Am Stammtisch
Extremen Stress muss man in Gaststätten eher selten erdulden, es sei denn, bei einer Kneipenschlägerei. Unlängst wurde ich zufällig Ohrenzeuge eines Stammtischgesprächs. Es ging um den Krieg, um Schlachten, Helden und Siege. Ältere Herren bestärkten sich gegenseitig in der Ansicht, dass nur Feiglinge oder Schwächlinge an der Front zusammenbrächen. Wer in einer Schlacht die Nerven verliere, so hieß es, der habe schon vorher einen Knacks gehabt. Richtige Männer seien schon in der Lage, den inneren Schweinehund zu besiegen, wenn die Not und das Vaterland dies geböten. Mit geröteten Gesichtern und funkelnden Augen schwadronierte man und prostete einander zu, bis die Handys musizierten und Ehefrauen den Heimweg befahlen.
Vermutlich hatten diese Männer nie einen Krieg erlebt – von Kampferfahrung ganz zu schweigen. Doch auch Kriegsteilnehmer neigen nicht selten zu solchen Ansichten. Dies liegt nicht allein daran, dass nur eine Minderheit der Soldaten an der Front eingesetzt wird. Der Grund dafür ist auch die sattsam bekannte Neigung des Menschen zum Selbstbetrug und zur Verlogenheit. Wer im warmen Schankraum vorm Bier hockt, der ist vielleicht auch nicht in der rechten Stimmung, um sich in die Innenwelt eines Soldaten im Stahlgewitter hineinzuversetzen.
An der Front
Der Mythos vom Kriegshelden hält den Tatsachen zweifellos nicht stand. In seinem Buch „The Painful Field“ hat der amerikanische Historiker Richard A. Gabriel Fakten zusammengetragen, die eindeutig belegen, dass es keine Kriegshelden gibt, sofern man unter einem Kriegshelden eine moralisch tadellose Person versteht, die ihr Leben für die Kameraden und fürs Vaterland aufs Spiel gesetzt und dem Feind erfolgreich Paroli geboten hat.
Heroen dieses Zuschnitts sind schlicht Fantasie und Wunschdenken. Einer der berühmtesten “Kriegshelden” aller Zeiten, der amerikanische Schauspieler John Wayne, war nur auf der Leinwand als furchtloser Kämpfer aktiv. Wegen einer leichten Schulterverletzung, die er sich beim Sport zugezogen hatte, wurde er während des 2. Weltkriegs nicht zum Militär eingezogen und er verzichtete darauf, sich freiwillig zu melden, anders als viele seiner Kollegen mit vergleichbaren medizinischen Einschränkungen.
John Wayne hilft uns, das wahre Gesicht des Krieges zu verdrängen; doch das Verdrängte kehrt zurück: in Form von Soldaten mit psychiatrischen Diagnosen. Ich referiere die wichtigsten Einsichten aus Gabriels lesenswertem Buch:
- Während des 2. Weltkriegs feuerten gerade einmal 15 Prozent der amerikanischen Frontsoldaten ihre Waffen ab – unabhängig davon, ob sie angriffen oder angegriffen wurden. Die meisten Soldaten hatten einfach zu viel Skrupel oder zu viel Angst. Sie zogen es vor, sich in ihre Schützenlöcher zu ducken.
- Bei Elite-Soldaten, zu deren Auswahlkriterien und Ausbildungszielen Aggressivität zählte, lag diese Quote mit 25 Prozent nicht wesentlich höher.
- Dasselbe Bild ergab sich bei den Piloten. Auf nur 1 % entfielen mehr als 40 % der Abschüsse.
- Nahezu alle Soldaten, die mehr als einen Monat dem Stress der Front ausgesetzt sind, entwickeln Phänomene, die von Psychiatern als “Symptome von psychischen Krankheiten” eingestuft werden. Die Vorstellung, dass nur Feiglinge zusammenbrechen, ist ein Mythos, der durch militärpsychologische und militärpsychiatrische Studien eindeutig widerlegt wird. Und diese Erfahrungen wurden vor allem in Kriegen gesammelt, die erheblich weniger intensiv waren als ein moderner Krieg.
- In jedem Krieg sind Furcht und Erschöpfung ständige Begleiter. Das Erlebnis der Schlacht ist eine der bedrohlichsten Erfahrungen, mit denen Menschen konfrontiert werden können. Unkontrollierbare emotionale Reaktionen an der Front sind weder seltene, noch isolierte Ereignisse.
- Obwohl die amerikanische Armee während des ersten und zweiten Weltkriegs durch gründliche psychiatrische Untersuchungen die Schwachen auszusondern versuchte und nur die angeblich Starken an die Front geschickt wurden, gelang es ihr nicht, die Häufigkeit psychiatrischer Zusammenbrüche infolge des Kampferlebnisses zu vermindern.
- “Psychiatrische Krankheiten” waren die größte Einzelkategorie bei den Behindertenrenten, die nach dem II. Weltkrieg von der amerikanischen Regierung gewährt wurden.
- Während des 1. Weltkriegs wurden 27,7 Prozent der Frontkämpfer wegen eines psychischen Zusammenbruchs dauerhaft aus der Kampfzone evakuiert. Weitere 16,6 Prozent wurden vorübergehend in psychiatrische Einrichtungen eingewiesen.
- Während des 2. Weltkriegs litten 1.393.000 amerikanische Soldaten an Phänomenen, die als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet wurden und die sie zumindest vorübergehend dienstunfähig machten.
- 37,5 Prozent der amerikanischen Frontsoldaten wurden während des 2. Weltkriegs wegen psychiatrischer Diagnosen entlassen.
- In Korea erlitten 24,4 Prozent der amerikanischen Frontsoldaten so schwerwiegende psychische Zusammenbrüche, dass sie zumindest vorübergehend kampfunfähig waren.
- Vietnam: 12,5 Prozent der Frontsoldaten wurden “psychiatrische Fälle”. Der Vietnamkrieg war kein sehr intensiver Krieg, so erklärt sich die vergleichsweise niedrige Zahl.
- Allerdings litten nach dem Vietnam-Krieg relativ mehr Veteranen am “Posttraumatischen Belastungssyndrom” (PTBS) als an vergleichbaren Störungen (PTBS gab es vorher ja nicht) nach jedem anderen Krieg zuvor.
- Untersuchungen zeigen, dass nur etwa 2 Prozent der Soldaten auch nach wochenlangem Fronteinsatz nicht zusammenbrechen. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Menschen, die bereits vor dem Soldatenleben als psychopathische Persönlichkeiten eingestuft, also durch einen eklatanten Mangel an Gewissensregungen aufgefallen waren.
- Psychische Zusammenbrüche an der Front können durch eine ausgeprägt patriotische Einstellung nicht vermieden werden. Auch Männer, die freiwillig zu den Waffen streben, um sich auf dem Feld der Ehre zu bewähren, sind davor nicht gefeit (1).
“Im Kampfe, im Kriege, der alle Übereinkunft vom Menschen reißt wie die zusammengeflickten Lumpen eines Bettelmannes, steigt das Tier als geheimnisvolles Ungeheuer vom Grunde der Seele auf. Da schießt es hoch als verzehrende Flamme, als unwiderstehlicher Taumel, der die Massen berauscht, eine Gottheit über den Heeren thronend. Wo alles Denken und alle Tat sich auf eine Formel zurückführt, müssen auch die Gefühle zurückschmelzen und sich anpassen der fürchterlichen Einfachheit des Zieles, der Vernichtung des Gegners. Das wird bleiben. Solange Menschen Kriege führen und Kriege werden geführt, solange es noch Menschen gibt.”
Dies kündet der deutsche Schriftsteller Ernst Jünger in seinem Buch: “Der Kampf als inneres Erlebnis“, in dem er auf recht eigentümliche Weise hoch tönend seine Erfahrungen aus dem 1. Weltkrieg verarbeitete. Im Licht des Buchs von Gabriel betrachtet, bestand allerdings die fürchterliche Einfachheit des Zieles für die überwältigende Mehrzahl der Frontsoldaten darin, die eigene Haut zu retten.
Bei Jünger erscheint der Krieg, trotz aller Grausamkeit, positiv als charakterbildende Erfahrung. Mag dieses innere Erlebnis auch charakterbildend sein – wie es allerdings den Charakter tatsächlich bildet, davon ist an Stammtischen und bei einschlägigen Weiheveranstaltungen nur selten die Rede. Auch im Krieg nämlich wählen die Menschen in aller Regel unter den ihnen zu Gebote stehenden Alternativen jene aus, die ihnen die beste zu sein scheint. Der Maßstab dafür sind selten die heeren Ideale der Vaterlandsliebe und des Opfermutes. Es geht den meisten dann doch wohl eher darum, sich unter Gesichtswahrung aus der Affäre zu ziehen.
In seinem Buch “In Stahlgewittern“ schreibt Jünger:
“Bei solchen Gelegenheiten vermied ich, mich vom Draufgängertum fortreißen zu lassen. Es wäre wenig taktvoll gewesen, den Leuten, die zum Teil mit der Angst um Frau und Kind zur Vernichtung zogen, zu zeigen, dass man der Schlacht mit einer gewissen Lust entgegensah. Auch war es mein Grundsatz, nicht durch große Worte zum Mute anzuspornen oder den Feigling zu bedrohen. Ich suggerierte: Ich weiß genau, dass mich niemand im Stiche lässt. Wir haben alle Angst, aber wir müssen dagegen kämpfen. Es ist menschlich, wenn jemand von seiner Schwäche übermannt wird. Er muss dann auf seinen Führer und die Kameraden sehen. Schon beim Sprechen fühlte ich, dass solche Worte den Leuten verständlich waren. Die Erfolge rechtfertigten diese psychologische Vorbereitung in glänzender Weise.”
Mag es auch Ernst Jünger gelungen sein, seinen Kameraden Mut einzuflößen, im Allgemeinen herrscht auf dem Schlachtfeld ein anderer Geist. Und das ist auch nicht verwunderlich, weil das Lazarett den “psychisch Kranken” als beste aller Möglichkeiten lockt. Auch und gerade im Krieg gilt, dass man nicht “psychisch krank” wird, sondern diese Rolle wählt, aus Gründen, die bei nüchterner Betrachtung ins Auge springen und die letztlich als “normal” gedeutet werden müssen.
Posttraumatische Belastungsstörung
Wenn sich die Bundeswehr weiterhin an internationalen Kampfeinsätzen beteiligt, dann ist entsprechend natürlich mit einer steigenden Zahl von Menschen in unserer Mitte zu rechnen, die durch Kriegserfahrungen schwer traumatisiert wurden. In vielen Fällen werden die Traumata diese Veteranen ein Leben lang begleiten. Veteranen und ihre Ärzte werden sie als Ursache mitunter irreversibler psychischer Störungen betrachten.
Die Diagnose “Posttraumatische Belastungsstörung” (PTBS) wurde 1980 in die dritte Revision des „Diagnostisch Statistischen Manuals“ (DSM) aufgenommen. Das DSM ist die amerikanische “Psychiater-Bibel” zur Psychodiagnose. Die Aufnahme der PTBS erfolgte auf Druck der Verbände von Vietnam-Veteranen (3). Obwohl dadurch ein bisher noch nicht vorhandenes “Krankheitsbild”, ein neues „Syndrom“ kreiert wurde, sind die Phänomene, auf die sich diese Diagnose bezieht, natürlich so alt wie der Krieg. Zuvor hatte man andere Namen für diese Phänomene, beispielsweise Kriegsneurose oder Kriegshysterie.
Wie viele seiner Zeit- und Zunftgenossen, führte der Psychiater Wilhelm Neutra 1920 in seiner Schrift “Seelenmechanik und Hysterie“ die kriegsbedingte “Hysterie” auf einen unterbewussten Konflikt zwischen Selbsterhaltungstrieb und Kampfmoral (Patriotismus, soldatische Ehre) zurück. Die “hysterischen Symptome” stellten aus dieser Sicht also einen Kompromiss dar, seien eine Flucht in die Krankheit, durch die der Erkrankte das Gesicht wahren und gleichermaßen auch strafrechtliche Konsequenzen (Standgericht) vermeiden könne. Es handele sich bei der Kriegsneurose nicht um eine Simulation, da der Patient diese Konfliktlösung nicht mit bewusstem Willen anstrebe.
Heute neigt die Psychiatrie eher dazu, den Betroffenen zu unterstellen, sie litten unter einer angeborenen “Vulnerabilität” für dysfunktionale Reaktionen auf extremen Stress. Aus meiner Sicht handelt sich bei der so genannten Posttraumatischen Belastungsstörung (und bei allen anderen kriegsbedingten psychischen Phänomenen) nicht um eine Krankheit im medizinischen, sondern allenfalls um eine Erkrankung im metaphorischen Sinn.
Die Verhaltensmuster, aufgrund derer die betroffenen Soldaten derartige Diagnosen erhalten, sind die ganz normalen Reaktionen normaler Leute auf eine verrückte Situation. Die menschliche Natur hält im Allgemeinen dem extremen Stress eines Kampfeinsatzes über einen längeren Zeitraum nicht stand. Fast jeder hat seinen Bruchpunkt. Ist dieser Bruchpunkt erreicht, dann ordnen sich die hohen ideologischen Werte den tatsächlichen Interessen des Individuums unter. Wer diesen Bruchpunkt nicht innerhalb weniger Wochen an der Front erreicht, der ist nicht “normal”, also kein Kriegsheld, sondern in aller Regel ein Mensch, dessen Sensibilität für Grausamkeit, gemessen am Maßstab des zivilen Alltagslebens, unzulänglich entwickelt ist.
Eine Frage des Staates und die Antwort der Soldaten
Aus meiner Sicht sind die sog. psychischen Störungen grundsätzlich keine Krankheiten, sondern Strategien zur Daseinsbewältigung. Diese Strategien können sich zum Lebensstil ausformen. Auch die „Posttraumatische Belastungsstörung“ eines Soldaten macht hier keine Ausnahme. Sie ist eine Strategie, den Wahnsinn des Krieges zu bewältigen und dabei ein normaler Mensch zu bleiben, sich also nicht in ein Monster zu verwandeln. Und natürlich geht es auch darum, sein Gesicht zu wahren und vor sich selbst zu bestehen. Krankheit ist, moralisch betrachtet, nun einmal weniger verwerflich als Feigheit.
Selbstverständlich entwickelt nicht jeder Soldat, der in einem Kriegsgebiet eingesetzt wird, ein „posttraumatisches Belastungssyndrom“. Die psychischen Auswirkungen hängen natürlich von der Intensität und Dauer des Kampfeinsatzes ab, vom Ausmaß der Stresserfahrung also.
Je brutaler der Krieg, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Soldat jene Strategie der Daseinsbewältigung wählt, die unter dem Begriff „PTBS“ medikalisiert wurde. Durch diese Medikalisierung wird eine gesunde Reaktion zur Krankheit erklärt. Sie wird individualisiert und pathologisiert.
Natürlich könnte man den betroffenen Soldaten in die Röhre eines Computer-Tomographen schicken und unter Umständen feststellen, dass sich sein Hirn strukturell verändert hat (2). Oberflächlich betrachtet, ist das dann in etwa so, als hätte er ein Bein verloren. Doch er hat kein Bein verloren, ihm fehlt nichts. Der Brainscan zeigt nur, dass sein Gehirn normal auf eine wahnsinnige Erfahrung reagiert. Ihm fehlt nichts, im Gegenteil: Er hat nur die Schnauze voll. Sein Gehirn hat sich in einer Weise verändert, die es dem betroffenen Soldaten angesichts der Barbarei des Krieges erlaubt, sein Gesicht zu wahren: “Ich bin kein Feigling”, lautet die Botschaft seiner grauen Zellen und seines Unbewussten, “sondern krank.”
Was darf der Staat von seinen Bürgern verlangen, die er zu den Fahnen ruft? Diese Frage wird auf unterschiedliche Weise beantwortet – in Abhängigkeit von der Weltanschauung, vom Menschenbild, von der Einstellung zum Krieg und von der persönlichen Erfahrung.
Soldaten, die im Krieg ausrasten, durchdrehen, geben damit ebenfalls eine Antwort auf diese Frage. Sie ist vielstimmig; man kann sie in den einschlägigen diagnostischen Handbüchern nachlesen:
- Physische Erschöpfung, später mentales Auslaugen
- jede Bewegung erschöpft, ist quälend
- Schwitzen, Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen etc.
- Herzstörungen; exzessives Zittern etc.
- unsoziales Verhalten, Irritabilität, Verantwortungsscheu, Verweigerungshaltung
- emotionale Krisen
- Suchtmittelmissbrauch
- Dissoziation von der Realität, Wahnideen
- extreme Stimmungsschwankungen
- läppisches Verhalten
- Amnesien; Fugue;
- konvulsive Attacken, Lähmungserscheinungen
- Schlafstörungen, Alpträume
- fixe Ideen, Phobien, generalisierte Ängste,
- Kurzatmigkeit, Schwächegefühle, Nervosität
- Zittern, Krämpfe, Tics, Stammeln
- Längerfristige Persönlichkeitsveränderungen durch wiederholten traumatischen Stress an der Front
Obige Liste enthält keine “Krankheitssymptome”, sondern Antworten. Die Landsleute daheim sollten lernen, ihren Sinn zu verstehen. Die Medikalisierung kaschiert den Sinn, verhindert eine profunde Reflexion. Das kann niemanden kaltlassen. Keine der hier relevanten Problemlösungen wird durch diese Verdrängung erleichtert. Auch Militärs, die Kriege für notwendig halten und gern führen möchten, müssen begreifen, dass es sich hier nicht um “psychiatrische Zwischenfälle” und “individuelle Schwächen” handelt, sondern um die Normalität des Krieges.
Die Botschaft dieser “Symptome” lautet: “Ich will nie wieder in den Krieg und erst recht nicht an die Front!” Selbstachtung und Patriotismus verbieten es den betroffenen Soldaten, diesen Klartext offen auszusprechen. Stattdessen quälen sie sich mit einer “Krankheit”.
Warum aber sind die meisten Menschen ungeeignet für die Front und warum taugen überwiegend Psychopathen zum “Kriegshelden”?
Eine Antwort gibt Sigmund Freud in einem Schreiben an Albert Einstein. Wir finden diesen Brief in dem Büchlein: “Albert Einstein, Sigmund Freud: Warum Krieg?”
“Von den psychologischen Charakteren der Kultur scheinen zwei die wichtigsten: die Erstarkung des Intellekts, der das Triebleben zu beherrschen beginnt, und die Verinnerlichung der Aggressionsneigung mit all ihren vorteilhaften und gefährlichen Folgen. Den psychischen Einstellungen, die uns der Kulturprozess aufnötigt, widerspricht nun der Krieg in der grellsten Weise, darum müssen wir uns gegen ihn empören, wir vertragen ihn einfach nicht mehr, es ist nicht bloß eine intellektuelle und affektive Ablehnung, es ist, bei uns Pazifisten eine konstitutionelle Intoleranz, eine Idiosynkrasie gleichsam in äußerster Vergrößerung. Und zwar scheint es, dass die ästhetischen Erniedrigungen des Krieges nicht viel weniger Anteil an unserer Auflehnung haben als seine Grausamkeiten.”
Mit anderen Worten: Je weiter der Prozess der Zivilisation in einem Individuum vorangeschritten, je stärker also auch seine Gewaltbereitschaft eingeschränkt ist, desto weniger kriegstauglich ist es. Das ist fraglos ein Dilemma für Nationen mit einem hohen Niveau der Kulturentwicklung.
“Ja, der Soldat in seinem Verhältnis zum Tode, in der Aufgabe der Persönlichkeit für eine Idee, weiß wenig von den Philosophen und ihren Werten. Aber in ihm und seiner Tat äußert sich das Leben ergreifender und tiefer, als je ein Buch es vermöchte. Und immer wieder, trotz allem Widersinn und Wahnsinn des äußeren Geschehens, bleibt ihm eine strahlende Wahrheit: Der Tod für eine Überzeugung ist das höchste Vollbringen. Er ist Bekenntnis, Tat, Erfüllung, Glaube, Liebe, Hoffnung und Ziel; er ist auf dieser unvollkommenen Welt ein Vollkommenes und die Vollendung schlechthin. Dabei ist die Sache nichts und die Überzeugung alles. Mag einer sterben, in einen zweifellosen Irrtum verbohrt; er hat sein Größtes geleistet. Mag der Flieger des Barbusse tief unter sich zwei gerüstete Heere zu einem Gott um den Sieg ihrer gerechten Sache beten sehen, so heftet sicher eins, wahrscheinlich beide einen Irrtum an seine Fahnen; und doch wird Gott beide zugleich in seinem Wesen umfassen. Der Wahn und die Welt sind eins, und wer für einen Irrtum starb, bleibt doch ein Held.”
Zum Abschluss, also, noch einmal Jünger. Soldaten, deren Leitstern diese “strahlende Wahrheit” ist, jene Angehörigen einer sehr seltenen Art also, können den Prozess der Zivilisation in modernen Gesellschaften nicht aufhalten. Was ihn jedoch aufhalten könnte, sind Leute, die irgendwo an einem sicheren Ort, frei von extremem Stress, mit dem Joystick, der Kriegsroboter steuert, Tod und Vernichtung in ferne Länder tragen und die daher vom Grauen des Krieges mental abgekoppelt sind, weil sie seine Präsenz nicht leibhaftig spüren.
Anmerkungen
(1) Gabriel, R. A. (1988). The Painful Field. The Psychiatric Dimension of Modern War. New York, Westport, Con., London: Greenwood Press
(2) Strukturelle Schädigungen des Hirns infolge von Stress an der Front zeigten sich z. B. in der Untersuchung Bremners: Bremner JD (1999). Does stress damage the brain? Biol Psychiatry. 1999 Apr 1;45(7):797-805
(3) Linder, M. (2004). Creating Post-traumatic Stress Disorder: A Case Study of the History, Sociology, and Politics of Psychiatric Classification. In: Cpalan, P. J. & Cosgrove, L.: Bias in Psychiatric Diagnosis. Lanham: Jason Aronson
The post Extremer Stress appeared first on Pflasterritzenflora.