Eigentum
Ich setze als gegeben voraus: Über die Frage, ob die Außenwelt unabhängig von unserem Bewusstsein existiert, können wir philosophieren, bis wir zu Staub zerfallen. Der Staub ist dann die letztgültige Antwort auf diese Frage. Es gibt also keine Antwort zu Lebzeiten.
Über die Frage, ob unsere Innenwelt unabhängig von unserem Bewusstsein existiert, müssen wir nicht philosophieren, können wir nicht philosophieren, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten. Ich denke, also bin ich; ich fühle, also bin ich; und wenn all dies mein Gehirn tut, dann bin ich selbst mein Gehirn.
Unsere Innenwelt ist unser Eigentum. Sie ist uns eigentümlich. Daher teilen wir sie mit niemandem. Sie mit jemandem zu teilen, ist nicht möglich. Allerdings wird sie von Wesen bevölkert. Diese Wesen – ich nenne sie Avatare – können von Außen nicht in unsere Innenwelt gelangt sein; denn unsere Außenwelt ist durch eine unüberwindbare Grenze von der Innenwelt abgeschottet. Dies liegt daran, dass in unserer Innenwelt nur Kreationen unseres Ichs lebensfähig sind; die anderen aber, unsere Mitmenschen, zählen nicht zu den Produkten unseres Geistes. Sie sind eigensinnig, so wie wir.
Avatare
Dennoch finden sich in unserer Innenwelt Avatare, die realen Menschen in der Außenwelt nachgebildet wurden, zum Beispiel Vater und Mutter. Wenn wir noch halbwegs bei Trost sind, so wissen wir natürlich, dass es sich bei diesen Phantomen nicht um wirkliche Menschen, sondern nur um Fantasien, um Ausgeburten unseres Geistes handelt. Trotzdem gehen wir in unserer Innenwelt oftmals mit ihnen so um, als ob sie real wären. Mitunter gehorchen wir sogar ihren Befehlen, selbst dann, wenn sie seit vielen Jahren tot sind – in der Außenwelt; ihre Avatare leben weiter.
Der Begriff “Avatar” wird hier von mir in Anlehnung an den psychoanalytischen Terminus der Introjektion verwendet (10). Grob vereinfacht gesagt: Der Mensch neigt dazu, in der Fantasie alles in sich aufzunehmen, was Lust spendet und in der Gegenbewegung alles, was in der Innenwelt Unlust hervorruft, nach außen, meist in andere Personen zu projizieren. In Abweichung von Freudschen Verständnis können nach meiner Auffassung Avatare (Introjekte) nicht nur Lustquellen sein, sondern auch Unlustquellen, die man u. U. dennoch nicht aus sich zu verbannen vermag.
Auch Psychiater oder psychologische Psychotherapeuten können zu Avataren werden. Ihre Repräsentanten in der Innenwelt sagen dann beispielsweise: “Nimm deine Pillen!” oder “Atme dreimal kräftig durch!” Was auch immer sie sagen: Betroffene sollten sich davor hüten, mit Avataren so umzugehen, als ob sie reale Menschen wären. Sie sind es nicht. Wenn wir ihnen gehorchen, so ist dies ein sicheres Zeichen dafür, dass wir uns selbst versklavt haben.
Wenn wir nicht weiter darüber nachdenken, dann haben wir das Gefühl, als ob die Avatare in unserer Innenwelt 1:1 Repräsentanten realer Menschen in der Außenwelt seien, an die wir uns erinnern. Doch das ist keineswegs der Fall. Es handelt sich um Konstrukte, um Hirngespinste. Sie sind Gebilde aus Erfahrung, subjektiv. Wir können und wir sollten uns überlegen, warum wir diese Erfahrungen so und nicht anders zu Avataren verdichtet haben.
Im Allgemeinen sind die Vorbilder unserer Avatare unschuldig daran, wie sie sich in unserem Kopf einnisten. Sie dachten nicht im Traum daran, dort in einer bestimmten Weise ein Eigenleben als Phantome zu führen. Manche reale Personen legen es aber darauf an, sich in unserer Innenwelt zu installieren. Oft merken wir das gar nicht. Und das ist schlecht. Wenn uns andere versklavt haben, wenn wir, trotz heldenhafter Gegenwehr, schlussendlich unterlegen sind und uns in unser Schicksal fügen mussten, so ist dies keine Schande, kein Makel. Doch wehe, man unterwirft sich Avataren. Welch eine Schmach!
Es ist eine Frage der Ehre, Avatare in ihre Schranken zu weisen. Sie sind Schauspieler in unserem inneren Theater. Wir sind die Regisseure. Wir gestatten ihnen ein gewisses Eigenleben, solange sie im Großen und Ganzen nach unserer Pfeife tanzen. Wir sind die Autoren des Skripts, an das sie sich zu halten haben. Doch wenn die Zügel dem Autor-Regisseur aus der Hand gleiten, droht Unheil, arges Unheil. Auf unsere Außenwelt haben wir oft nur wenig Einfluss. Wir müssen schlussendlich hinnehmen, was dort geschieht. Doch in unserer Innenwelt sind wir die absoluten Herrscher. Hier dürfen wir uns von niemandem vom Thron stoßen lassen.
Wenn Avataren die feindliche Übernahme unserer Innenwelt gelingt, dann ist dies in jedem Fall ein Zeichen für charakterliche Mängel, die es zu überwinden gilt. Denn letztlich haben wir uns dazu entschieden, ihnen einen Platz in unserer Innenwelt einzuräumen, der ihnen nicht gebührt. Ein guter Charakter ist nicht so ehrlos, sich solcher Fremdherrschaft zu fügen, ohne Not. Die Gedanken sind schließlich frei. Mitunter aber wird dieser Ehrverlust auch von außen gefördert, beispielsweise dadurch, dass Aggressoren durch Drohungen, finstere Prophezeiungen und vor allem durch Schmeicheleien und andere Lügen das innere Reich sturmreif schießen.
Wie Bomben werfen psychologische Psychotherapeuten und Psychiater ihre Worte und Pillen in die Innenwelt ihrer Klienten und Patienten, um durch die Explosionen den Boden unter den Füßen der inneren Selbst-Avatare schwankend zu machen. Ja, auch “wir” sind Avatare in unserer Innenwelt. Sind wir dort wehrlos, sind wir dort charakterschwach, dann nur, weil wir (in der Außenwelt) das so wollen, bewusst oder unbewusst. Und das ist frevelhaft. Wir müssen auch für unser Unbewusstes gerade stehen.
Eine Mutter schlägt ihr Kind, das angeblich faul und böse war, und brüllt dabei: “Nimm dir ein Beispiel an deinem Cousin Karl-Georg, der hat immer gute Noten in der Schule!” Wenn das Kind nicht sehr stark, wenn sein Widerstand gegen mentale Versklavung nicht kraftvoll ist, dann wird Karl-Georg bei ständiger Wiederholung solcher Vorgänge zum einem Avatar, der Macht in der Innenwelt des Kindes auszuüben vermag.
Ob Kabarett oder große Bühne – in unserer Innenwelt ist immer Theater. Geschickte Manipulateure wissen, welche Stücke besonders gut ankommen. Sie versuchen beispielsweise, sich selbst als Avatar des edlen Ritters in unserer Innenwelt zu etablieren und unseren Selbst-Avatar zur Jungfrau zu machen, die es vor dem bösen, Feuer speienden Drachen zu erretten gilt. Nicht nur durch Gewalt, sondern auch durch Verführung, durch vergiftete Liebe kann sich ein Täter in die Innenwelt seines Opfers schmuggeln, genauer, kann er sein Opfer dazu verleiten, den Täter als machtvollen Avatar, als Phantom in seiner Innenwelt zu konstruieren.
Leviathan
Was wie ein Spiel erscheint, sei es, wie Firlefanz und Bühnenzauber, sei es, wie große Oper, kann bitterer, blutiger Ernst werden, wenn der Betroffene sich den Fiktionen in seiner Innenwelt nicht mehr zu entwinden vermag, wenn er zum mentalen Sklaven geworden ist. Die hypnotische Kraft solcher Spiele ist gewaltig; man sollte das nicht unterschätzen.
Alle Avatare, die Anweisungen geben oder auch nur Ratschläge erteilen, sind höllische Abgesandte Leviathans – ganz gleich, hinter welcher Maske sie sich verbergen, ob als väterlicher, vollbärtiger Psychiater oder als nette, junge, ein wenig hilflose Psychotherapeutin. Leviathan duldet keine freie Innenwelt. Er versucht, sie durch Avatare zu kolonisieren. Die Avatare Leviathans sind böse, sehr böse. Ein schlimmer Finger ist, wer ihnen gestattet, böse zu sein.
Das biblisch-mythologische Seeungeheuer Leviathan wird in Thomas Hobbes’ gleichnamigen Buch zum Inbegriff der Allmacht des Staates, gegen den jeder Widerstand zwecklos ist. Wie wir wissen, ist dies nicht der Fall: Es ist möglich, die Macht des Staates zu begrenzen, und in den meisten Verfassungen der modernen, zivilisierten Welt ist das Volk der Souverän. Doch Leviathan will uns dieses Bewusstsein der geteilten Souveränität rauben, durch die Installation von Avataren.
Die Kolonisation der Innenwelt gelingt am besten in totalen Institutionen. In einer totalen Institution hängen die Resultate der Handlungen des Insassen ausschließlich von der Willkür der Menschen ab, denen er ausgeliefert ist. Die geschlossene Psychiatrie ist der Urbild einer totalen Institution. Dort ist man, wenn man von Psychiatern für psychisch krank und gefährlich erklärt wurde. Völlig unabhängig von dem, was man tut oder lässt, entscheiden allein die Psychiater, ob man auch weiterhin psychisch krank und gefährlich ist oder ob man als “geheilt” oder “deutlich gebessert” entlassen wird.
Schon nach wenigen Monaten ist die Seele eines Menschen, der in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurde, in aller Regel überflutet von den Avataren Leviathans. Nur wenigen, sehr wenigen gelingt es, diesem Terror zu widerstehen. Sie sind Helden. Gustl Mollath gehört zu ihnen. Es gehört eine schier unglaubliche Charakterstärke dazu, um diese Kraft aufzubringen, um dies durchzuhalten.
Zum Glück ist Gustl Mollath nicht der einzige Held dieser Art. Es gibt viele, die widerstanden haben. Man vergleiche einmal langjährig psychiatrisch Behandelte mit den Mitgliedern psychiatriekritischer Psychiatrieerfahrenenverbände. Welch ein Unterschied! Und dies ist nicht nur mein subjektiver Eindruck. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass es Menschen ohne psychiatrische “Medikamente” auf lange Sicht deutlich besser geht als mit. Robert Whitacker hat in seinem Buch “Anatomy of an Epidemic” die entsprechenden Beweise dafür zusammengetragen. Dort finden sich zudem empirisch fundierte Erklärungen dafür, warum dies so ist. Auch in dem neuen Werk des Mitbegründers der Cochrane Collaboration, Peter Gøtzsche finden sich in zwei Kapitels empirische Beweise für die überwiegende Nutzlosigkeit dieser Substanzen aus Sicht der Betroffenen (11).
Nach meiner Lebenserfahrung sind Menschen, die erfolgreich die Avatare Leviathans in Schach halten, grundsätzlich lebendiger, fröhlicher, kreativer als Zeitgenossen, die sich ihnen willig ergeben. Die “Anarchisten” sind auch körperlich gesünder, leben länger, haben im Alter weniger Falten und duften bei Vollmond beinahe so zauberhaft wie Neugeborene.
Gehirnwäsche
Es gibt leider sehr brutale und effiziente Methoden, Avatare in der menschliche Seele zu installieren. Mit diesen Methoden wird dem Betroffenen suggeriert, das die beste aller Möglichkeiten, die er noch habe, die völlige Unterwerfung unter den Willen der Bewusstseinskontrolleure sei. Falls die Anwendung dieser Methoden erfolgreich ist, falls sich der Betroffene also zur Unterwerfung entscheidet, wird sich er sich u. U. für souverän halten, obwohl er sich so verhält, als ob er ein Automat wäre. Diese Methoden bezeichnet man als Gehirnwäsche oder neuerdings auch als “trauma-based mind control”.
Jede Erfolg versprechende Gehirnwäsche beruht auf folgendem Grundmuster (1-5):
- Das Opfer wird einer extremen Stress-Erfahrung unterworfen (z. B. durch Folter)
- Durch diese Stress-Erfahrung wird es hochgradig suggestibel.
- Die Suggestibilität wird zudem durch soziale und / oder sensorische Deprivation, Elektrokrampfbehandlungen und geeignete Drogen verstärkt.
- Das Opfer wird in den Zustand der gelernten Hilflosigkeit versetzt, es wird also willkürlich bestraft – unabhängig davon, ob es sich gehorsam zeigt oder Widerstand leistet.
- Sobald es optimal empfänglich und hilflos ist, wird es mit Suggestionen überflutet, die ihm negative und positive Handlungskonsequenzen vor Augen führen (“Wenn Sie X tun, folgt Y, sonst Z”).
- Schließlich werden erwünschte Handlungen systematisch belohnt und unerwünschte bestraft.
Wer sich bisher noch nicht mit dieser Thematik beschäftigt hat, ist vermutlich geneigt, die Anwendung dieses Grundmusters der Folter-Gehirnwäsche im geheimdienstlichen Bereich zu verorten. Doch wer die Spuren verfolgt, die diese Methodik in der Vergangenheit hinterlassen hat, wird beispielsweise auf Peter Riedessers und Axel Verderbers Buch zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie stoßen und dort erfahren, dass deutsche Militärpsychiater nach diesem Grundmuster die so genannten Kriegshysteriker (“traumatisierte” Soldaten) “geheilt” haben. Wer diesen Faden weiter verfolgt, wird schnell erkennen, dass auch Psychiater anderer Länder (8) mit diesen brutalen Methoden operierten, wie beispielsweise der aus Kanada stammende Psychiater Lewis Yealland in England während des 1. Weltkriegs (7).
Die Militärpsychiater des 20. Jahrhunderts elektrisierten ihre Patienten mit starken, sehr schmerzhaften Strömen, um den zur Gehirnwäsche erforderlichen extremen Stress zu erzeugen. Zu diesem Zweck platzierten sie die Elektroden an besonders empfindlichen Körperstellen. Dies ist heute weitgehend aus der psychiatrischen Mode gekommen. Nur noch das Judge-Rotenberg-Educational-Centre in den Vereinigten Staaten hält ungebrochen an dieser Tradition fest. Die Opfer sind hier aber keine Soldaten, sondern Kinder und Jugendliche mit schweren Verhaltensstörungen.
Es ist allerdings möglich, extremen Stress auch ohne Methoden zu erzeugen, die man auf den ersten Blick als Folter zu identifizieren vermag. Mit anderen Worten: In den Augen von Leuten, die diese gern zudrücken, erscheinen Anwender dieses Grundmusters der Gedankenkontrolle nicht als Folterer und Gehirnwäscher, sobald sie Verfahren der Stress-Auslösung einsetzen, die nach heutigen Maßstäben als “medizinische Hilfe” gelten.
Zwangsbehandlung
Nach vorübergehender Ungewissheit aufgrund von Urteilen höchster Gerichte hat der Bundestag inzwischen ein Gesetz verabschiedet, nach dem Zwangsbehandlungen von so genannten psychisch Kranken wieder zulässig sind. Die Bundesjustizministerin (die dieses Amt zur Zeit nur noch kommissarisch verwaltet, die sie aus dem Parlament flog) vertrat in einem Radiointerview die Auffassung, dass die Zwangsbehandlung unter bestimmten Voraussetzungen im Interesse der Patienten läge. Es ist mir schleierhaft, welcher Freiheitsbegriff dem Denken dieser liberalen Politikerin wohl zugrunde liegen mag; aber dies ist ein politisch-philosophischen Thema und soll deswegen hier nicht weiter verfolgt werden (9). Betroffenenverbände vertreten allerdings eine andere Meinung als Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Sie halten Zwangsbehandlungen vielmehr für Folter und Gehirnwäsche.
Ist das nicht übertrieben?
- Ein Zwangsbehandelter wird einer extremen Stress-Erfahrung unterworfen. Er wird gegen seinen Willen in eine psychiatrische Anstalt gebracht, dort mit Gewalt an ein Bett fixiert, ihm werden Nervengifte injiziert, die erwiesenermaßen hochgradig schädlich sind.
- Durch diese Stress-Erfahrung wird er in einen Zustand erhöhter Suggestibilität versetzt.
- Der Zwangsbehandelte wird von seinem vertrauten sozialen Umfeld isoliert, einem reizarmen, monotonen Tagesablauf ausgesetzt.
- Auch wenn er sich bemüht, bei Ärzten und Pflegern einen guten Eindruck zu hinterlassen, “geistige Gesundheit” zu demonstrieren, wird er aus seiner misslichen Lage nicht befreit. Er muss vielmehr erkennen, dass er sich in einer totalen Institution befindet und den Ärzten bzw. Pflegern bedingungslos ausgeliefert ist.
- Erst wenn er “Krankheitseinsicht”, sich zumindest kooperationsbereit gezeigt, sich also mit dem Aggressor identifiziert hat, wird er mit Suggestionen überflutet, die ihm negative und positive Handlungskonsequenzen vor Augen führen (z. B.: “Wenn Sie hier gut mitarbeiten, dann können wir Sie schon bald entlassen, sonst müssen wir Sie länger hierbehalten.”)
- Erwünschtes Verhalten ist mit allerlei Vergünstigungen verbunden, unerwünschtes Handeln jedoch führt z. B. zu einer Erhöhung der Neuroleptika-Gabe oder gar zur Fixierung.
- Ziel dieser Behandlung besteht darin, dass der Patient die Repräsentanten der Psychiatrie als verhaltenssteuernde Avatare verinnerlicht.
Wohltätige Gehirnwäsche?
Kritiker meines Standpunkts könnten diese Parallelen zwischen geheimdienstlicher oder militärischer Folter-Gehirnwäsche und psychiatrischer Zwangsbehandlung als oberflächlich bezeichnen und behaupten, dass die Zwangsbehandlung erstens legal sei und zweitens im wohlverstandenen Interesse des Patienten liege. Dies ist natürlich eine philosophische Frage, weil es um Wertmaßstäbe geht – und ich kann mir durchaus vorstellen, dass Geheimdienstler und Militärs ebenfalls davon überzeugt sind, mit Folter-Gehirnwäsche Gutes zu tun und das eigene Volk vor Tod und Vernichtung zu bewahren. Doch Philosophie ist nicht das Thema der Pflasterritzenflora. Mir geht es hier um eine psychologische Bewertung und die fällt aus meiner Sicht eindeutig aus.
Unabhängig von moralischen und juristischen Fragen, hat eine Zwangsbehandlung auf die Seele eines Betroffenen dieselben Auswirkungen wie eine Folter-Gehirnwäsche. Daran ändert auch die medizinische Camouflage solcher Maßnahmen nichts, im Gegenteil: Sie verstärkt die Wirkung der Gehirnwäsche u. U. sogar. “Geheilte” Patienten, die nach einer solchen Tortur ihren Ärzten für die Zwangsbehandlung ewig dankbar sind, sie als Retter verehren und ihre Avatare in der Innenwelt uneingeschränkt herrschen lassen, ähneln aus meiner Sicht durchaus Opfern militärischer oder geheimdienstlicher Folter-Gehirnwäsche, die nach einer solchen Maßnahme ihren Peinigern stets treu zu Diensten sind – bis in den Tod.
Freier Wille
Nun meinen manche, der Mensch besitze ohnehin keinen freien Willen, sein Verhalten und Erleben würde vollständig durch seine Gene und durch Umwelteinflüsse determiniert. Kurz: Er stehe ohnehin unter Kontrolle. Da sei es doch besser, er unterwürfe sich der rationalen und sozial angepassten Kontrolle durch die Psychiatrie, anstatt unter dem Diktat defekter Gene und schlechter sozialer Einflüsse zu stehen.
Auch wenn dieses Argument plausibel erscheint und dem Zeitgeist entspricht, halte ich es dennoch für falsch. Wer es vertritt, macht sich entweder nicht klar, dass es dem Geist der Demokratie Hohn spricht, oder dies macht ihm nichts aus. Man könnte einwenden, dass die Natur nun einmal so sei und auf den Geist der Demokratie keine Rücksicht nähme. Dieser Einwand griffe aber nur dann, wenn er zuträfe. Trifft er aber nicht. Der freie Wille widerspricht keineswegs den Erkenntnissen der Neurowissenschaften, wie Peter Ulric Tse in seinem Buch “The Neural Basis of Free Will” überzeugend nachzuweisen vermochte.
Menschen handeln. Sie haben Absichten, setzen sich Ziele, wählen Mittel aus, bilden Erwartungen hinsichtlich der Ziele und der ausgewählten Mittel. Dies betrifft nicht nur das äußere, sichtbare Verhalten, sondern auch die geistigen Prozesse. Auch Stimmungen, Gefühle, Gedanken sind (teilweise verdeckte) Handlungen oder Begleiterscheinungen von Handlungen.
Angst z. B. begleitet die Absicht anzugreifen oder wegzulaufen. Angreifen und Weglaufen aber sind Handlungen: Sie haben ein Ziel, unterliegen einer Absicht usw.
Wenn ich nachdenke, dann versuche ich, eine Frage zu beantworten. Das aber ist eine zielgerichtete, absichtsvolle, erwartungsgesteuerte geistige Operation, also eine innere Handlung.
Manchmal aber verhalten wir uns auch automatisch. Bedeutet dies, dass wir in diesem Falle Automaten sind? Bezogen auf das Seelenleben ist der Begriff des “Automatismus” nur eine Metapher, und zwar eine irreführende.
Denn auch unsere automatischen Verhaltensweisen verfolgen absichtlich gewählte Ziele, sind von Erwartungen gesteuert – und wenn etwas schief läuft, dann tritt häufig wieder der bewusste Wille an die Stelle des scheinbar nicht durch das Ich kontrollierten Ablaufs.
Wenn wir neue, unbekannte Probleme lösen, stehen die entsprechenden Handlungen im Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit. Routineaufgaben erledigen wir “automatisch” – dies bedeutet nur, dass wir ihnen unsere Aufmerksamkeit teilweise oder vollständig entzogen haben.
Wir können unsere Aufmerksamkeit auch einzelnen Elementen unserer Handlungen entziehen. Wenn wir z. B. die Absicht hinter unseren Handlungen aus dem Bewusstsein verbannen, dann hat unser Bewusstsein den Eindruck, es habe die Kontrolle über diese Handlung verloren.
Unser Ich ist dann nicht mehr in der Lage, darüber zu reflektieren, dass ein Teil seiner selbst unbewusst die entsprechende Absicht zu dieser Handlung verfolgt.
Die Entscheidung zur “psychischen Krankheit”
Dies trifft natürlich auch auf die so genannten psychischen Krankheiten zu. Diese sind fast immer mit einem erlebten Kontrollverlust verbunden. Nicht nur Zwänge oder Abhängigkeiten sind Ausdruck eines subjektiv erlebten Kontrollverlusts.
- Wer depressiv ist, der sieht sich außerstande, die dunklen Schatten aus seinem Bewusstsein zu verbannen.
- Wer übersteigerte Angst hat, der fühlt sich nicht mehr als Herr dieses Gefühls, sondern er glaubt, unter der Kontrolle seiner Angst zu stehen und von dieser zu Verhalten gezwungen zu werden, das er selbst gar nicht will.
- Wer unter einem Zwang leidet, glaubt, dass dieser willentlicher Beeinflussung entzogen sei.
Doch dieser Kontrollverlust ist eine Täuschung. Diese Täuschung wird dadurch hervorgerufen, dass wir den entsprechenden Absichten unsere Aufmerksamkeit entzogen haben.
Auch der Entzug der Aufmerksamkeit, also der “Abwehrmechanismus”, die Verdrängung, ist eine (innere) Handlung. Sie beruht wie jede Handlung auf einer Absicht. Auch dieser Absicht können wir unsere Aufmerksamkeit entziehen.
Logisch betrachtet, verwickeln sich Menschen bei diesem unaufhörlichen Entzug von Aufmerksamkeit für ihre Absichten und ihre Absichten höherer Ordnung natürlich in Widersprüche. Daher ist es ein Wesenselement dieser menschlich-allzumenschlichen Form des Selbstbetrugs, sich in diesem Bereich außerhalb der Logik zu stellen.
Wer etwas von Hypnose versteht, wird hier unschwer erkennen, dass diese Verdrängung von Absichten aus dem Bewusstsein des Handelnden auffällige Ähnlichkeiten mit der Ausführung eines posthypnotischen Befehls aufweist.
Dieser hat folgende Grundform: Ein Mensch wird hypnotisiert. Der Hypnotiseur gibt ihm folgenden Befehl: “Sie werden wieder aus der Hypnose aufwachen, sobald ich das Zeichen A gebe. Sie werden sich dann nicht mehr an die Hypnose erinnern können. Wenn ich danach das Zeichen B gebe, werden Sie die Handlung XYZ vollziehen.”
Der Hypnotiseur gibt das Zeichen A. Der Hypnotisand wacht auf. Der Hypnotiseur signalisiert nach einer Weile das Zeichen B. Der Hypnotisand vollzieht die Handlung XYZ.
Auf Befragen, warum er so gehandelt habe, wird er allerlei Rationalisierungen vorbringen. Seine tatsächliche Absicht aber bleibt seinem Bewusstsein verborgen. Diese bestand ja darin, die Befehle des Hypnotiseurs zu befolgen, und zwar den Befehl, die Hypnose zu vergessen, und den Befehl, XYZ zu verwirklichen.
Bei den so genannten psychischen Krankheiten verhält es sich ganz ähnlich wie im obigen Fall – mit dem Unterschied, dass in der Regel keine formale Hypnotisierung im Spiel war.
Aber auch bei so genannten psychischen Krankheiten verfolgt der “Erkrankte” die Absicht, die “Symptome” zu produzieren und zu “vergessen”, dass er selbst es ist, der diese Symptome erzeugt.
Er wird sie vielmehr rationalisieren. Eine Möglichkeit zur Rationalisierung bieten ihm Psychiatrie und Psychotherapie an. Sie legen ihm nahe, sich als psychisch krank zu fühlen. Eine Störung in seinem Gehirn zwinge ihn zu dem symptomatischen Verhalten.
Er sei krank, und daher für dieses Verhalten nicht voll verantwortlich. Er müsse sich in die Obhut des Psychiaters oder Psychotherapeuten begeben und sich willig den Anordnungen dieser Fachleute fügen, also einen großen Teil seiner Verantwortung für sich selbst den Psycho-Experten anvertrauen.
Meist sind die “geschilderten” unbewussten Vorgänge nicht unbewusst im strikten Wortsinn; sie sind nicht dem Bewusstsein völlig unzugänglich. Der Betroffene hat durchaus “vermerkt”, dass er ein Spiel spielt, in dem er sich selbst und andere täuscht. Doch es gehört zu seiner letztendlich freiwillig gewählten Rolle, darüber nicht nachzudenken.
Selbstbetrug ist keine Krankheit – auch dann nicht, wenn man sich den Selbstbetrug nicht bewusst machen und eingestehen will. Allerdings führt dieser Selbstbetrug zu einem Leben, das aus der Sicht eines souveränen Individuums als unwürdig bezeichnet werden muss. Es ist zwar nicht verwerflich, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen, wenn man glaubt, dies sei die beste aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Von außen betrachtet, hinterlässt man durch diese Wahl allerdings einen jammervollen Eindruck. Das muss nicht sein, nicht wirklich.
Anmerkungen
(1) Sargant, W. (1997). Battle for the Mind. A Physiology of Conversion and Brainwashing. How Evangelists, Psychiatrists, Politicians, and Medicine Men Can Change Your Beliefs and Behavior. Cambridge, MA, Malor Book (Erstveröffentlichung 1957)
(2) Ross, C. A. (2000). Bluebird. Deliberate Creation of Multiple Personality by Psychiatrists. Richardson Tx., Manitou Communications
(3) Scheflin, A. W. & Opton, E. M. (1978). The Mind Manipulators. New York, Paddington Press
(4) Marks, J. (1979, 1991). The Search for the Manchurian Candidate. The CIA and Mind Control. New York, Times Book
(5) Gresch, H. U. (2010). Hypnose, Bewusstseinkontrolle, Manipulation. Düsseldorf: Elitär Verlag (Kindle Edition)
(6) Riedesser, P. & Verderber, A. (1996). “Maschinengewehre hinter der Front”. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie. Frankfurt am Main: Fischer
(7) Yealland, L. (1918). Hysterical Disorders of Warfare. London: McMillan
(8) Gresch, H. U. (2012). Kriegszitterer. Schwarze Stufen
(9) Womöglich muss man dies aber auch anderswo nicht vertiefen, weil die FDP ja doch bald aus allen Parlamenten herausgeflogen sein wird; und das ist auch gut so.
(10) Laplanche, J. & Pontalis, J.-B. (1998). Das Vokabular der Psychoanalyse. Eintrag: Introjektion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
(11) Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel: “The chemical imbalance hoax”
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