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Trauma

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Sex sells. Dennoch irrte Freud

Sigmund Freud war davon überzeugt, allen Neurosen lägen sexuelle Störungen zugrunde. Diese Position wurde bereits von vielen seiner Zeitgenossen bezweifelt. Und dies nicht nur, weil Freud an ein Tabu rührte. Vielmehr sprachen die Tatsachen gegen ihn.

Zu Beginn seiner Karriere verband er die sexuelle Ursache noch mit dem Trauma; der sexuelle Missbrauch rief, so glaubte er, psychische Krankheiten hervor; später wandte er sich von dieser These ab, erfand den Ödipus-Komplex und unterstellte dem Kleinkind ein eigenständiges Begehren gegenüber seinen Eltern. Diese Kehrtwende, die aus dem Opfer einen Täter, aus dem Unschuldigen einen Schuldigen machte, wurde von Jeffrey M. Masson als opportunistischer Verrat gebrandmarkt (3).

Zu keiner Zeit seiner Laufbahn kam es Freud allerdings in den Sinn, dass ein Trauma allein, ohne hineinspielende Sexualität, Anlass zur Entwicklung “psychischer Krankheiten” geben könnte. Doch hier täuschte er sich. Auch Traumata ohne sexuellen Bezug können Menschen dazu verleiten, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Und die Konflikte, die mit dieser Rollenübernahme bewältigt werden sollen, sind zumeist nicht oder nicht in erster Linie sexueller Natur.

Dies wurde besonders krass deutlich während des 1. Weltkriegs. Massenhaft dekompensierten Soldaten, die bisher psychisch unauffällig waren, im Stahlgewitter an der Front. Dieses Phänomen trat infolge eines Innovationsschubs bei der Waffentechnik auf. Die Brutalität des Krieges hatte bisher unvorstellbare Ausmaße erreicht. Seit dem letzten großen europäischen Krieg (1870) vor dem 1. Weltkrieg hatte eine pyrotechnische Revolution den Krieg transformiert. Die moderne Chemie hatte Nitroglyzerin und Schießbaumwolle hervorgebracht. Die Granaten enthielten nunmehr hochexplosives Material,

  • das, anders als Schwarzpulver, sofort und vollständig verbrannte,
  • das wenig Rauch erzeugte und deswegen auch nicht die Position des Schützen verriet,
  • das kaum Rückstände in den Kanonenrohren hinterließ und so die Schussrate sowie die Reichweite enorm steigerte.
  • Die Granaten konnten nun Kilometer weit hinter der Frontlinie positioniert und durch rückstoßlose Träger abgefeuert werden, so dass ein Nachjustieren nach jedem Schuss nicht mehr erforderlich war.
  • Die Kanonen konnten also so schnell feuern, wie die Soldaten sie nachzuladen vermochten.

Daher trat die Kriegsneurose im 1. Weltkrieg zum ersten Mal als Massenphänomen auf und überraschte die militärische Führung wie auch die Medizin gleichermaßen. Mit so etwas hatte niemand gerechnet (4).

Zunächst glaubte man, dass die “nervliche” Dekompensation durch die physischen Wirkungen der explodierenden Bomben auf das Nervensystem verursacht würde; daher wurde der Begriff “Shell Shock” geprägt; jedoch erkannten die Psychiater sehr schnell, dass es sich bei diesem Phänomen um eine “psychogene Reaktion” handelte, denn die Störungen der Soldaten korrelierten nicht der physikalischen Wirkung und Intensität der Detonationen und traten mitunter sogar bei Leuten auf, die noch gar nicht an der Front waren.

Die Frontsoldaten brachen auch nicht etwa zusammen, weil sie unter, in früher Kindheit verursachten, Sexualkonflikten litten, sondern weil ihr Selbsterhaltungstrieb frustriert worden war. Die entsprechenden instinktiven Reaktionen waren blockiert worden. Sie konnten die Lebensgefahr weder durch Flucht, Angriff, noch durch Totstellen bewältigen. Dies führte zu den seltsamsten irrationalen Verhaltensmustern. In gebührender Schärfe hat diesen Gedanken meines Wissens als erster der britische Anthropologe und Psychiater William Halse Rivers Rivers herausgearbeitet (1).

Wer mit einer solchen akuten Stress-Reaktion überlebte und sich vom Schlachtfeld entfernte bzw. von ihm entfernt wurde, hätte sich nun eigentlich wieder beruhigen und zur Normalität zurückkehren können. Doch bei vielen, bei einer zunehmenden Zahl von Soldaten war dies nicht der Fall. Sie behielten ihre “Symptome” auch in der Etappe. Sie waren plötzlich taub oder stumm geworden, sie zitterten und schlotterten, sie konnten nicht mehr sprechen – und für all diese und ähnliche “Symptome” ließen sich keine körperlichen Ursachen identifizieren.

Andere Soldaten hatten sich im Schlachtgetümmel an der Front noch halbwegs im Griff, entwickelten ihre “kriegsneurotischen Symptome” erst in einer ruhigeren Umgebung. Diese bildeten, wenn man den einschlägigen Berichten von Zeitzeugen und den Analysen psychiatrischer Lehrbücher aus dieser Zeit Glauben schenken will, sogar die größere Gruppe der betroffenen Frontkämpfer.

Die “erkranken” Soldaten begaben sich nunmehr erneut in Gefahr, aber nicht an der Front, sondern im Behandlungszimmer des Militärarztes.  Der Arzt hätte nämlich folgende Diagnosen stellen können:

  1. Zwei Wochen Ruhe, dann zurück an die Front.
  2. Der Mann ist ein Simulant. Kriegsgericht; evtl. Todesstrafe, standrechtliche Erschießung.
  3. Der Mann ist psychisch krank, ab nach Hause.

Nur die Diagnose 3 entsprach dem Selbsterhaltungstrieb des “erkrankten” Soldaten und es war keineswegs sicher, dass er sie auch erhielt. Man setzte sich also einer erheblichen Gefahr aus, um einer noch größeren Gefahr zu entkommen.

Selbstverständlich zeigten einige der Soldaten auch Krankheitszeichen, die auf körperliche Ursachen, beispielsweise auf Schädigungen des Nervensystems durch Kriegseinwirkungen, zurückzuführen waren. Die militärpsychiatrischen Lehrbücher aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen, welche große Sorgfalt der Differentialdiagnose gewidmet wurde. Einige wurden als Simulanten erkannt und der Militärgerichtsbarkeit zugeführt. Doch bei einer beträchtlichen Zahl der Betroffenen gelangten die Ärzte zu dem Schluss, dass keine bewusste Täuschungsabsicht vorlag (5).

Aus der Art der “Erkrankung” konnte man oftmals die unbewusste Bedeutung der “Symptome” erschließen:

  • “Ich zittere, kann nicht schießen!”
  • “Ich bin blind, kann nicht zielen!”
  • “Ich bin taub, ich kann die Befehle nicht hören!”
  • “Ich bin stumm, ich kann Kameraden nicht warnen!”
  • “Ich bin lahm, kann nicht marschieren!”
  • Klartext: ”Ich bin zu krank für die Front!”

Diese Reaktionen, so schrieb Rivers (1), seien die Äquivalente des Totstellens bei Tieren angesichts eines hoffnungslos überlegenen Fressfeindes. Bei diesen “Symptomen” handelt es sich selbstverständlich um eine metaphorische Form des Totstellens, weil “richtiges” Totstellen im Kugelhagel an der Front eben aus vielen Gründen kaum möglich ist. Dies lässt in der Regel weder der Feind, noch der eigene militärische Vorgesetzte zu. Daher bildete sich als Ersatz u. U. das “psychisch kranke” Totstellen des Kriegshysterikers heraus. Es erfolgte im Übrigen, wie bereits erwähnt, bemerkenswerterweise oft gerade nicht in der unmittelbaren Gefahrensituation des Krieges an der Front, sondern außerhalb dieses Rahmens, wenn die Rückkehr in diese unmittelbare Gefahrensituation drohte.

Unbewusste Inszenierungen

So etwas zeigt sich nicht nur im Kriege, sondern immer da, wo sich Menschen in vergleichbaren Situationen befinden wie an der Front – also im Fall ernsthafter Gefährdungen des eigenen Lebens oder der psychischen Integrität. Man denke beispielsweise an sexuellen Missbrauch, wo das Opfer nicht flüchten und nicht angreifen kann.  Der Psychoanalytiker Stavros Mentzos spricht von einem “hysterischen Modus der Konfliktverarbeitung” und schreibt hierzu:

“Der Betreffende versetzt sich innerlich (dem Erleben nach) und äußerlich (dem Erscheinungsbild nach) in einen Zustand, der ihn sich selbst quasi anders erleben und in den Augen der umgebenden Personen anders, als er ist, erscheinen lässt. Er versetzt sich in einen Zustand, in dem die eigenen Körperfunktionen und/oder psychischen Funktionen und/oder Charaktereigenschaften in einer solchen Weise erlebt werden und erscheinen, dass schließlich eine (angebliche) andere, eine quasi veränderte Selbstrepräsentanz resultiert.

Diese unbewusst angestrebte Änderung des eigenen Selbsterlebens und des eigenen Erscheinungsbildes erfolgt nicht richtungslos. Sie geschieht nicht in ubiquitärer und unspezifischer Weise, sie bezweckt ausgesprochen und zielgerichtet die neurotische Entlastung von einem intrapsychischen Konflikt. Sie kann als eine unbewusste tendenziöse Inszenierung mit dem genannten ‘Ziel’ verstanden werden.” (2)

Der Konflikt beim “kriegsneurotischen” Soldaten besteht zwischen dem Streben, sich selbst zu erhalten sowie dem Wunsch, ein guter Patriot zu sein und mit seinem Leben fürs Vaterland einzustehen. Der Konflikt eines missbrauchten Kindes zwischen seiner Furcht vor den Übergriffen des Vaters und seiner Liebe zu ihm ist ein weiteres Beispiel für seelische Phänomene, die nicht selten im “hysterischen Modus” bewältigt werden. Diese Form der Konfliktbewältigung kann auch fortbestehen, wenn die aktuelle Bedrohung nicht mehr gegeben ist – vor allem dann, wenn sie der Reflexion entzogen bleibt.

Da ich der Psychoanalyse skeptisch gegenüberstehe, verwende ich ihre Begriffe, und so auch den Begriff des “Unbewussten” mit großer Vorsicht. Anders als vielleicht manche Psychoanalytiker will ich damit nicht sagen, dass die betroffenen Menschen keinerlei Zugang zu den ins Unbewusste verdrängten Inhalten hätten und durch diese gesteuert würden wie Roboter. Vielmehr glaube ich, dass diese Menschen durchaus vermerkt haben, was sie antreibt, aber sie denken nicht darüber nach und ziehen daraus auch keine Schlüsse. Dieses Verhalten scheint ihnen die beste aller Alternativen zu sein, die sich ihnen in einer gegebenen Situation eröffnen. Auch dieser Anschein unterliegt natürlich nicht der kritischen Überprüfung.

Der Kriegsneurotiker beispielsweise, der zittert, sagt damit unbewusst: Schaut her, ich bin so krank, ich kann nicht schießen. Das Zittern ist ein Beschwörungsritual. Es soll den Arzt beschwören, ihn als krank einzustufen und ihn in die Heimat zurückzuschicken. Der Kriegsneurotiker kann sich das nicht klarmachen, denn, täte er dies, so müsste er ja als guter Patriot freiwillig zurück an die Front.

Wir sehen hier, dass nicht eigentlich das Trauma die Störung hervorruft, sondern die Reaktion der Umwelt auf die spontanen Verhaltensweisen nach dem Trauma. Der hysterische Modus der Konfliktverarbeitung, also die unbewusste Inszenierung wird überhaupt nur verständlich, wenn man sich die Erwartungen und Denkweisen, die Vorurteile und Glaubenssätze des “Publikums” vor Augen führt. Die Inszenierung ist eine unbewusste Mitteilung an dieses Publikum. Die Bedeutung des Publikums wird auch durch die Tatsache unterstrichen, dass es während des 2. Weltkriegs weitaus weniger Kriegsneurotiker in den Streitkräften der Sowjetunion gab als in denen der Vereinigten Staaten (6).

So bizarr und skurril, irrational und läppisch eine psychische Störung auch immer erscheinen mag – sie beruht auf dem Versuch einer Problemlösung, der in der gegebenen Situation subjektiv und mitunter auch objektiv die beste aller Möglichkeiten ist. Der so genannte psychisch Kranke ist nicht wirklich krank, in dem Sinne, dass er einem Prozess unterläge, den er nicht zu steuern vermöchte. Im Gegenteil: Er übernimmt die Rolle des “psychisch kranken” aus nachvollziehbaren Gründen, beispielsweise, um eine reale Gefahr zu vermeiden wie der “Kriegsneurotiker”. Auch wenn der “psychisch Kranke” ein Schauspieler ist und entsprechend agiert, so unterscheidet er sich von einem professionellen Schauspieler u. a. dadurch, dass es, anderes als bei Letztgenanntem, zu seiner Rolle gehört, sich sein Rollenspiel nicht klar vor Augen zu führen.

Es ist also absurd, von “psychischen Krankheiten” zu sprechen, weil Anpassungsreaktionen, die unter den jeweils gegebenen Bedingungen durchaus sinnvoll sind, nicht als krank gedeutet werden sollten. Ein Mädchen beispielsweise,

  • das vom Vater sexuell missbraucht wird und dass daraufhin seine Persönlichkeit spaltet,
  • indem es in der Schule die brave, unauffällige Schülerin und im Bett die Lolita darstellt,
  • dieses Mädchen rettet durch die Entwicklung einer “Multiplen Persönlichkeitsstörung” unter Umständen tatsächlich sein Leben.
  • Denn es könnte ja sein, dass es der Vater, wie angedroht, tatsächlich totschlägt, wenn es sich weigert, ihm sexuell zu Diensten zu sein, oder ihn gar verrät.

Wie pervers es da doch ist, von “psychischer Krankheit” zu sprechen.

Es handelt sich hier im Übrigen um “unbewusste” Inszenierungen und nicht um bloße Konditionierungen. Die Betroffenen sind ja zu komplexen Anpassungsleistungen an wechselnde Situationen mit hohem Anforderungscharakter gezwungen. Auf Basis von Automatismen ist das gar nicht möglich.

  • Das Mädchen, das sich als multipel inszeniert, muss ja in der Schule, um nach einer Nacht als Lolita im Bett des Vaters eine brave Schülerin darstellen zu können, der Lehrerin aufmerksam folgen und Anzeichen der seelischen Folgen des Missbrauchs erfolgreich dissimulieren.
  • Der hysterische Frontsoldat muss ja während der Untersuchung im militärärztlichen Behandlungsraum möglichst stimmig auf die diversen diagnostischen Maßnahmen des Arztes reagieren.

Menschliches Verhalten wird überwiegend durch Pläne bestimmt, die bewusst oder “automatisch” verwirklicht werden können. Mitunter geraten unterschiedliche Pläne auch in Konflikt zueinander. Da will einer beispielsweise ein guter Patriot sein und sich im Krieg bewähren. Aber er will auch sein Leben retten. Mitunter kann dieser Konflikt nur  durch eine unbewusst produzierte “Krankheit” bewältigt werden, z. B. durch eine so genannte Kriegsneurose.

Der gute Patriot kann den Wunsch, den Gräueln der Front zu entkommen, nicht bewusst ausleben, weil er dann ja ein Simulant, ein schlechter Patriot wäre und überdies natürlich fürchten müsste, standrechtlich erschossen zu werden. Daher verdrängt der “echte” Kriegsneurotiker den Konflikt zwischen Selbsterhaltungstrieb und Patriotismus; das Resultat ist die “Krankheit”: er wird stumm, blind, taub, lahm, zittert.

Dies ist der Motor jeder Verdrängung.

  • Wenn jemand beispielsweise den Wunsch verdrängt, seinen Chef zu verprügeln, so geschieht dies aus unbewusster Furcht vor den Konsequenzen einer entsprechenden Handlung.
  • Wenn jemand an der Front im Kugelhagel den Wunsch verdrängt zu desertieren, so treibt ihn natürlich die unbewusste Furcht vor dem Standgericht dazu.
  • Wenn ein sexuell missbrauchtes Kind seine Persönlichkeit spaltet, so treibt es die unbewusste Furcht davor dazu, dass der Täter seine Drohungen wahrmacht.

Die so genannte “psychische Krankheit” ist nun der unbewusste (also der meist zwar vermerkte, aber nicht reflektierte) Kompromiss. Mit ihr zieht man sich aus der Affäre. Das hat zwar einen Preis. Aber das Unbewusste ist bereit, diesen Preis zu zahlen, wenn es glaubt, damit billiger wegzukommen als durch jede andere Problemlösung. Wie bereits erwähnt, ist mit dem Unbewussten eine gleichsam wissende Form des Nicht-Wissens gemeint. Man stellt sich dumm und zu dieser Rolle gehört es, so zu denken und zu handeln, als wisse man gar nicht, dass man sich dumm stellt.

Während ich an der Existenz eines Freudschen Unbewussten, das Produkt von Verdrängung ist, durchaus zweifele, stelle ich doch nicht in Frage, dass an den meisten Hirnprozessen mit Bezug auf unser Verhalten und Erleben das Bewusstsein gar nicht beteiligt ist. Das menschliche Nervensystem ist eine komplizierte “Maschinerie” und nur ein kleiner Teil seiner Arbeit wird bewusst. Im Allgemeinen umgeht das Gehirn das Bewusstsein, wenn dessen Einschalten zu suboptimalen Ergebnissen führen würde.

  • Wenn ein wildes Tier auftaucht, dann muss man  schnell flüchten, angreifen oder sich tot stellen. Da kann man nicht lange überlegen. Die unbewussten Teile des Gehirns übernehmen die Aufgabe der Entscheidung unter Umgehung des Bewusstseins.
  • Wenn der Hass auf den Chef ein solches Ausmaß erreicht hat, dass ein Bewusstsein dieses Affekts zu unkontrollierten Wutausbrüchen führen könnte, dann entscheidet sich das Gehirn mitunter, dieses Hassgefühl vom Bewusstsein fernzuhalten.

Solche Prozesse können durchaus dem Bewusstsein vollständig entzogen sein. Dies bedeutet aber nicht, dass sie dem Bewusstsein nunmehr nur durch eine Psychoanalyse wieder zugänglich gemacht werden könnten. Wir können, wenn wir darüber nachdenken, durchaus eine zutreffende Antwort darauf geben, warum wir auf das Tier beispielsweise mit Flucht reagiert und warum wir die Wut auf den Chef unterdrückt haben. Wenn wir dies aber nicht mehr können, dann ist das oft ein untrügliches Anzeichen dafür, dass wir die Rolle des “psychisch Kranken” übernommen haben.

Da hilft kein Arzt

Mitunter wird die Rolle des “psychisch Kranken” weitergespielt, auch wenn die Gefahr längst gebannt ist. Dies wird der Fall sein, wenn der Betroffene nicht erkennt, dass ihm keine Gefahr mehr droht, oder wenn ihm sein Rollenspiel über die Meisterung der Gefahr hinaus Vorteile gebracht hat. Da hilft kein Arzt. Da helfen nur korrektive emotionale Erfahrungen, u. U. in einem wohlwollenden und verständnisvollen Umfeld.

Hier höre ich häufig den Einwand, dass Traumatisierte doch oft erheblich unter ihren grausamen Erfahrungen leiden würden. Dies spreche doch dafür, dass diese Erlebnisse eine Krankheit ausgelöst hätten. Meine Interpretationen seien kalt, über-rational, ich solle doch mein Herz sprechen lassen. Das Konstrukt “psychische Krankheit” erklärt dabei allerdings weder die Natur, noch die Dauer, noch die Intensität dieses Leidens. Es ist völlig willkürlich, solchen abscheulichen Vorgängen das Etikett “psychische Krankheit” anzupappen, als würde dadurch irgend etwas besser, und sei es auch nur, besser verständlich. Gerade weil ich mein Herz sprechen lasse, möchte ich meine Mitmenschen vor derartigen, selbstentmutigenden Konstrukten warnen.

Ich brauche dieses Konstrukt nicht, um das Leiden eines Opfers solcher Grausamkeiten zu verstehen und ich brauche es auch nicht, um mich gegenüber Opfern solcher Grausamkeiten angemessen zu verhalten. Die grausame Tat kann zur Entwicklung eines spezifischen Lebensstils führen, der als Antwort auf sie verstanden werden kann, als Bewältigungsversuch. Dieser Lebensstil aber wird zunehmend unabhängig vom ursprünglichen Anlass (dem Trauma) und wird zu einem Bewältigungsversuch von Lebensproblemen schlechthin. Es kann natürlich sein, dass dieser Lebensstil anderen als rätselhaft und normabweichend (deviant) erscheint – anderen beispielsweise, die das Schicksal dieses Menschen nicht kennen oder denen die notwendige Empathie fehlt.

Das Etikett “psychisch krank” wird die Situation der Betroffenen mit Sicherheit nicht verbessern. Oder präziser formuliert: Nur wenn Opfer von “Traumatisierung” gezwungen werden, sich – bewusst oder unbewusst – als “psychisch krank” zu inszenieren, um Hilfe zu erhalten, dann verbessert sich ihre Situation durch diese Inszenierung objektiv – aber in einer Weise, die als pervers zu klassifizieren ich mich nicht scheue.

Auch der Begriff “Traumatisierung” ist im Grunde unangemessen, weil er letztlich nichts anderes ist als die Medikalisierung der Folgen einer Straftat oder der verwerflichen Neigung von Völkern, Kriege gegeneinander zu führen. Das betroffene Kind, der betroffene Soldat mussten schreckliche, grausame Erfahrungen durchleiden und diese schrecklichen, grausamen Erfahrungen lassen die Geschädigten oftmals das ganze spätere Leben nicht mehr los. Das ist nicht krank, das ist normal!

Thesen

Seitdem die Feministinnen das Trauma für sich entdeckt haben, hat sich die Zahl der Forschungsarbeiten zu diesem Thema vervielfacht. Es ist im Grunde unmöglich, hier auch nur einigermaßen den Überblick zu behalten. Auch ich konnte nur Stichproben ziehen, aber was ich las, bestärkte mich in der Ansicht, dass wir trotz dieser wahren Flut an Studien und Überlegungen zum Zusammenhang von Traumata und “gestörtem Verhalten” über reichlich wenig empirisch erhärtete Erkenntnisse verfügen.

Daher erlaube ich mir, hier einige spekulative Thesen vorzutragen, die den Stand meiner Überlegungen zu dieser Problematik zusammenfassen und die ich als vorläufig betrachte:

  1. Wie alle psychiatrischen Begriffe krankt der Terminus “psychisches Trauma” an seiner Vagheit. Was soll man sich unter einer psychischen Verletzung vorstellen, wenn noch nicht einmal klar gesagt werden kann, was denn die Psyche sei. Wir alle haben eine deutliche, bildhafte Vorstellung davon, was eine körperliche Verletzung ist. Unsere innere Galerie quillt über vor Bildern von Unfällen und Gewalttaten. Doch eine seelische Verletzung ist offenbar etwas sehr Abstraktes, wenig Anschauliches. Allenfalls können wir uns das Verhalten von Menschen vorstellen, die unter einer psychischen Verletzung leiden. Doch das ist keine Vorstellung der Verletzung, die partout nicht vor unserem inneren Auge erscheinen will, was uns bei richtigen Verletzungen mühelos gelingt.
  2. Natürlich weiß dennoch jeder, was gemeint ist, wenn von psychischer Traumatisierung gesprochen wird. Der schiere, pure, reine, kristalline Schrecken ist jedem vertraut, sei es aus eigener Erfahrung oder sei es als Ausgeburt der Fantasie. Auch wenn der Begriff der psychischen Traumatisierung vage ist, so könnte die Realität dessen, worauf er sich bezieht, nicht präsenter, nicht krasser sein. Diese Realität ist sogar so brutal gegenwärtig, wühlt das Bewusstsein derart heftig auf, dass viele Menschen eher nicht geneigt sind, allzu viel Zeit darauf zu verwenden, ihre Natur zu ergründen. Als ich vor vielen Jahren als junger Psychologiestudent ein Praktikum in der Sicherheitsabteilung eines Industriebetriebes machte, fragte ich den Sicherheitsingenieur, warum man denn keine Plakate mit drastischen Darstellungen typischer Unfälle zur Abschreckung aufhänge. Der Mann lächelte milde und sagte: “Weil dann die Leute sofort abschalten!”
  3. Auch weil die Leute sofort abschalten, können Trauma-Experten mit seltsamen Ideen im Trüben fischen. So wird beispielsweise behauptet, ein psychisches Trauma sei die direkte, automatische Folge eines Ereignisses, das zu einer starken seelischen Erschütterung führe und mit den Gefühlen der Hilflosigkeit verbunden sei. Doch dies widerspricht jeder Erfahrung. Wer ein solches, schreckliches Ereignis wie beispielsweise eine Naturkatastrophe erlebt hat und durch dieses Phänomen seelisch aufgewühlt wurde, der putzt sich das häufig mehr oder weniger schnell von der Backe, wenn er es körperlich halbwegs unbeschadet überstanden hat und freut sich darüber, noch einmal davon gekommen zu sein.
  4. Um ein psychisches Trauma entstehen zu lassen, reicht eine schreckliche Erfahrung allein nicht aus. Der Mensch ist zäh, ihn wirft so leicht nichts aus der Bahn. Als die Menschheit aus dem Tier-Mensch-Übergangsfeld hervorging, da lebten die Menschen in Clans, in solidarischen Kleingruppen zusammen. Sie waren aufeinander angewiesen, niemand konnte es sich leisten, aus der Reihe zu tanzen, und alle mussten einander beistehen, wenn der Stamm, auf den man auf Gedeih und Verderb angewiesen war, überleben sollte. Diese Frühmenschen waren beständig den Naturgewalten ausgesetzt und schreckliche Erfahrungen gehörten zum Alltag. Man hielt zusammen, versuchte, die Gefahren zu meistern, tröstete einander, gab einander Schutz. Unsere Erbanlagen bilden dieses basale Verhalten bei Katastrophen ab; darauf sind wir genetisch vorbereitet.
  5. Ein psychisches Trauma entsteht durch Abweichung von diesem Grundmuster. Beispiele: Ein Vater penetriert seine siebenjährige Tochter, sie  hat fürchterliche Angst und Schmerzen, hinterher droht er ihr, sie umzubringen, wenn sie etwas darüber verrate. Bei einer Havarie bricht Chaos aus, die Mannschaft versagt und der Kapitän verlässt als erster das sinkende Schiff. Das ist der Stoff, aus dem die Traumen sind. Nicht der extreme Stress traumatisiert, sondern menschliches Fehlverhalten im Zusammenhang mit dieser Erfahrung. Aufgrund der bereits beschriebenen genetischen Prägung sind wir Menschen in Extremsituationen hochgradig aufnahmebereit für die Mitteilungen unserer Mitmenschen. Dies ist auch der Grund, warum bei jeder Erfolg versprechenden Gehirnwäsche die Opfer extremem Stress ausgesetzt werden.
  6. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ein psychisches Trauma spontan vergessen wird. Etwas derart Ungeheuerliches vergisst man einfach nicht. So etwas brennt sich unwiderruflich ins Gedächtnis ein. Betroffene werden oft ein Leben lang von solchen Erinnerungen gequält, und dies nicht selten jeden Tag. Falls sich Opfer seelischer Traumatisierung dennoch nicht daran erinnern können, so wurden sie dressiert zu vergessen. Gehirnwäscher beispielsweise konditionieren durch Suggestionen und Folter künstliche Gedächtnisblockaden, meist unterstützt durch den Einsatz von Drogen und Elektrokrampfbehandlungen. Doch solche artifiziellen Amnesien sind naturgemäß selten; in aller Regel leiden die Betroffenen unter unauslöschlichen, bleibenden Erinnerungen.
  7. Besonders gravierend sind seelische Verletzungen, wenn das Fehlverhalten von Menschen begangen wird, denen das Opfer vertraut, die es liebt, von denen es dauerhaft abhängig ist. Traumatisierungen infolge des Fehlverhaltens emotional neutraler Personen sind leichter zu überwinden als solche, bei denen Opfer und Täter eine emotionale Beziehung verbindet. Im Allgemeinen ist es nicht möglich, derartige Traumatisierungen zu “heilen”; in aller Regel müssen die Opfer unausweichlich mit ihren quälenden Erinnerungen und den damit eventuell verbundenen Beeinträchtigungen bis an das Ende ihrer Tage leben.
  8. Es mag unter den Bedingungen einer solchen Traumatisierung als die beste Alternative erscheinen, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Und dies auch dann, wenn eine solche Rollenübernahme nicht mehr der Vermeidung von Gefahren dient. Eine Frau beispielsweise, die ihre Kindheit und frühe Jugend in der Furcht vor einem handgreiflichen Vater verbrachte, hat u. U. Verhaltensmuster ausgeprägt und beibehalten, die ihre Mitwelt ratlos machen oder Spott herausfordern. Wenn sie nun die Rolle der “psychisch Kranken” übernimmt, so ist ihre seltsame Art zumindest erklärt und weitere Vorteile können zur Übernahme und Beibehaltung dieser Rolle motivieren. Ich will niemanden verurteilen, der sich auf ein solches Spiel einlässt; allein, es will mir scheinen, dass dies kein menschenwürdiges Leben ist.
  9. Die Opfer von schwersten Traumatisierungen dieser Art haben nur eine Chance, ein halbwegs menschenwürdiges Leben zu führen. Diese besteht darin zu lernen, aufrecht mit den Auswirkungen zu leben. Die Grundvoraussetzung dafür ist, sich zu seinen Hassgefühlen und zu seinen Rachegedanken zu bekennen. In der Frühzeit des Menschengeschlechts wurden Stammesmitglieder, die im Notfall in unverzeihlicher Weise gegen die Gebote der Solidarität verstießen, erbarmungslos aus dem Clan ausgeschlossen und “in die Wüste geschickt“. Die Tendenz, so zu reagieren, ist uns angeboren. Ein schwer Traumatisierter darf diese Impulse nicht unterdrücken. Versöhnung ist Gift.
  10. Falls Betroffene Opfer gewaltsam eingepflanzter Gedächtnisblockaden sind, so ist es entscheidend, dass die Erinnerungslücken soweit wie möglich geschlossen werden. Es muss auf jeden Fall versucht werden, die durch Gedächtnisarbeit wiedererlangten Erinnerungen zu verifizieren. Es ist verheerend, sie als so genannte “narrative Wahrheiten” zu verbuchen, sie also im Vagen zu belassen. Dies kommt nämlich einer Re-Traumatisierung gleich, denn das Entwerten einschlägiger Erinnerungen gehörte ja auch zu den Zielen der Täter.
  11. Der Lebensstil schwer traumatisierter Menschen ist keine psychische Krankheit, sondern eine Variante menschlichen Daseins, die durch die Geschichte und die Bedingungen dieses Daseins vollständig erklärt wird. Psychopathologische Zusatzannahmen sind nicht nur irreführend und überflüssig, sie sind auch eine indirekte Exkulpation der Täter, weil sie einen Teil der Auswirkungen des Verbrechens durch eine besondere (meist als ererbt vorgestellte) Vulnerabilität des betroffenen Individuums erklären.

Zum Abschluss meiner Meditationen mag ich nicht verhehlen, dass selbstverständlich das Rollenspiel der traumatisierten “Kranken” auch ein Versuch sein kann, den Verdacht der Feigheit von sich abzuwenden. Der “Kriegshysteriker” sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, zu feige zum Heldentod oder zur Desertion gewesen zu sein. Die in ihrer Kindheit missbrauchte Frau sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, zu feige dazu gewesen zu sein, den Täter vor Gericht zu ziehen und den Prozess gegen ihn durchzustehen. Wer jedoch krank ist, den trifft keine Schuld – er hatte, ohne eigenes Zutun, nicht die Kraft dazu, seinen Mann oder seine Frau zu stehen.

Hier kommen Therapeuten und Therapeutinnen ins Spiel, die mit etwaigen Schuldgefühlen zu spielen verstehen wie auf einem Piano. Die tröstenden Worte laufen darauf hinaus, dass sich niemand für seine Krankheit schämen müsse. Auf die Idee, dass diese Scham nicht durch eine nur eingebildete, sondern durch eine tatsächliche Schuld hervorgerufen wurde, kommen sie nicht. Damit berauben sie ihre Patienten und Patientinnen der Chance, sich mit dieser existenziellen Dimension ihres Daseins auseinanderzusetzen. In einem existenziellen Sinn kann man auch versagen angesichts einer Bedrohung durch einen übermächtigen Aggressor. Das Versagen besteht darin, nicht das heroische Scheitern riskiert zu haben.

Schuldgefühle, die evtl. durch Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken” gebannt werden sollen, sind der Preis für die Weigerung, diese keineswegs nur fantasierte Schuld einzuräumen. Der Preis dafür kann hoch sein, sehr hoch. Manche schleppen sich, gebeutelt von den entwürdigenden “Symptomen psychischer Krankheiten”, durchs Leben, weil sie lieber diese Rolle spielen, als sich zu ihrer Schuld zu bekennen, sie auf sich zu nehmen, ihre Last auf den Schultern zu spüren und – sie sich dann zu verzeihen.

Anmerkungen

(1) (Rivers, W. H. R. (1920). Instinct and the Unconscious. A Contribution to a Biological Theory of the Psycho-Neuroses. Cambridge: Cambridge University Press).

(2) Mentzos, S. (1980, 2004): Hysterie. Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen)

(3) Masson, J. M. (1984). Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmend Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie. Reinbek: Rowohlt

(4) Shephard, B. (2001). A War of Nerves: Soldiers and Psychiatrists in the Twentieth Century. Harvard: Harvard University Press

(5) vgl. z. B. Roussy, G. (1918). The Psycho-Neuroses of War. London: University of London Press

(6) Gabriel, R. A. (1988). The Painful Field. The Psychiatric Dimension of Modern War. New York, Westport, Con., London: Greenwood Press

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