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Die psychiatrische Diagnostik

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Etiketten

Kritiker meinen, psychiatrische Diagnosen seien soziale Etiketten unter dem Tarnmäntelchen medizinischer Befunde. Besonders scharfe Kritiker behaupten sogar, sie seien Instrumente zur Ausgrenzung der Missliebigen. Die schärfsten Kritiker vergleichen sie mit dem Juden-Stern. 1969 gab der amerikanische Psychiatrieprofessor Thomas Szasz der Zeitschrift „The New Physician“ ein Interview. Ein kurzer Abschnitt daraus wurde seither unzählige Male zitiert; er wurde zu einem Motto der psychiatriekritischen Bewegung der Psychiatrieerfahrenen.

„‘Schizophrenie‘ ist ein strategisches Etikett, wie es ‚Jude‘ in Nazi-Deutschland war. Wenn man Menschen aus der sozialen Ordnung ausgrenzen will, muss man dies vor anderen, aber insbesondere vor einem selbst rechtfertigen. Also entwirft man eine rechtfertigende Redewendung. Dies ist der Punkt, um den es bei all den hässlichen psychiatrischen Vokabeln geht: Sie sind rechtfertigende Redewendungen, eine etikettierende Verpackung für ‚Müll‘; sie bedeuten ‚nimm ihn weg‘, ‚schaff ihn mir aus den Augen‘ etc. Dies bedeutete das Wort ‘Jude’ in Nazi-Deutschland, gemeint war keine Person mit einer bestimmten religiösen Überzeugung. Es bedeutete ‚Ungeziefer‘, ‚vergas es‘. Ich fürchte, dass ‚schizophren‘ und ‚sozial kranke Persönlichkeit‘ und viele andere psychiatrisch diagnostische Fachbegriffe genau den gleichen Sachverhalt bezeichnen; sie bedeuten ‚menschlicher Abfall‘, ‚nimm ihn weg‘, ‚schaff ihn mir aus den Augen‘” (9)

Dies ist Klartext. Szasz charakterisiert eine reale pragmatische Dimension der psychiatrischen Diagnosen, die nämlich auch Markierungen auf einer Skala des Ausmaßes von Ausgrenzung sind. Krass formuliert: Der angeblich gefährliche Irre landet hinter psychiatrischen Gittern, wohingegen die durch Missbrauch Traumatisierten „nur“ in einem psychotherapeutischen „Schonraum“ entsorgt werden. Es geht um Macht. Genauer: um Definitionsmacht, die Gewalt legitimiert und mit ethischer Blindheit verbunden ist.

Man mag den Nazi-Vergleich für unpassend, übertrieben, ja geschmacklos halten; unbestreitbar ist, dass psychiatrische Diagnosen auch die Funktion strategischer Etiketten haben. Sie können sich verhängnisvoll auswirken, denn sie können einen Menschen sozial stigmatisieren, seine Existenz gefährden und sein Selbstwertgefühl zerstören. Ist dies eine unvermeidliche Gefahr, weil psychiatrische Diagnosen für die Behandlung unbedingt erforderlich sind? Man mag darüber streiten, ob eine Diagnose für eine Erfolg versprechende Behandlung notwendig sei; sie könnte es allenfalls sein, wenn sie valide wäre. Caplan & Cosgrove schreiben (10):

“… any professional who applies a label that has not been validated and then bases treatment on that label is, in essence, submitting the patient to an experimental treatment without their knowledge and consent.”

Wenn eine Therapie auf einer nicht validierten Diagnose fußt, dann wird der Patient ohne sein Wissen und Einverständnis mit einem experimentellen Verfahren behandelt. Wie noch zu zeigen sein wird, ist keine der psychiatrischen Diagnosen valide, was den Patienten allerdings in aller Regel verschwiegen wird. Experimentell ist das Verfahren in diesen Fällen, weil die Wirkfaktoren von Therapien logischerweise ohne validierte Diagnostik nicht bereits erforscht worden sein können. Schließlich weiß man ja nicht, wodurch das Leiden der Patienten tatsächlich hervorgerufen wurde, auf was also die Therapie, sofern sie überhaupt effektiv ist, einwirkt.

Es kann sich also bei dieser Therapie nicht um ein erprobtes Verfahren handeln. Es ist experimentell sogar in der primitivsten Form; es handelt sich um de facto eine explorative Maßnahme zum Generieren und Sammeln von Hypothesen. Psychodiagnostik ist, wie der Name schon sagt, eine Diagnostik der Psyche (was auch immer das sein mag). Die Psyche ist offenbar störanfällig und für jede Störung gibt es eine Schublade mit einem Etikett. Um zu erfahren, was sich hinter diesen Etiketten verbirgt, muss man in die gängigen psychiatrischen Diagnose-Handbücher schauen. Diese sind Produkte psychiatrischer Wissenschaft und so sollte man auch wissenschaftliche Kriterien erwarten. Ein Leser mit dieser Erwartung sieht sich jedoch rasch enttäuscht. Die so genannten Syndrome beruhen weitgehend auf wertenden Beobachtungen des Verhaltens (zu dem auch die verbalen Äußerungen zählen). Aus diesen wertenden Beobachtungen wird auf eine zugrunde liegende psychische Störung bzw. psychische Krankheit geschlossen.

In die Störungstheorie fließen zahllose Zusatzannahmen ein, die weder durch die empirische Forschung, noch durch die wertenden Beobachtungen des Verhaltens der Diagnostizierten abgesichert sind. Es handelt sich um Unterstellungen. Diese sind – pragmatisch betrachtet – für das weitere Vorgehen unerheblich. Sie dienen vor allem der Rechtfertigung zukünftiger Maßnahmen. Zu diesen Unterstellungen zählen Spekulationen über die “biologische” Basis der “Krankheiten”. Das einzige, was praktisch zählt, sind die Verhaltensbeobachtungen. Verändert sich das Verhalten in die gewünschte Richtung? Fühlt sich der Betroffene z. B. noch von Außerirdischen bedroht und traut er sich deswegen nicht aus dem Haus? Leidet er immer noch so stark unter abgrundtiefer, verzweifelter Traurigkeit, deren Ursprung er nicht versteht – oder kann er nun hin und wieder auch einmal lachen?

Dies sind die Fragen, an denen sich der Therapeut orientieren muss, und, wichtiger noch, dies sind die Fragen, die den Klienten oder Patienten interessieren und betreffen. Ob ihn die Psychiater oder Psychotherapeuten als depressiv oder schizophren oder sonstwie diagnostizieren, könnte ihm im Prinzip gleichgültig sein, also am Arsch vorbeigehen, wenn diese Diagnosen nicht schwerwiegende Konsequenzen für ihn haben könnten, nämlich

  • soziale Stigmatisierung,
  • Existenzgefährdung und
  • Zerstörung des Selbstwertgefühls.

Psychiatrische Diagnosen sind somit nicht nur entbehrlich, sie sind sogar kontraproduktiv, weil kränkend und mitunter tödlich.

Validität

Kritische Stimmen

Der Direktor des “National Institute of Mental Health” (NIMH), Thomas Insel bezeichnete unlängst in seinem “Director’s Blog” das DSM als nicht valide. Dies schlug in den USA wie eine Bombe ein; das NIMH untersteht dem US-Gesundheitsministerium und ist, mit einem jährlichen Etat von rund 1,5 Milliarden Dollar, das größte psychiatrische Forschungszentrum der Welt. “Nicht valide” bedeutet: Das DSM diagnostiziert nicht, was es zu diagnostizieren vorgibt, nämlich “psychische Krankheiten”. Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), die so genannte Psychiater-Bibel, ist das offizielle Diagnose-Schema der American Psychiatric Association (APA).

In einem Interview vertraute Insel dem Autor und Psychotherapeuten Gary Greenberg an, dass psychiatrische Diagnosen nicht auf reale Phänomene verweisen. Es handele sich vielmehr um Konstrukte. Schizophrenie und Depression besäßen keine Realität. “… we might have to stop using terms like depression and schizophrenia, because they are getting in our way, confusing things (5).”

Der Pharma-Manager und Neurowissenschaftler H. Christian Fibiger betonte bereits im letzten Jahr in einer Fachzeitschrift (2), dass sich die Pharmaindustrie weitgehend aus der Psychopharmakaforschung zurückgezogen habe, weil die auf das DSM gestützte psychiatrische Forschung keine Anhaltspunkte zur Entwicklung zulassungsfähiger Medikamente mit eigenständigem Wirkmechanismus biete. Die “Division of Clinical Psychology” der “British Psychological Society”, die 50.000 Psychologen vertritt, plädiert nunmehr dafür, das DSM sowie den psychiatrischen Teil der ICD zu verwerfen (Position Statement on Classification of Behaviour in Relation to Functional Psychological Diagnoses).

Begründung: Das diesen Systemen zugrunde liegende medizinische Krankheitsmodell sei ungeeignet. Die Daten zeigten vielmehr, dass psycho-soziale Faktoren für seelische Probleme wesentlich bedeutsamer seien. Der heftige Streit um das DSM-5 – die neueste Variante dieses Handbuchs (14) – offenbart eine tiefe Krise der Psychiatrie, denn die Validität der Diagnosen ist keine rein akademische Frage. Wie kann man von einem Patienten “Krankheitseinsicht” erwarten, wenn man nicht in der Lage ist, diese Krankheiten valide zu diagnostizieren?

Mit welchen Recht werden eigentlich Menschen zwangsbehandelt, wenn das Gesetz dies nur bei “psychisch Kranken” mit Neigung zur Selbst- bzw. Fremdgefährdung zulässt, die Psychiatrie aber die Validität der entsprechenden Diagnosen nicht zu gewährleisten vermag? Das sind keine theoretischen, das sind eminent praktische und ethische Fragen.

Stand der Wissenschaft

Hier ist zu beachten, dass Insels oben erwähntes Statement keineswegs eine Meinung unter Meinungen darstellt, sondern dass sich sein Urteil auf den Stand der empirischen Forschung zu dieser Frage stützen kann. Trotz jahrzehntelanger Bemühungen scheiterte die psychiatrische Wissenschaft bisher bei ihrem Versuch, einen Zusammenhang zwischen psychiatrischen Diagnosen, Hirnprozessen und / oder Erbanlagen nachzuweisen. Wissenschaftler des psychiatrischen Instituts der Universität Basel und des Instituts für Psychose-Studien des King’s College in London stellen beispielsweise unmissverständlich fest:

“More than three decades after Johnstone’s first computerised axial tomography of the brain of individuals with schizophrenia, no consistent or reliable anatomical or functional alterations have been univocally associated with any mental disorder and no neurobiological alterations have been ultimately confirmed in psychiatric neuroimaging.” (1)

Nach mehr als drei Jahrzehnten der Forschung mit bildgebenden Verfahren konnten in den Gehirnen der so genannten psychisch Kranken keine konsistenten oder reliablen, funktionellen oder anatomischen Abweichungen vom Normalen entdeckt werden. Auch der namhafte dänische Mediziner Peter Gøtzsche schreibt, es sei bisher noch nicht dokumentiert worden, dass irgendeine der so genannten psychischen Krankheiten durch einen biochemischen Defekt verursacht werde; es gebe auch keinen biologischen Test, der uns verraten könnte, ob jemand eine solche Krankheit habe oder nicht (11). Gøtzsche ist Leiter des “Nordic Cochrane Center” und Mitbegründer der Cochrane Collaboration, die weltweit zu den wichtigsten gemeinnützigen Organisationen zur medizinischen Qualitätssicherung zählt. Genauso wie im Falle Insels, kann man das Urteil dieses Mannes nicht so leicht vom Tisch wischen.

Der Psychologe und Psychotherapeut Jay Joseph zeigt in einer Dokumentation des Forschungsstandes zur Erblichkeit der so genannten psychischen Krankheiten, dass bisher noch bei keiner dieser Störungen eine genetische Grundlage methodisch einwandfrei nachgewiesen werden konnte (3, 14).

Die psychiatrische Diagnostik beruht also definitiv nicht auf einer soliden naturwissenschaftlichen Grundlage und nicht auf nachprüfbaren Fakten, sondern einzig und allein auf dem subjektiven Urteil des jeweiligen Diagnostikers. Diese Diagnosen sind also nicht wissenschaftlich fundiert, sondern Meinungen und sonst nichts. Kein Patient und auch kein Angehöriger eines Patienten sollte ihnen ein größeres Gewicht beimessen. Dies gilt natürlich auch für Richter, die darüber zu entscheiden haben, ob ein Mensch wegen einer angeblichen psychischen Krankheit und Fremd- bzw. Selbstgefährdung seiner Freiheit beraubt und zwangsbehandelt werden soll.

1973 veröffentlichte der Psychologe David Rosenhan einen Aufsatz zu einem bemerkenswerten Experiment: Er schleuste Pseudopatienten in psychiatrische Kliniken ein. Die Ärzte durchschauten den Schwindel nicht. Später gab er bekannt, dass er Pseudopatienten in psychiatrische Anstalten einschleusen werde, schickte in Wirklichkeit aber keine. Dennoch glaubten viele Ärzte, Pseudopatienten entlarvt zu haben (4). Rosenhan wurde von der psychiatrischen Zunft heftig kritisiert, seiner Studie wurden methodische Mängel vorgeworfen. Beim gegenwärtigen Stand der Erkenntnis können die Ergebnisse des Rosenhan-Experiments allerdings kaum erstaunen: Psychiatrische Diagnosen sind willkürlich. Was sonst also hätte bei so einem Experiment herauskommen können?

Garbage in – garbage out

NIMH-Direktor Insel möchte das auf Konsens beruhende psychiatrische Klassifikationssystem DSM durch einen hirnphysiologisch und humangenetisch fundierten Katalog psychischer Störungen ersetzen. Dessen ungeachtet räumt er in seinem, bereits erwähnten, Blog-Eintrag auch ein, dass die entsprechenden Daten noch nicht vorliegen. Es gibt keine verlässlichen Biomarker für die so genannten psychischen Krankheiten. Keine dieser angeblichen Krankheiten korreliert signifikant und replizierbar mit Hirnprozessen. Assoziationen zwischen Genen und Störungen ließen sich bisher empirisch noch nicht erhärten.

Aus meiner Sicht ist es überaus fraglich, ob dem ehrgeizigen Projekt Insels Erfolg beschieden sein wird. Immerhin kann man mit den Mitteln der Hypnose auch bei Menschen mit intakten Gehirnen sämtliche “Symptome” psychischer Krankheiten hervorrufen: Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Zwangshandlungen, Hyperaktivität; nur die Fantasie setzt da die Grenzen. Man braucht also kein krankes Hirn, um verrückt zu sein. Mir will scheinen, dass “psychische Störungen” nach dem “Garbage-in-garbage-out-Prinzip” entstehen.

Wir kennen dieses Prinzip aus der Welt der Computer. Wenn man einen Rechner, der an sich völlig in Ordnung und mit hervorragenden Programmen ausgerüstet ist, mit Datenmüll füttert, dann wird der Output trotzdem irre sein. Dies dürfte bei Menschen nicht anders funktionieren. Wer in einer verwirrenden und überfordernden Lebenssituation steckt, handelt mitunter auf den ersten Blick in rational nicht nachvollziehbarer Weise. Schaut man aber genauer hin, so drängt sich häufig der Verdacht auf, dass dieses angeblich irrationale Verhalten – aus der subjektiven Sicht des Betroffenen – die beste der Alternativen ist, die sich dem angeblich “psychisch Kranken” unter den jeweils gegebenen Bedingungen bieten. Das Hirn arbeitet also einwandfrei; dass “Garbage” dabei herauskommt,  liegt an den Verhältnissen.

Zwar könnte sich der betroffene Mensch auch dagegen entscheiden, die verlockende Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Doch warum sollte er, wenn ihm dies die beste aller real vorhandenen Wahlmöglichkeiten zu sein scheint? Die meisten Menschen gehen den Weg des geringsten Widerstandes.

Das ist also ganz normal. Die Zahl der Experten, die dies erkennen und Konsequenzen ziehen wollen, steigt beständig. Das medizinische Modell der “psychischen Krankheiten” wird heute in einschlägigen Blogs und Foren des Internets weltweit heftig diskutiert und immer häufiger fällt das Urteil vernichtend aus.

Selbstverständlich leiden nicht alle Menschen, die als “psychisch krank” diagnostiziert werden, unter ernsthaften Lebensproblemen, mit denen sie nicht anders zurechtkommen, als sich die Rolle des “psychisch Kranken” anzuverwandeln. Viele sind einfach nur Opfer von Willkür, Denunziation und schierer Niedertracht. Sie wurden angeschwärzt von Leuten mit gutem Draht zu willigen Psychiatern und Richtern.

Aber es gibt natürlich auch Leute in schwierigen Lebenssituationen, die sie aus eigener Kraft nicht zu meistern vermögen, warum auch immer. Wenn sie Hilfe benötigen und wollen, dann sollte man sie ihnen auch gewähren. Dennoch gibt es keinen Grund, sie als Voraussetzung dafür mit einer psychiatrischen Diagnose fürs Leben zu zeichnen. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass Menschen mit seelischen Problemen, die staatlich oder von den Kassen finanzierte Hilfe brauchen, sich als psychisch krank stigmatisieren lassen müssen.

Psychiatrische Diagnosen als Waffen

Rosenkrieg

Psychodiagnosen werden nicht selten als Munition im Rosenkrieg eingesetzt. Zwei Partner waren einige Zeit glücklich miteinander, sie freuten sich, den passenden Lebensgefährten gefunden zu haben – doch dann kriselt es, dann kracht es, dann kommt es zu Zerwürfnissen und schließlich sind die Risse nicht mehr zu kitten. Ihren Freundinnen und ihren Freunden, aber noch häufiger sich selbst hatten sie Geschichten erzählt, wie toll sie mit ihrem Partner harmonierten, welche schönen Erlebnisse sie zusammen hatten und wie gut sie es doch getroffen hätten. Nun stimmen diese Geschichten plötzlich nicht mehr. Sie widersprechen den tatsächlichen Ereignissen, dem eigenen Verhalten und dem des Partners.

In einem Internet-Forum beschreibt eine Diskussionsteilnehmerin einen Mann, der beständig auf der Jagd nach Frauen sei. Immer wieder aufs Neue versuche er, seine Auserwählten zu erobern und sie glauben zu machen, sie seien die Einzigen für ihn. Er habe aber stets mehrere Partnerschaften zur gleichen Zeit. Er suche gezielt nach den Schwachstellen dieser Frauen, nutze ihre Einsamkeit aus. Für ihn bestünde das größte Glück in der Gewissheit, dass ihn diese Frauen auch nach einer Trennung für immer in ihren Herzen tragen würden. Nach dieser Schilderung schreibt sie:

„Mein Therapeut hat gesagt, ich soll mal im Netz suchen, denn ein Krankheitsbild gibt es noch nicht dafür.“

Im Verlauf der Diskussion, die sich nun entspinnt, wird deutlich, dass die Ratsuchende ebenfalls ein „Opfer“ des Schürzenjägers war, den sie beschrieben hatte. Sie sagt, dass sie geheilt werden wolle; jeder weitere Kontakt mit diesem Mann sei ihr Untergang. „Vielleicht könnte ich leichter damit umgehen, wenn ich es als Krankheit abstempele“, räumt sie in Bezug auf das Verhalten des vergötterten und zugleich gehassten Mannes schließlich ein. Sie würde gerne wissen, was in einem solchen Menschen vor sich gehe, um es besser verarbeiten zu können. „Es gäbe nichts Schöneres“, seufzt sie, „als ihn an meiner Seite zu haben.“ Die psychiatrische Diagnose hat hier also zwei Funktionen für diese Frau:

  1. Sie soll als Muster dienen, um eine Lebens- und Liebesgeschichte, die nicht mehr stimmig ist, neu zu formulieren.
  2. Und sie soll als Grundlage für eine neue, erfolgreichere Strategie der Bewältigung von Partnerschaftsproblemen fungieren. Die Diskutanten bezweifeln allerdings, dass es eine gute Idee sei, sich mit diesem Problem mittels einer Psychodiagnose auseinanderzusetzen. Der Moderator der Gruppe schreibt:

    “Wenn man jemanden wegen einer Krankheit verlässt, dann kann man sich sagen, dass man für das Scheitern der Beziehung nicht verantwortlich war. Schließlich hat der Partner aufgrund krankhafter Motive die Beziehung zerstört und nicht etwa aus Gründen, die man eventuell selbst provoziert hat.”

    Die „Psychodiagnose“ erfüllt hier also offenbar noch eine dritte Funktion:

  3. Sie schützt das Selbstwertgefühl bei einem etwaigen Scheitern der Bewältigungsstrategie von Beziehungsproblemen.

Heimliche Ziele

Diese Ziele von psychiatrischen Diagnosen sind natürlich nur die „heimlichen“, die manche ihrer “Konsumenten” damit verbinden, denn die offiziellen Aufgaben psychiatrischer Diagnostik werden anders bestimmt. In den Lehrbüchern der Psychiatrie werden u. a. folgende Funktionen genannt:

  • Verringerung der Komplexität der klinischen Phänomene
  • Erleichterung der Kommunikation zwischen Ärzten und Behandlern und Patienten
  • Hilfe bei der Prognose von Störungen
  • Einleitung einer angemessenen Behandlung
  • Unterstützung bei der Suche nach Ursachen.

Meine These hierzu lautet, dass die heimlichen Funktionen der Psychodiagnostik eine ebenso große, wenn nicht eine noch größere Bedeutung für das Leben der Betroffenen haben als die offiziellen. Dabei beschränken sich die heimlichen keineswegs auf die drei genannten. Ein weitere Funktion kann beispielsweise darin bestehen, einen Menschen, der uns gekränkt hat, hinter einer Fassade von Mitleid und Verständnis abzuwerten. Schließlich ist ein „psychisch Kranker“ ja nicht nur ein „ gewöhnlicher Kranker“, der Mitleid verdient, sondern auch ein Normverletzer, der moralischen Kriterien nicht genügt und dessen Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist – also ein Gestörter, Verrückter, Durchgeknallter, ein armes Würstchen.

„Heimliche Ziele“ verfolgen, oft unbewusst oder unreflektiert, nicht nur „Laien-Diagnostiker”, sondern auch Profis. Diagnosen eignen sich schließlich hervorragend, um beispielsweise das Scheitern einer „Therapie“ mit der „schlechten Prognose“ eines Patienten zu erklären, um so das eigene professionelle Selbstwertgefühl zu schützen. Man kann auch Patienten, denen recht eigentlich nichts fehlt, sondern die nur mit ihrem Dasein unzufrieden sind, mit einer Diagnose etikettieren, damit deren “Behandlung” von der Kasse bezahlt wird. Neben den individuellen “heimlichen Zielen” der psychiatrischen Diagnostik finden sich natürlich auch politische. Im Zusammenspiel mit einer angeblichen Fremd- oder Selbstgefährdung können Psychodiagnosen beispielsweise als Rechtfertigung dafür dienen, Menschen einer Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung zu unterwerfen.

Derartige Maßnahmen, die durch die Gesetze für psychisch Kranke gedeckt sind, wären ohne psychiatrische Diagnosen nicht rechtmäßig, sondern müssten als Freiheitsberaubung, Folter und Gehirnwäsche bezeichnet werden. Indem man Menschen, die von gesellschaftlichen Normen und den Erwartungen ihrer Mitmenschen abweichen, als psychisch krank diagnostiziert, kann man sie ganz legal ihrer elementarsten Menschenrechte berauben. Psychodiagnosen können also als Waffen benutzt werden – und das besonders Heimtückische daran ist, dass ihr Einsatz nur zu leicht als Hilfe getarnt werden kann.

Zwangsbehandlung

Die habituelle Abweichung von gesellschaftlichen Normen oder den Erwartungen der Mitmenschen ist jedoch keine Krankheit, sondern ein u. U. riskanter Lebensstil. Diese Sichtweise drängt sich zumindest auf, da es trotz unermüdlicher Bemühungen der Psychiatrie bisher noch nicht gelungen ist, das Krankhafte der angeblichen “psychischen Krankheiten” mit objektiven Methoden nachzuweisen. Es ist eine Schande, wenn in einer freien, demokratischen Gesellschaft Lebensstile pathologisiert und Menschen womöglich deswegen zwangsweise einer Behandlung unterworfen werden, die u. a. darin besteht, sie mit Ledergurten an Betten zu fesseln, sie mit Psychopharmaka vollzupumpen, sie gar mit Elektroschocks zu traktieren.

Natürlich sind die so genannten psychisch Kranken mitunter gefährlich für sich selbst und andere. Dadurch unterscheiden sie sich aber nicht von den so genannten Normalen. Wenn ein angeblich psychisch Kranker droht, seinen Nachbarn umzubringen, dann läuft er Gefahr, gegen seinen Willen in ein psychiatrisches Krankenhaus gesperrt zu werden. Wenn aber beispielsweise ein so genannter Normaler besoffen Auto fährt und dadurch sich und andere erheblich gefährdet, dann verliert er allenfalls den Führerschein. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Wo die Logik?

Nun wird immer wieder einmal von Leuten, die von der Sache nichts verstehen, vorgetragen, dass manche Patienten ja nicht krankheitseinsichtig seien und dass man mit solchen Menschen auch keine therapeutischen Ziele vereinbaren könne. Man müsse daher eine Diagnose stellen und aus dieser ableiten, wie mit diesen “psychisch Kranken” zu verfahren sei. Dazu ist allerdings erstens anzumerken, dass die so genannten psychischen Krankheiten beim gegenwärtigen Stand der Forschung den Status von hypothetischen Konstrukten besitzen. Und eigentlich kann man doch von niemandem erwarten, dass er die Hypothesen anderer Leute für richtig hält. Ist die Veränderungsbereitschaft des Patienten jedoch nicht vorhanden, dann ist jede Therapie ohnehin verlorene Liebesmühe.

Die Seele kann man nämlich nicht reparieren wie der Mechaniker ein Auto. Eine Seele mag sich zwar in heilloser Verwirrung befinden, aber dies ist keine Krankheit, und der Weg zum Seelenheil ist auch keine medizinische Maßnahme. Die Heilung der Seele ist immer Selbstheilung und jede sinnvolle “Therapie” ist immer Förderung und Begleitung des Selbstheilungsprozesses, Hilfe zur Selbsthilfe. Die Alternative dazu besteht in einem Verzicht auf Behandlung oder in einer Zwangsbehandlung. Aus rechtlichen Gründen braucht man zur Zwangsbehandlung eine besondere Form der Diagnose, nämlich eine solche, die eine behandlungsbedürftige schwere psychische Krankheit und überdies noch eine Gefährlichkeit des Betroffenen für sich und / oder andere feststellt.

Etwa 10 Prozent der Psychiatriepatienten werden während einer Behandlungseinheit mindestens einer Zwangsmaßnahme unterworfen. Die Rechtfertigung dieses Zwangs beruht auf allerlei Mythen und vor allem auf  jenem Mythos, der Psychodiagnostiker sei in der Lage, die Gefährlichkeit eines Menschen für sich und andere zu prognostizieren. Ausnahmsweise werden in diesem Bereich die Skandalmeldungen der Medien über als geheilt entlassene und erneut gewalttätige “psychisch kranke” Straftäter durch zahllose empirische Studien bestätigt: Zu solchen Vorhersagen sind Psychodiagnostiker definitiv nicht in der Lage (12-13).

Es handelt sich bei diesen Zwangsbehandlungen im Übrigen nicht um Therapie im medizinischen Sinne, weder um Psychotherapie, noch um Psychopharmaka-Therapie, sondern schlicht und ergreifend um Gehirnwäsche, und zwar um Gehirnwäsche in ihrer schwersten Form. Und dies ist hier kein Schimpfwort, sondern die nüchterne Beschreibung eines Sachverhalts. Denn die harten Methoden der Gehirnwäsche beinhalten stets die folgenden vier Komponenten (6-8):

  • Die Erzeugung von extremem, traumatisierendem Stress
  • die Beeinflussung des Nervensystems durch physische Mittel (chemische Substanzen, Elektroschocks, sensorische Deprivation, soziale Isolierung, Drehstühle, Fixierungen u. v. m.)
  • die Beeinflussung des Denkens und der Gefühle durch Suggestionen, die eine Veränderung des Verhaltens und Erlebens bewirken sollen
  • die Anwendung von Zwang (physische Gewalt, Drohungen u. ä.)

Die übliche psychiatrische Zwangsbehandlung beinhaltet genau diese vier Komponenten. Der amerikanische Psychiater Donald Ewen Cameron bezeichnete die von ihm entwickelte Therapiemethode – die Elektroschockbehandlung, Psychopharmaka und systematischen Reizentzug sowie Suggestionen – miteinander kombinierte, als wohltätige Gehirnwäsche”.

Dieser Mann war u. a. Präsident des Weltverbandes der Psychiatrie (WPA). Er galt als einer der führenden Psychiater seiner Zeit. Nach seinem Tod stellte sich heraus, dass seine Forschungen teilweise vom amerikanischen Geheimdienst CIA finanziert wurden. Sie waren eine wichtige Grundlage der Gehirnwäscheprojekte dieser US-amerikanischen Behörde. Wenn ich mich nicht irre, sind Zwangsbehandlungen so genannter psychisch Kranker in allen Staaten dieser Erde legal. Dies erzürnt mich. Dass dies auch in Deutschland, in meinem Heimatland, in diesem Land mit schrecklicher jüngerer Vergangenheit, auch erlaubt ist – das erfüllt mich – als Patriot – mit unbeschreiblicher Scham.

Schlachtfeld Seele

Wenn so genannte Laien aus niedrigen Beweggründen ihre Opfer mit Psychodiagnosen verleumden, dann können sie u. U. schweren Schaden anrichten; aber die Diskriminierung eines Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose durch einen so genannten Experten kann tödlich sein: Sie kann den Betroffenen sozial und wirtschaftlich vernichten und ihn schlussendlich in den Selbstmord treiben. Die so genannten Psycho-Wissenschaften haben das Schlachtfeld, auf dem sie mit dieser Waffe wüten können, sehr gut vorbereitet. Sie haben dem Volk eine pseudo-wissenschaftliche Ideologie eingehämmert. Diese besagt, dass es psychische Krankheiten gäbe und dass diese, wenngleich meist unheilbar, so doch lindernd behandelbar seien und behandelt werden müssten, falls erforderlich, mit Gewalt. Damit ist die psychiatrische Diagnose durch einen Psycho-Experten eine implizite, doppelte Zuständigkeitszuschreibung. Sie lautet:

“Du bist krank; ich bin für deine Behandlung und die Krankenkasse ist für die Bezahlung zuständig.”

So ist die psychiatrische Diagnose also auch eine Waffe in einem Wirtschaftskrieg, der um das Geld der Versicherten und der Steuerzahler geführt wird. Auf der Strecke bleibt der “Patient”, der durch eine psychiatrische Diagnose stigmatisiert wird. Es trifft zwar zu, dass eine nicht geringe Zahl von Menschen eine psychiatrische Diagnose anstrebt, um sich beispielsweise verrenten zu lassen oder weil sie aufrichtig davon überzeugt ist, “psychisch krank” zu sein.

Es kann durchaus zutreffen, dass die Diagnose einer “psychischen Krankheit” – eventuell sogar objektiv – die beste aller Möglichkeiten ist, die einem Betroffenen zur Verfügung stehen. Dennoch ist dies ein Nullsummenspiel, bei dem der “Patient” verliert, was andere gewinnen. Es wird Zeit, die Gesellschaft so zu verändern, dass sich niemand mehr auf ein solches Nullsummenspiel einlassen muss, wenn er über die Runden kommen will. Gäbe es beispielsweise ein bedingungsloses Grundeinkommen, dann könnten mittellose Leute mit außergewöhnlichen, als “psychisch krank” gedeuteten Lebensstilen finanziell überleben, ohne sich psychiatrisieren lassen zu müssen.

Alternative psychiatrische Diagnostik

Die psychiatrische Diagnostik ruht, wie gezeigt, nicht auf einem wissenschaftlichen Fundament, sie ist politisch motivierte Willkür. Daher sei es mir erlaubt, eine ebenso spekulative alternative psychiatrische Diagnostik vorzuschlagen: Die Bevölkerungsgruppe der “psychisch Kranken” zerfällt in folgende Untergruppen:

  1. Die Abgestempelten: Diese Patienten empfinden sich nicht als psychisch krank. Sie sind also krankheitsuneinsichtig. Sie werden vielmehr von anderen (Psychiatern, psychologischen Psychotherapeuten, Angehörigen, Arbeitgebern, Vermietern etc.) als psychisch krank eingestuft.
  2. Die Bekenner: Diese Patienten haben (warum auch immer) einen psychisch kranken Lebensstil gewählt und bestehen darauf, psychisch krank zu sein. Sie lassen sich diese Selbstdiagnose von Experten bestätigen.
  3. Die Hereingerutschten: Diese Patienten werden nicht aus eigenem Antrieb als psychisch krank diagnostiziert, sondern von Ärzten, die sie wegen eines Krankheitsgefühls aufsuchen und deren Diagnose sie gutgläubig hinnehmen.
  4. Die Fehldiagnostizierten. Diese Patienten leiden unter körperlichen Erkrankungen mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben, die aber nicht erkannt und als “psychische Krankheiten” fehlgedeutet werden.
  5. Die Simulanten. Diese Patienten unterscheiden sich von den Bekennern dadurch, dass sie eine psychische Erkrankung bewusst vortäuschen, wohingegen sich die Bekenner in aller Regel selbst belügen.

Bei diesen Teilgruppen handelt es sich nicht um selbständige Einheiten, sondern um Elemente der Obergruppe “psychisch Kranker”, weil sie eine Reihe gemeinsamer Merkmale aufweisen. Alle Patienten dieser fünf Gruppen

  1. benehmen sich schlecht (verstoßen gegen gesellschaftliche Normen und Moralvorstellungen und / oder die Erwartungen einflussreicher Mitmenschen
  2. verhalten sich rätselhaft, die Gründe ihres Verhaltens sind also ihren Mitmenschen (teilweise) unverständlich.

Die Verteilung der psychisch Kranken auf diese fünf Untergruppen erfolgt nicht zufällig.

  • Die Abgestempelten stammen in der Regel aus der Unterschicht und haben niemanden, der sie liebt. Sie haben Feinde, die, mit möglichst geringem Aufwand, die Abgestempelten aus dem Weg haben wollen. Die Menschen dieser Teilgruppe stehen zu sich selbst und es fällt ihnen schwer, sich zu verstellen.
  • Die Bekenner leiden meist an starken Minderwertigkeitsgefühlen und wenn ihnen etwas im Leben misslingt, neigen sie zum Schutz ihrer ohnehin ramponierten Selbstachtung dazu, die Verantwortung dafür von sich abzuweisen. Mit der angeblichen psychischen Krankheit sollen die (vermeintlichen) Fehler gerechtfertigt werden. Überdies ist damit die Aufforderung an die Mitmenschen verbunden, ihre Anforderungen an den Patienten zu reduzieren.
  • Die Hereingerutschten sind zumeist autoritätsgläubige Menschen mit einer passiven Lebenseinstellung. Sie bemühen sich, die Rollen auszufüllen, die man ihnen zuweist. Dies gilt natürlich auch für die Rolle des “psychisch Kranken”.
  • Die Fehldiagnostizierten sind fast immer Hereingerutschte, die das Pech hatten, tatsächlich krank und an einen Arzt geraten zu sein, der dazu neigt, Phänomene, die er nicht begreift, als “psychisch” einzuordnen.
  • Die Simulanten sind Tiefstapler, denen das Hochstapeln zu riskant ist. Sie wissen, dass man ins Gefängnis kommen kann, wenn man beispielsweise vortäuscht, ein Psychiater zu sein, wohingegen die Simulation einer “psychischen Krankheit” sich nicht zwingend nachweisen lässt und daher mit weitaus geringerer Gefahr verbunden ist, dafür belangt zu werden.

Die alternativ-psychiatrische führt selbstverständlich zu anderen Behandlungsempfehlungen als die konventionelle psychiatrische Diagnostik:

  • Durch Abschaffung der Sondergesetze für angeblich selbst- bzw. fremdgefährdende psychisch Kranke kann eine wesentliche Linderung des Leidens der abgestempelten Patienten erreicht werden. Flankierende Maßnahmen wären sozialarbeiterische und sozialpädagogische Hilfen sowie eine der Menschenwürde entsprechende Anhebung der Hartz-4-Sätze.
  • Der Bekenner bedarf keiner Therapie. Derartige Angebote rufen seine psychische Krankheit ja erst hervor. Philosophische Reflexionen über den wahren Wert des Menschen helfen mitunter, auch kalte Umschläge.
  • Den Hereingerutschten muss man den Rücken stärken.
  • Den Fehldiagnostizierten ist zu raten, eine zweite, dritte, vierte Meinung einzuholen. Dabei ist darauf zu achten, dass nicht die “Psyche”, sondern der Körper untersucht wird.
  • Den Simulanten ist nicht zu helfen. Selbst wenn man ihnen gehörig in den Arsch treten würde, dann wären sie hinterher schwer körperlich und seelisch traumatisiert und müssten frühverrentet werden. Damit wäre niemandem gedient, außer den Simulanten, vielleicht.

Es gilt aber zu bedenken, dass alle individuellen Behandlungsansätze nur mit überaus mäßigen Erfolgsaussichten verbunden sind. Hier wird ja offensichtlich stets in einer Atmosphäre aus Lug und Trug mit falschen Karten gespielt – und daran wird sich nichts Einschneidendes ändern, solange die gesellschaftlichen Wurzeln menschlichen Verhaltens und Erlebens, die sozialen und ökonomischen Schieflagen nicht offen angesprochen und korrigiert werden. Die Heilung der “psychisch Kranken” ist meist keine Aufgabe der Medizin, sondern der Politik auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Allein die Behandlung der Fehldiagnostizierten bleibt den Ärzten vorbehalten. Und da es sich, außer bei den Fehldiagnostizierten, um eine politische Aufgabe handelt, kann in einer demokratischen Gesellschaft niemand die Verantwortung delegieren.

Wir alle sind als Staatsbürger dazu aufgerufen, zur Lösung dieses Problems beizutragen – in der Familie, in der Schule, an den Universitäten, in den Unternehmen, in den Parlamenten, an der Wahlurne. Es gibt keine psychischen Krankheiten, wohl aber existieren die Probleme, auf die sich diese Diagnosen beziehen. Nur werden bisher diese Probleme von den Falschen behandelt – mit unangemessenen Methoden. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ist mit diesem Zustand jedoch zufrieden, auch wenn die Ergebnisse höchst unbefriedigend sind. Es passt den Leuten mehrheitlich ganz gut in den Kram, dass man die Verantwortung für Problemfälle  auf Psychiater und Psychologen abwälzen kann.

Unter diesen Bedingungen muss Psychiatriekritik als öffentliche Ruhestörung aufgefasst werden. Die öffentliche Ruhe zu bewahren, liegt, so meint man, im berechtigten Interesse des Bürgers. Hier sind also Psychiatrie und Psychologie gefragt, um die Ruhestörer zur Räson zu bringen. Da sie die Ruhe durch Argumente stören, gilt es, diese zu entkräften. Die effektivste Methode zu diesem Zweck besteht darin, die mutwilligen Ruhestörer persönlich anzugreifen und herabzusetzen. Hierzu empfiehlt es sich,

  • sie als Scientologen zu diffamieren
  • ihnen ein antipsychiatrisches Wahnsystem zu unterstellen
  • sie sonstwie als “psychisch krank” abzustempeln.

Die Faustformel der psychiatrie-affinen Kritiker der Psychiatriekritik lautet: entweder Scientologe oder verrückt (wenn nicht beides).

Anmerkungen

(1) Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46

(2) Fibiger, H. C. (2012). Psychiatry, The Pharmaceutical Industry, and The Road to Better Therapeutics. Schizophrenia Bulletin, vol. 38 no. 4 pp. 649–650

(3) Joseph, J. (2012). The “Missing Heritability” of Psychiatric Disorders: Elusive Genes or Non-Existent Genes? Applied Developmental Science, 16, 65-83.

(4) Rosenhan, D. (1973): On Being Sane in Insane Places. In: Science, 179, 250-8

(5) Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York N.Y.: blue rider press, Penguin Group, Seite 340

(6) Collins, A. (1988). In the Sleep Room. The Story of the CIA Brainwashing Experiments in Canada. Toronto, Lester & Orpen Dennys Ltd.

(7) Marks, J. (1979, 1991). The Search for the Manchurian Candidate. The CIA and Mind Control. New York, Times Book

(8)Thomas, G. (1989). The Journey into Madness. The True Story of CIA Mind Control and Medical Abuse. New York, Bantam Books

(9) Szasz, T. (1969). Interview with Thomas Szasz. The New Physician, June, 453 – 476

(10) Caplan, P. J. & Cosgrove, L. (2004). Is This Really Necessary. In: Caplan, P. J. & Cosgrove, L. (eds.). Bias in Psychiatric Diagnosis. Lanham: Jason Aronson

(11) Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel: “The chemical imbalance hoax”

(12) Buchanan, A. (2008).  Risk of Violence by Psychiatric Patients: Beyond the “Actuarial Versus Clinical” Assessment Debate, Psychiatric Services 2008; doi: 10.1176/appi.ps.59.2.184)

(13) Paris J. (2006). Predicting and preventing suicide: do we know enough to do either? Harv Rev Psychiatry. 2006 Sep-Oct;14(5):233-40 (14) vgl. z. B. Tschischka, A.: Heiß diskutiert: DSM-V. In: report psychologie 38, Nr. 5, 2013, S. 214

(14) Joseph, J. (2013). “Schizophrenia” and heredity. Why the emperor still has no genes. In: Read, J. & Dillon, J. (Eds.). Models of Madness: Psychological, Social, and Biological Approaches to Madness. London: Routledge

 

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