenten zu dekonstruieren und sie mit den zugrunde liegenden Schaltkreisen zu verbinden.”
Und so rate ich jedem Menschen, der Gefahr läuft, als psychisch gestört diagnostiziert zu werden, seinem Psychiater Folgendes mitzuteilen: “Die Vorstellung, dass psychische Störungen auf chemischen Ungleichgewichten im Gehirn beruhten, die eine genetische Grundlage hätten, ist antiquiert. Über Versuche, nun alternativ “gestörte Schaltkreise” ins Spiel zu bringen, machten sich bereits weltweit menschenähnlich intelligente Ratten lustig.” Dies wird den Psychiater fraglos beeindrucken. Wer meinem Rat folgen will, sollte zuvor aber eine Patientenverfügung ausfertigen. Es könnte sein, dass der Psychiater diese Art des Humors nicht versteht.
Psychiater fordern von ihren Patienten Krankheitseinsicht und beklagen sich darüber, wenn diese nicht vorliegt. Sie meinen dann meistens, dass mangelnde Krankheitseinsicht ein Symptom der Krankheit sei. Sie spekulieren sogar darüber, welche Hirndefekte dafür verantwortlich seien (demnächst kommen die entwicklungsbedingt gestörten Schaltkreise dran).
Einsicht bedeutet, Eigenschaften und Beziehungen in einem Ausschnitt der Wirklichkeit hinreichend genau erkannt, geistig erfasst und sachlich richtig begriffen zu haben (laut Wikipedia). Psychiater fordern also von ihren Patienten etwas, was sie sich selbst nicht zuschreiben können.
Der Chef der weltweit wichtigsten und einflussreichsten psychiatrischen Forschungseinrichtung jedenfalls bekennt freimütig, dass die Psychiatrie die entscheidende Frage dieser Zunft, wie nämlich Prozesse im Nervensystem mit den so genannten psychischen Störungen zusammenhängen, nicht zu beantworten vermag.
“Much of what we are learning about the neural basis of mental illness is not yet ready for the clinic”, beklagt Thomas Insel. Womöglich wäre er besser beraten, sich zunächst mit der “neural basis of free will” auseinanderzusetzen. Hierzu könnte man ihm das gleichnamige Buch des Neurowissenschaftlers Peter Ulric Tse empfehlen. Die neuronale Basis des freiwilligen Entschlusses zur Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken” scheint mir jedenfalls nicht weniger interessant zu sein als die neuronale Basis dieses Rollenspiels. Doch all dies ist Zukunftsmusik. Die Neurowissenschaften sind eine verhältnismäßig junge Wissenschaft, die allerdings bereits die Grundlage für weit schweifende Spekulationen auszuarbeiten vermochte. Bis sie Wissen zu begründen vermag, werden allerdings noch einige Jahre ins Land gehen.
Viele Psychiater machen mangelnde Krankheitseinsicht dafür verantwortlich, dass Patienten sich weigern, psychiatrische Medikamente einzunehmen. Auf die Idee, die Verweigerer könnten berechtigterweise erkannt haben, dass diese Medikamente mehr schaden als nutzen, kommen sie nicht. Dabei ist dies nachweisbar nachzulesen – beispielsweise in Robert Whitakers Buch “Anatomy of an Epidemic” und in Peter Gøtzsches Arbeit “Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare”.
Psychiater haben also definitiv keine Krankheitseinsicht. Daher können sie auch gar nicht beurteilen, ob eine solche bei ihren Patienten vorliegt. Manche Psychiater wissen, dass sie keine Krankheitseinsicht haben. Viele aber nicht. Manches von dem, was die vielen tun oder nicht tun, wird so verständlich.
Nun, das war’s für heute. Ich habe noch im Keller zu tun.
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