Quantcast
Channel: Lexikon der Psychiatriekritik »» Hans Ulrich Gresch
Viewing all articles
Browse latest Browse all 323

Postpsychiatrie?

$
0
0

Pat Bracken ist Psychiater, Philosoph, Ire und Direktor der “Mental Health Services” im westlichen Teil der Grafschaft Cork. Zusammen mit der beachtlichen Zahl von 28 weiteren Kollegen verfasste er einen Artikel, der unter der Überschrift “Psychiatry beyond the current paradigm” im “British Journal of Psychiatry” erschien (1).

Die Autoren widersprechen der Auffassung, es sei möglich, die gegenwärtige Psychiatrie-Krise dadurch zu überwinden, dass man die Identität dieser Disziplin als “angewandte Neurowissenschaft” stärke.

Dies jedoch ist die Position des internationalen psychiatrischen Mainstreams. Sie wird u. a. vehement von der weltweit größten psychiatrischen Forschungsinstitution, dem tonangebenden “National Institute of Mental Health” (USA) vertreten.

Demgegenüber sind Bracken und seine Mitstreiter davon überzeugt, dass die entscheidenden Dimensionen psychiatrischer Arbeit nicht im technischen Bereich zu suchen seien, sondern auf dem Gebiet der Beziehungen, Bedeutungen und Werte.

Heute herrsche in der Psychiatrie das “technologische Paradigma” vor, das durch folgende Grundannahmen gekennzeichnet sei:

  • Psychische Probleme entstehen aus fehlerhaften Mechanismen oder Prozessen irgendeiner Art, die physiologische oder psychologische Ereignisse einschließen und die im Individuum auftreten
  • Diese Mechanismen oder Prozesse können durch Kausalbegriffe modellhaft erfasst werden; sie sind nicht kontextabhängig
  • Technische Interventionen sind hilfreich und können entworfen und untersucht werden, ohne Beziehungen und Werte zu berücksichtigen.

Soziale Bezüge würden, so schreiben die Autoren, zwar nicht völlig ignoriert, aber als sekundär aufgefasst. Dieses Paradigma habe der Psychiatrie keinen Nutzen gebracht. Fundamentale erkenntnistheoretische Probleme des Faches zu ignorieren, bedeute ja keineswegs, dass sie verschwänden. Die Autoren gehen nicht näher auf diese Probleme ein; sie lassen sich aus meiner Sicht auf folgende einfache Formel bringen: Wie kann der Widerspruch zwischen dem Menschen als Objekt (Körper einschließlich Nervensystem) und als Subjekt (Wesen, das sich über die Gründe seines Handelns Rechenschaft abzulegen vermag) überbrückt werden.

Die Autoren skizzieren nunmehr eine Reihe empirisch erhärteter Sachverhalte, die aus ihrer Sicht nahelegen, das herrschende Paradigma zu hinterfragen (2):

  • Bei der medikamentösen Behandlung von Depressionen sind die Wirkungsunterschiede zwischen Psychopharmaka und Placebos minimal
  • Bei Vergleichen zwischen realer und vorgetäuschter Elektroschockbehandlung ließ sich eine Überlegenheit der realen Schockbehandlung nicht nachweisen
  • Die “Kognitiv Behaviorale Therapie” ist bei Depressiven nicht weniger wirksam, wenn man theoretisch zentrale Elemente einfach weglässt
  • Generell, also nicht nur bei Depressionen, sind die Belege dafür überwältigend, dass die Effektivität von Psychotherapie unabhängig von den eingesetzten Methoden ist
  • Entscheidend sind vielmehr Selbstachtung und das Gefühl, die Störung aus eigener Kraft meistern zu können
  • Die Hoffnung, dass die so genannten atypischen Neuroleptika besser seien als die traditionellen, hat sich als trügerisch herausgestellt
  • Die übertriebene Betonung der Bedeutung von Psychopharmaka führte zu einer Blindheit gegenüber ihren erheblichen Nebenwirkungen und zu einer Abhängigkeit von den Vermarktungsinteressen der Pharmaindustrie
  • Diese Substanzen haben vermutlich nur unechte (spurious) Vorzüge
  • Es wird mit guten Gründen vermutet, dass Psychopharmaka zu der nachgewiesenen, erheblich verkürzten Lebenserwartung von “psychisch Kranken” beitragen.

Nach dieser Bankrotterklärung plädieren die Autoren nicht etwa dafür, die Psychiatrie in ihrer gegenwärtigen Form zu Hölle zu schicken, sondern sie möchten nur der Ethik und Hermeneutik einen größeren Stellenwert einräumen. Dies wird sehr eindrucksvoll in folgender Passage deutlich, die auch aus einem Poesiealbum stammen könnte:

“Reductionist models fail to grasp what is most important in terms of recovery. The evidence base is telling us that we need a radical shift in our understanding of what is at the heart (and perhaps soul) of mental health practice. If we are to operate in an evidence-based manner, and work collaboratively with all sections of the service user movement, we need a psychiatry that is intellectually and ethically adequate to deal with the sort of problems that present to it. As well as the addition of more social science and humanities to the curriculum of our trainees we need to develop a different sensibility towards mental illness itself and a different understanding of our role as doctors. We are not seeking to replace one paradigm with another. A post-technological psychiatry will not abandon the tools of empirical science or reject medical and psychotherapeutic techniques but will start to position the ethical and hermeneutic aspects of our work as primary, thereby highlighting the importance of examining values, relationships, politics and the ethical basis of care and caring.”

Eine veränderte Sensibilität für psychische Krankheiten und ein verändertes Rollenverständnis des Arztes, heißt es, müssten entwickelt werden, dann werde alles wieder gut. Dies wird, so fürchte ich, nicht reichen. Denn das psychiatrische System krankt aus meiner Sicht an Widersprüchen, die sich im Rahmen dieses Systems nicht überwinden lassen. Zu diesen Widersprüchen zählen: der Widerspruch zwischen dem Anspruch,

  • medizinische Heilbehandlungen zu bieten und der Realität, Maßnahmen zur sozialen Kontrolle abweichenden Verhaltens zu ergreifen
  • eine biologisch fundierte Wissenschaft zu sein und der Realität, überwiegend auf Grundlage gesellschaftlicher Moralvorstellungen, Normen und Erwartungen zu agieren
  • krankheitsbedingtes Verhalten zu korrigieren und der Realität, schlechtes Benehmen zu bestrafen
  • dem Patienten die Kontrolle über sein Verhalten zurückzugeben und der Realität des (mehr oder weniger bewussten) Self-handicappings der angeblich Kranken (Krankheitsgewinn)
  • im Interesse der Patienten mit fürsorglichen Angehörigen zusammenzuarbeiten und der Realität, ihnen dabei zu helfen, Störer und Familienmitglieder, die lästig geworden sind, ruhigzustellen und auszugrenzen.

Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, vermittelt aber immerhin einen Eindruck davon, mit welchem gigantischen Ausmaß von Betrug und Selbstbetrug das psychiatrische System verbunden sein kann. Diese Widersprüche sind die unausweichliche Folge eines Missverständnisses: Verhalten und Erleben, das störend, befremdlich und rätselhaft ist, das gegen gesellschaftliche Normen, Moralvorstellungen und die Erwartungen des Umfelds verstößt, wird als Krankheit aufgefasst. Auf Basis dieser Fehlinterpretation lassen sich dann u. U. auch Maßnahmen legitimieren, die ansonsten eindeutig und offensichtlich gegen bürgerliche Rechte, ja, gegen das Grundgesetz und die Menschenrechte verstoßen würden.

Es ist daher nicht damit zu rechnen, dass sich Bracken und andere wohlmeinende, philosophierende Reformer der Psychiatrie mit ihren Vorstellungen durchsetzen werden. Der Jargon und die Rhetorik der so genannten biologischen Psychiatrie und der ihr dienstbaren Neurowissenschaften eignen sich hervorragend dazu, den sozialen, ökonomischen und politischen Sprengstoff, der dem psychiatrischen System innewohnt, aus öffentlichen Diskursen auszublenden.

Psychoanalytisch betrachtet, handelt es sich hier um den Prozess einer kollektiven Verdrängung, und die so genannten Psychiatrie-Skandale, die hin und wieder das öffentliche Bewusstsein aufstören, können als Wiederkehr des Verdrängten aufgefasst werden. Erwartungsgemäß setzt aber sofort wieder die Verdrängungsarbeit ein, sobald ein solcher Skandal ruchbar wird. Man sieht dies zur Zeit sehr schön am Fall “Gustl Mollath“, der vor allem als Justiz- bzw. Politik-Skandal aufgefasst wird, obwohl er im Kern ein Psychiatrie-Skandal ist.

Denn gesetzt den Fall, Politik und Justiz hätten tatsächlich versucht, Schwarzgeldgeschäfte zu vertuschen (niemals würde ich so etwas ohne handfeste Beweise glauben!), so wäre ihnen dies, auf diese elegante und schwer greifbare, schwer korrigierbare Weise, gar nicht möglich gewesen ohne die freundliche Unterstützung des psychiatrischen Systems, das für derartige Verwendungen nachgerade maßgeschneidert zu sein scheint.

In einem Beitrag für die “World Psychiatry” (3) – das Zentralblatt der “World Psychiatric Association” - fragt sich der österreichische Psychiater Heinz Katschnig: Sind Psychiater eine gefährdete Art? Er identifiziert folgende Gefahrenquellen, denen sich diese Art ausgesetzt sieht:

  • Sie ist von Selbstzweifeln hinsichtlich ihrer diagnostischen Systeme geplagt
  • Desgleichen ist sie immer weniger von ihren Behandlungsmethoden überzeugt
  • Sie leidet unter dem Mangel an einer kohärenten theoretischen Basis
  • Die Unzufriedenheit der Patienten nimmt beständig zu
  • Sie sieht sich zunehmend der Konkurrenz durch andere Professionen ausgesetzt
  • Ihr Image war schon immer schlecht und daran will sich partout auch nichts ändern.

Es gibt Arten, die auch unter ungünstigen Lebensbedingungen überleben können, weil sie zäh und ruchlos sind. Andere überleben, weil es ihnen gelingt, Weinerlichkeit zu einem scharfen Schwert der Berufspolitik zu machen und erfolgreich einzusetzen, bevor es wirklich bedrohlich wird. Hinsichtlich der Liste Katschnigs ist anzumerken, dass die Psychiatrie tragfähige diagnostische Systeme, effektive Behandlungsmethoden, eine kohärente Theorie, ausreichend zufriedene Patienten und ein gutes Image gar nicht benötigt, um zu überleben; denn all dies hatte sie nie und sie ist dennoch nicht ausgestorben.

Allein die leidige Konkurrenz könnte ihr zu schaffen machen. Doch da sollten sich die Psychiater – Weinerlichkeit als Waffe hin oder her – keine allzu großen Sorgen machen. Denn damit eine Berufsgruppe die tatsächlichen gesellschaftlichen Aufgaben der Psychiatrie erfüllen kann, braucht sie eine möglichst weitgehende Autorität. Und da kann die Psychiatrie, trotz aller Kritik und Geringschätzung, mit dem Nimbus der Medizin eindrucksvoll und Erfolg versprechend wuchern. Dem haben außermedizinische Professionen nichts entgegenzusetzen, auch nicht auf lange Sicht.

Dass die Vorreiter der gegenwärtigen “kritischen Psychiatrie” diese Autorität nicht aufs Spiel setzen möchten, beweist nicht zuletzt Pat Bracken, der sich in Abgrenzung zur Antipsychiatrie als Vertreter einer Postpsychiatrie positioniert (4). Die Postpsychiatrie will die alte Dichotomie zwischen kritischen Psychiatrieerfahrenen und einer bevormundenden Psychiatrie durch neue, partizipative Formen der Kommunikation und Kooperation überwinden. Dies bedeutet natürlich auch, dass die generelle Zuständigkeit der medizinischen Zunft für Leute mit Lebensproblemen, für die so genannten psychisch Kranken, nicht in Frage gestellt wird.

Das Problem ist nach Auffassung der “Postpsychiater” nicht so sehr die Psychiatrie, sondern die Suche des Mainstreams dieser Disziplin nach Lösungen im Rahmen des “technologischen Paradigmas”. Wie so oft bei Leuten, die dem Klartext ausweichen möchten, ergeben sich enge Bezüge zwischen dem postpsychiatrischen Denken und der postmodernen Philosophie (deren besonderer Vorzug für diesen Zweck in gewollter Schwerverständlichkeit besteht). Doch keine Sprachakrobatik kann letztlich die Tatsache aus der Welt schaffen, dass die so genannten psychisch Kranken nicht wirklich an Krankheiten leiden und dass sie deswegen auch nicht des Arztes bedürfen.

Da mag man noch so sehr mit Querverweisen auf Heidegger, Merleau-Ponty, Foucault und Wittgenstein glänzen (6), der “Postpsychiater” kommt dennoch nicht an der Tatsache vorbei, dass es keine medizinische Aufgabe ist, Menschen mit Problemen zu “behandeln”, deren Wurzeln im sozialen, ökonomischen, kulturellen, spirituellen und existenziellen Bereich liegen. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war die mit der Theologie verschwisterte Medizin durchaus für das ganze Spektrum menschlicher Lebenslagen und Befindlichkeiten zuständig; heute ist sie dazu aber weder fachlich gerüstet, noch passt eine solche umfassende Daseinsfürsorge zur Konstitution einer modernen, freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Immerhin räumt Bracken ein, dass die Psychiatrie gar nicht jene diagnostischen, prognostischen und therapeutischen Fähigkeiten besäße, die sie zur Rechtfertigung psychiatrischen Zwangs beanspruche (5). Er schreibt:

“ At present, psychiatry continues to be feared. In spite of all the anti-stigma campaigns, as long as the profession is bestowed with powers to incarcerate and to treat on an involuntary basis, this fear will continue. The forthcoming review of the Mental Health Act provides an opportunity for psychiatrists to shed some of these powers and to engage with service-users in a positive debate about how and when force should be used in mental health crises.”

Es ist allerdings ein Trugschluss zu glauben, dass die Furcht vor der Psychiatrie allein auf dem Damoklesschwert der Zwangsbehandlung beruhe, das über uns allen schwebt. Aus meiner Sicht fußt die Furcht in einem tiefen, oft unreflektierten Zwiespalt: Einerseits empfindet man es vielleicht sogar als Entlastung, als “psychisch Kranker” für nicht verantwortlich erachtet zu werden; andererseits aber ahnt man zumindest, dass die Verantwortlichkeit zum Personsein dazugehört und dass man ohne Verantwortung zur Unperson wird.

Diese Furcht speist sich aus der Autorität des Arztes und sie hängt nicht davon ab, ob er ein technologisches Paradigma oder ein postmodernes vertritt. Der menschlich zugewandte Arzt kann die Furcht sogar verstärken, weil diese humane Haltung als eventueller Täuschungsversuch erfahren wird. Selbst wer dies nicht bewusst reflektiert, wird ein Unbehagen verspüren, angesichts von Ärzten, die vorschützen, die eigene Psyche besser zu kennen als man selbst.

Ein Arzt, der erkannt hat, dass die angeblichen psychischen Krankheiten keine sind, ist Dr. Nelson Borelli. Er hat daraus den einzig rational und moralisch einwandfreien Schluss gezogen und nach mehr als fünfzig Jahren seine medizinische Praxis aufgegeben. Entsprechend hat er seine Tätigkeit neu verortet:

“As a life coach, Nelson Borelli will assist people seeking help in managing their personal lives. Rather than diagnosing and treating medical conditions, he will try to help people to identify the blind spots in their assessment and management of their lives. However he will not tell people how to live their lives.”

Dies ist klare Kante. Kein Wunder, dass sich Borelli in seiner Website ausdrücklich zu Thomas Szasz bekennt, der mit seinen Schriften den Mythos der psychischen Krankheiten entlarvte. Der Postpsychiater webt weiter an dem Schleier, den er zu zerreißen vorgibt. Es bleibt eine offene Frage, ob er damit seinen Patienten weniger schadet als der Mainstream-Psychiater, der angesichts der offenkundigen Krise der Psychiatrie den Kopf in den Sand steckt.

Anmerkungen

(1) The British Journal of Psychiatry (2012) 201, 430–434. doi: 10.1192/bjp.bp.112.109447

(2) Regelmäßige Leser meines Tagebuchs werden feststellen, dass auch ich diese Fakten bereits wiederholt vorgetragen habe.

(3) Are psychiatrists an endangered species? Observations on internal and external challenges to the profession, World Psychiatry 2010;9:21-28

(4) Bracken P & Thomas P (2001) Postpsychiatry: A new direction for mental health British Medical Journal, 322: 724-7

(5) Bracken, P: Psychiatric power: A personal view. The Irish Journal of Psychological Medicine 2012; 29 (1): 55-58

(6) Bracken, P. & Thomas, P. (). Postpsychiatry. Mental Health in a Postmodern World. Oxford: Oxford University Press

The post Postpsychiatrie? appeared first on Pflasterritzenflora.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 323