Quantcast
Channel: Lexikon der Psychiatriekritik »» Hans Ulrich Gresch
Viewing all articles
Browse latest Browse all 323

Das Unbewusste

$
0
0

Leute, die sich als “psychisch krank” empfinden, sind keine der Kritik enthobenen “heiligen Kühe”, sondern Menschen wie du und ich. Die schlimmste Verunglimpfung der so genannten psychisch Kranken besteht darin, ihnen die Verantwortungsfähigkeit abzusprechen und sie zu “Reaktionsautomaten” herabzustufen.

Eingerostete Theorien

Der ungarische Psychiater, Schüler, enge Mitarbeiter und persönliche Freund Sigmund Freuds, Sándor Ferenczi bemerkte in einem kleinen, aber sehr aufschlussreichen Aufsatz zur Erkenntnis des Unbewussten aus dem Jahre 1911 zur damaligen Psycho-Neurowissenschaft:

“Von dem irrigen Gesichtspunkte ausgehend, dass die Gegenstände der Psychologie ausschließlich vom Bewusstsein begleitete seelische Erscheinungen sein könnten, schlossen sie es a priori aus, dass die Schicht unter dem Bewusstsein anders als physiologisch verständlich zu machen sei. Umsonst sprachen gegen diese Auffassungen die bei der Hysterie und Hypnose gemachten Erfahrungen, umsonst ging aus diesen Erscheinungen hervor, dass unter der Schwelle des Bewusstseins Komplexe von hoher Zusammengesetztheit und – abgesehen von der Bewusstseinsqualität – dem Vollbewusstsein beinahe ganz gleichwertige Fähigkeiten vorhanden sind. Man erledigte diesen Widerspruch entweder so, dass man die verwickelten psychischen Gebilde unter der Schwelle des Bewusstseins einfach zu einer ‘Gehirnleistung’ und dadurch zur Physiologie degradierte, oder aber es wurde, entgegen unzähligen, dem widersprechenden Tatsachen, einfach dekretiert, dass die unter dem Bewusstsein geleistete seelische Funktion immer ein wenig Bewusstsein besitzt, und man klammerte sich an die Annahme der ‘Halbbewusstheit’, der Unterbewusstheit auch dort, wo der zum Urteilen hierüber einzig Berufene, das Subjekt selbst, von deren Existenz gar nichts wusste oder fühlte. Mit einem Worte, wieder die Tatsachen waren es, die den kürzeren zogen, wo sie es wagten, mit eingerosteten Theorien in Konflikt zu geraten.” (3)

Ich bin nicht sehr glücklich mit Ferenczis Gegenüberstellung von Gehirnleistung und psychologischen Prozessen, denn aus meiner Sicht sind die von Ferenczi ins Feld geführten, angeblich unbewussten seelischen Funktionen ebenfalls physiologisch fundiert. Und ich bin davon überzeugt, dass seelische Funktionen, die scheinbar der Aufmerksamkeit entzogen sind, in der Tat immer auch ein wenig Bewusstsein besitzen müssen, weil sonst der komplexe Prozess von Entscheidungen sich nicht vollziehen könnte. Das “volitional attentional tracking”, das willentliche aufmerksame Verfolgen von Außenwelt- und Innenwelt-Ereignissen kann sich – so lautet auch die These, die Peter Ulric Tse in seinem Buch “The Neural Basis of Free Will” vertritt, in Abwesenheit von Bewusstsein nicht entfalten. Es ist aber die Voraussetzung der Übersetzung von Intentionen und Plänen in konkrete Handlungen und mentale Operationen.

Andererseits stimme ich aber uneingeschränkt mit der Beobachtung Ferenczis und anderer Psychoanalytiker überein, dass Menschen sich nicht selten so verhalten, als ob ihnen Teile ihrer Motivation nicht gegenwärtig seien. Durch dieses Als-ob entsteht der Eindruck einer Steuerung des Verhaltens durch unbewusste Prozesse. Wie noch zu zeigen sein wird, handelt es sich bei diesen Phänomenen aus meiner Sicht jedoch in Wirklichkeit um den Ausdruck eines geteilten Bewusstseins (4).

Ich stelle im Übrigen nicht das Unbewusste generell in Frage, sondern nur das Freudsche, dass angeblich durch Verdrängung entsteht. Natürlich vollziehen sich in unserem Gehirn zahllose Prozesse, die nicht bewusst werden, entweder wegen ihres Routine-Charakters oder weil sie nicht bewusstseinsfähig sind. Die Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses ist viel zu gering, um allen gleichzeitig ablaufenden mentalen Prozessen volle Aufmerksamkeit zu schenken. Doch das Freudsche Unbewusste müsste in der Lage sein, selbständig Entscheidungen zu fällen, um beispielsweise eine Zensur auszuüben, um zu bestimmen, welche Inhalte ins Bewusstsein gelangen dürfen und welche nicht. Dies halte ich für unmöglich.

Leider ist es immer wieder der Krieg, der Tatsachen des menschlichen Seelenlebens, in der zum Kratzen am Rost von Theorien gebotenen Schärfe, herauspräpariert.

Wenden wir uns also “unbewusster” Logik, “unbewusster” Intention, “unbewusster” Lüge, “unbewusstem” Selbstbetrug im Krieg zu. Drei Jahre, nachdem Sándor Ferenczi den Text, aus dem obiges Zitat stammt, zu Papier gebracht hatte, sollte der 1. Weltkrieg gleich zu Beginn schauerliche Beispiele dafür präsentieren,

  • wie sich, scheinbar unter der Schwelle des Bewusstseins,
  • Komplexe von hoher Zusammengesetztheit und
  • mit dem Vollbewusstsein beinahe gleichwertigen Fähigkeiten
  • herauszubilden vermögen.

Ich zitiere aus einer Arbeit von Rivers, der einer der namhaftesten Militärpsychiater aus dieser Zeit ist:

“The suppression of pain and fear in the manipulative activity of Man is not necessarily accompanied by any failure of memory of the events which produced the reaction, or of the nature of the reactions themselves and their accompanying mental states. In some cases, however, as has not uncommonly happened in war, there is partial or complete amnesia for the period of activity. Soldiers have carried out, so skilfully as to earn the special commendation of their superiors, highly complicated processes of giving orders, directing operations, showing personal skill in attack and defence, while afterwards their memories have been a blank for the whole series of events and their own behaviour in relation to it. Moreover, there is abundant evidence that the experience which had thus lost direct access to consciousness is still present and may show itself in some indirect manner (1).”

Halten wir fest: Eine Erfahrung unter Extremstress (“Traumatisierung”) kann vollständig ins Unbewusste verdrängt werden, schreibt Rivers. Sie wurde aber nicht ausgelöscht, sondern sie zeigt sich in indirekter Weise. Wenn sie sich zeigt, beeinflusst sie in irgendeiner Form das Verhalten und Erleben des Betroffenen.

Charakteristisch für den 1. Weltkrieg war gleich zu Beginn ein massenhaftes Auftreten von “Kriegshysterien”, an allen Fronten, bei Freund und Feind. Männer, die in ihrem Zivilleben zuvor keinerlei psychische Auffälligkeiten gezeigt hatten, dekompensierten spätestens nach einigen Wochen an der Front, oft schon, sobald sie die Nachricht erhielten, dass sie dort zu kämpfen hatten. Typisch waren diverse “Symptome”, die man damals “hysterisch” nannte: Lähmungen unterschiedlicher Art, (selektive) Blindheit, Taubheit und, als besonders dramatisches Symptom, ein heftiges, unausgesetztes Zittern. Daher stammt der Name “Kriegszitterer”, der sich in dieser Zeit dem militärischen Sprachgebrauch anverwandelte.

Es ist natürlich auffällig, dass es sich bei diesen “Symptomen”, denen jede erkennbare physiologische Grundlage fehlte, um Einschränkungen handelte, die den Einsatz an der Front unmöglich machten. Diese Männer zeigten diese “Symptome”, obwohl sie genau wussten, dass sie vor dem Kriegsgericht und schlimmstenfalls vor einem Erschießungskommando landen würden, wenn man sie als Simulanten einschätzte.

In allen Staaten, die an diesem Krieg beteiligt waren und an deren Fronten sich diese Massenerscheinung zeigte, gelangten Psychiater jedoch zu der Erkenntnis, dass viele dieser Soldaten keineswegs eine Krankheit bewusst vortäuschten.

Der österreichische Militärpsychiater Wilhelm Neutra fasste den damaligen Erkenntnisstand der Militärpsychiatrie in seinem 1920 publizierten Werk “Seelenmechanik und Hysterie” prägnant zusammen: Das Verhalten dieser Soldaten sei, so schreibt er, der Ausdruck eines unbewussten Konflikts zwischen zwei Tendenzen:

  1. des Selbsterhaltungstriebs
  2. des Patriotismus und der militärischen Pflichterfüllung.

Nun ist es allerdings nicht plausibel anzunehmen, dass der Selbsterhaltungstrieb in schierer Form den Soldaten in die Glieder fährt und diese lähmt oder zum Zittern bringt. Es müssen vielmehr vermittelnde Prozesse angenommen werden. Die verborgene Botschaft der “Symptome” dürfte klar sein: Seht her, ich zittere, kann also nicht schießen. Seht her, ich bin blind, kann also nicht zielen. Sehr her, ich bin lahm, kann also nicht marschieren. Gleichzeitig lautet die offene Botschaft: Ich bin Patriot und möchte ja so gern fürs Vaterland in die Schlacht ziehen, aber ich bin krank, bitte heile mich, Herr Oberstabsarzt.

Aus meiner Sicht dürfte klar sein, dass hier zwei einander widerstrebende Absichten relevant sind, nämlich

  1. die Absicht, unbeschadet der Front zu entkommen und
  2. die Absicht, sich als tadelloser, aber invalider Soldat darzustellen.

Man muss sich das klarmachen: Diese Soldaten haben, oft über Wochen und Monate, wenn nicht Jahre, eine komplexe körperliche Erkrankung nachgeahmt, ohne dass ihnen dies scheinbar bewusst wurde. Zeigt dies nicht eindrucksvoll, wie sich unter der Schwelle des Bewusstseins Komplexe von hoher Zusammengesetztheit und mit dem Vollbewusstsein beinahe gleichwertigen Fähigkeiten herauszubilden vermögen? Sind das die Tatsachen, von denen Ferenczy sprach, Tatsachen, die leicht Gefahr laufen, den kürzeren zu ziehen?

Es würde mir schwerfallen, das Verhalten der “Kriegshysteriker”, die den Eindruck rechtschaffener Patrioten erweckten, anders zu erklären als durch bewusste Absichten. Zwar kann ich mir vorstellen, dass unbewusste Verhaltenssteuerungen eine Rolle dabei spielen, dass ein Soldat überhaupt “hysterisch” wird. In der akuten Stress-Situation an der Front wird vielleicht beispielsweise eine spontane Lähmung ausgelöst, die vom Betroffenen in dieser Situation unter keinen Umständen als symbolische Verweigerung des Kriegseinsatzes gedeutet werden kann. Dass aber die Nachahmung einer Krankheit, die auch bei strenger ärztlicher Überprüfung beibehalten wird, allein auf Basis unbewusster Motive erfolgen könnte, halte ich für ausgeschlossen.

Die Nachahmung einer Krankheit im Sinne der “Kriegshysterie” ist eine schauspielerische Aktivität, die eine beständige Situationsanalyse und Verhaltensanpassung auf höchstem intellektuellen Niveau erfordert und die den, allerdings nicht gerechtfertigten, Eindruck erweckt, als ob Teile ihrer Motivation vollständig unbewusst seien.

Gibt es wirklich unbewusste Absichten?

Der beste Weg, sich dem Problem der angeblich unbewussten Absichten zu nähern, ist eine Auseinandersetzung mit den so genannten Freud’schen Versprechern. Diese sind im Alltag allgegenwärtig und daher sind die mutmaßlich unbewusste Absichten für jedermann zum Greifen nahe.

Freud betont, dass beim Versprecher zwei Rede-Intentionen wirksam seien, eine bewusste und eine unbewusste. Bei der psychoanalytischen Arbeit leiste ihm das Versprechen daher wertvolle Dienste, weil es hier ja darum gehe, aus den Reden und Einfällen einen Gedankeninhalt aufzuspüren, der sich einerseits zwar verbergen wolle, sich aber gerade deswegen verrate. Freuds berühmte Schrift zur “Psychopathologie des Alltagslebens” ist reich an Beispielen für dieses Phänomen; ich möchte es aber an einem neueren Fall exemplifizieren:

Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl sagte am 15. März 1989 gegenüber Journalisten folgenden Halbsatz:

„… wenn wir pfleglich miteinander untergehen …“

Eigentlich meinte er natürlich „umgehen“ statt „untergehen“.

Er bezog sich bei dieser Äußerung auf die weitere Zusammenarbeit zwischen den Koalitionspartnern CDU/CSU und FDP. Man muss kein Kenner der damaligen Verhältnisse sein, um zu ahnen, wie es in dieser Zeit um die Beziehung zwischen CDU/CSU und FDP bestellt war.

Dies könnte ein vortrefflicher Witz gewesen sein, wenn Kohl sich mit voller Absicht versprochen hätte. In Würdigung seines Charakters und der Umstände halte ich diese Interpretation jedoch für ausgeschlossen. Es gibt zwei alternative Interpretationsmöglichkeiten:

  1. In Kohls Unbewussten war eine Befürchtung virulent, die er aus seinem Bewusstsein verbannt hatte, weil er sie aus politischen Gründen nicht aussprechen durfte und die sich dann doch in Form des Versprechers bemerkbar machte.
  2. Kohls Bewusstsein war in zwei Kontexte gespalten. Der eine Kontext war die vorbereitete Rede. Dieser Kontext sah nicht vor, seine tatsächliche Überzeugung auszusprechen. Der andere Kontext war seine Befürchtung, die er nicht aussprechen wollte. Es gehörte zur Rolle ersten Kontexts, sich so zu verhalten, als ob ihm der zweite Kontext nicht bewusst sei. Zur Rolle des zweiten Kontexts hätte es gehört, seine Sorgen zu artikulieren. Beide Kontexte waren ko-bewusst. Der sub-dominante Kontext war jedoch stark genug, um eine Vermischung der Botschaften zu bewirken, den Freudschen Versprecher.

Gibt es unbewusste Diktate?

Psychoanalytiker glauben, dass Menschen maßgeblich unter dem Diktat ihres Unbewussten stünden. Ich glaube nicht, dass man von Diktaten sprechen kann. Meine Gründe dafür möchte ich am Beispiel der “Kriegshysteriker” darlegen. Den Symptomen dieser Soldaten lagen keine körperlichen Ursachen zugrunde. Sie wurden jedenfalls eingehend untersucht und die Ärzte konnten nichts dergleichen finden. Dennoch zeigten die Soldaten bei diesen Untersuchungen eine mitunter komplexe Symptomatik. Um diese zeigen zu können, muss man adäquat und situationsgerecht auf die ärztlichen diagnostischen Fragen und Maßnahmen reagieren. Dies setzt eine beachtliche schauspielerische Leistung voraus.

Deren Motivation kann nicht vollständig unbewusst sein, da sich die entsprechenden Absichten nur durch “volitional attentional tracking” bilden können und dieses Tracking sich nicht in Abwesenheit von Bewusstsein entfalten kann. Der “Kriegshysteriker” muss auf die Fragen und Untersuchungen des Arztes in einer Weise reagieren, die mit dem übergeordneten Ziel, als krank zu erscheinen, übereinstimmt.

Der Unterschied zwischen einem Kriegshysteriker und einem Simulanten im militärischen bzw. rechtlichen Sinn besteht also nicht darin, dass der letztere simuliert und der erstere nicht. Vielmehr liegt der Unterschied darin, dass der “Kriegshysteriker” scheinbar unbewusst schauspielert und der Simulant im strafrechtlichen Sinne eine Show abzieht.

Was heißt hier scheinbar? Wir haben es aus meiner Sicht mit zwei ko-bewussten Kontexten zu tun. Im ersten Kontext weiß der Betroffene genau, was er zu tun hat, um den Arzt von einer Krankheit zu überzeugen, die er, der Not gehorchend, vorzutäuschen trachtet. Im zweiten Kontext ist er ehrlich davon überzeugt, ein guter Patriot zu sein, der nur durch eine unglückselige Krankheit daran gehindert wird, an der Front seine Pflicht zu tun. Diese beiden Kontexte passen logisch nicht zusammen, zumindest nicht im Rahmen der aristotelischen Logik. Aber sie repräsentieren die beiden Seiten des Konflikts, unter dem diese Soldaten leiden.

Demgemäß, so könnte man nun denken, müssten sich die Soldaten für einen Kontext entscheiden, weil beide nicht gleichzeitig im Bewusstsein existieren könnten. Doch aus meiner Sicht können sie dies durchaus, weil das Bewusstsein nicht der aristotelischen Logik unterliegt. Es kann sich derart spalten, dass in einem seiner Teile der erste und in dem anderen der zweite Kontext gilt. Daher kann das Bewusstsein zwei Handlungsstränge mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Motiven gleichzeitig verfolgen.

Dass zwei Handlungsstränge verfolgt werden, ergibt sich aus folgenden Sachverhalten:

  • Wenn ein Soldat beispielsweise vor der schrecklichen Fronterfahrung keinerlei Anzeichen eines Augenleidens zu erkennen gab,
  • wenn er nach dieser Erfahrung, an die er sich evtl. nicht mehr erinnern kann, plötzlich erblindet und
  • wenn bei ihm trotz gründlicher Untersuchung keine körperlichen Ursachen seiner plötzlichen “Blindheit” zu identifizieren sind,
  • wenn er dann nach Kaufmanns Kur (Suggestivbehandlung mit sehr schmerzhaften elektrischen Strömen) wie durch ein Wunder binnen weniger Stunden wieder sehend wird,
  • dann darf man doch wohl vermuten, dass seine Blindheit eine Schauspielerei war, die den Eindruck erweckte, als ob Teile ihrer Motivation vollständig dem Bewusstsein des Betroffenen entzogen waren.

Sind die Symptome der “Kriegshysteriker” nicht doch psychosomatisch?

Es mag “psychosomatische Effekte” geben, aber sie spielen in diesem Fall definitionsgemäß keine Rolle. Denn bei einer psychosomatischen Störung ist immer ein somatischer Anteil vorhanden. Dieser ist bei den “Kriegshysterikern” laut ärztlicher Untersuchung aber stets ausgeschlossen. In den einschlägigen Lehrbüchern, die zur Zeit des 1. Weltkriegs im Schwange waren, wird viel Wert auf eine entsprechende Differenzialdiagnose gelegt.

Gegen die These einer psychosomatischen Erkrankung sprechen auch die “Wunderheilungen” hysterisch Gelähmter, Tauber und Blinder binnen weniger Stunden, die bestens dokumentiert und belegt sind. Sie erfolgten nach Anwendung sehr schmerzhafter elektrischer Ströme und entsprechender Suggestionen. Wilhelm Neutra nannte das “ärztliche Folterarbeit”. Man kann aber keine organische Schädigung, beispielsweise des Auges, durch ärztliche Folterarbeit heilen. Es handelt sich bei den chronischen “Symptomen” der “Kriegshysteriker” im Übrigen nicht um Verhaltensweisen in akuten und extremen Stress-Situationen. Selbstverständlich kann man in solchen Situationen vor Schreck zittern oder wie gelähmt sein, ohne dies bewusst zu intendieren. Doch die Symptome der Kriegshysteriker perseverieren fernab von der Front im Lazarett und sogar in der Heimat.

Aber diese Menschen sind doch Ihrer Krankheit ausgeliefert!

Aus meiner Sicht ist der Mensch kein Automat, kein Roboter. Dies gilt auch für “Kriegshysteriker”. Wer dies in Zweifel ziehen möchte, sieht sich dann allerdings vor die Herausforderung gestellt, die Erfolge der “ärztlichen Folterarbeit” zu erklären. Durch eine Kombination von Suggestionen mit schmerzhaften elektrischen Strömen wurden zahllose “Gelähmte”, “Taube” und “Blinde” innerhalb kürzester Zeit geheilt. In Frankreich wurde diese Methode beispielsweise von Clovis Vincent sowie von Roussy & Lhermitte eingesetzt, in Österreich von Wilhelm Neutra und Wagner-Jauregg, in Deutschland von Fritz Kaufmann, in Großbritannien von Yealland sowie von Hunderten weiterer Ärzte.

Und dies mit großen “Erfolg”, der kein Wunder ist, wenn man die Sache mit nüchternen Augen betrachtet. Man möge mich nicht falsch verstehen. Ich plädiere nicht für die Anwendung derartiger Methoden bei den so genannten “psychisch Kranken”. Mein Kampf gilt vielmehr den Bedingungen, die Menschen oft keine andere Wahl lassen, als sich unbewusst als “psychisch krank” darzustellen, gleichsam zu inszenieren. Dass die Methoden eines Kaufmann während des 1. und eines Panse während des 2. Weltkriegs, um Beispiele zu nennen, an Widerwärtigkeit nicht zu überbieten waren, steht außer Frage.

Dennoch zeigen die Wirkungen der “ärztlichen Folterarbeit”, was es mit “Kriegshysterien” auf sich hat – und ich denke, man kann dies auf beinahe alle so genannten psychischen Krankheiten übertragen. Vor diesen Erkenntnissen darf man nicht die Augen verschließen, auch wenn sie mit absolut verwerflichen Methoden gewonnen wurden. Es gibt eine Fülle von sorgfältigen Fallschilderungen, die den “Erfolg” dieser Methoden belegen. Sie genügen zwar nicht dem methodischen Standard, der heute an empirische Untersuchungen angelegt werden sollte; sie deswegen aber zu missachten, wäre nicht gerechtfertigt. Zum Glück ist es heute nicht mehr möglich, solche “Therapien” mit besseren Studien-Designs zu überprüfen. Es gibt also nichts anderes als das, was wir haben.

In seinem Buch “Choice Theory” bringt der amerikanische Psychiater William Glasser die Intentionalität menschlichen Verhaltens in bewundernswert schlichten Formulierungen auf den Punkt:

“Die Entscheidungstheorie erklärt, warum wir, bei allen praktischen Anliegen, alles, was wir tun, auswählen, einschließlich des Elends, das wir fühlen. Andere Leute können uns weder elend, noch glücklich machen. Alles, was wir von ihnen erhalten oder ihnen geben können, sind Informationen. Doch an sich können uns Informationen nicht dazu veranlassen, irgendetwas zu tun oder zu fühlen. Sie gehen in unser Gehirn, wo wir sie verarbeiten und dann entscheiden, was zu tun ist. Wie ich in meinem Buch detailliert beschreiben werde, wählen wir alle unsere Handlungen und Gedanken und, indirekt, beinahe alle unserer Gefühle und einen großen Teil unserer physiologischen Reaktionen aus.”

Fazit

Fassen wir noch einmal die wichtigsten Gesichtspunkte zusammen:

  1. Es fiel bei den so genannten hysterischen Symptomen auf, dass die von den Patienten geschilderten Beschwerden einer Alltagsmedizin von Laien folgten. Hysterische Lähmungen bzw. Gefühllosigkeit von Körperpartien wurden beispielsweise nicht entlang der einschlägigen Nervenbahnen, sondern willkürlich, dem laienhaften Verständnis entsprechend, berichtet. Kurz: Die Symptome waren nicht selten physiologisch unmöglich. Man entwickelte schon damals trickreiche Testgeräte, mit denen man eindeutig nachweisen konnte, dass beispielsweise die auf einem Augen Blinden de facto doch uneingeschränkt zu sehen vermochten.
    In einem Aufsatz aus dem Jahr 1910 (5) schrieb Sigmund Freud:
    “Sie wissen, man nimmt die hysterische Blindheit als den Typus einer psychogenen Sehstörung an. Die Genese einer solchen glaubt man nach den Untersuchungen der französischen Schule eines Charcot, Janet, Binet zu kennen. Man ist ja imstande, eine solche Blindheit experimentell zu erzeugen, wenn man eine des Somnambulismus fähige Person zur Verfügung hat. Versetzt man diese in tiefe Hypnose und suggeriert ihr die Vorstellung, sie sehe mit dem einen Auge nichts, so benimmt sie sich tatsächlich wie eine auf diesem Auge Erblindete, wie eine Hysterika mit spontan entwickelter Sehstörung. Man darf also den Mechanismus der spontanen hysterischen Sehstörung nach dem Vorbild der suggerierten hypnotischen konstruieren.”
    M. a. Worten: Es handelt sich bei den “kriegshysterischen” Symptomen, Freuds Erkenntnis folgend, um Autohypnosen, die durch widrige Umstände hervorgerufen und aufrecht erhalten wurden. Es sind also dissoziative Phänomene, die ich mit Hilgard als Formen des gespaltenen Bewusstseins deute.
  2. Dass es einander widersprechende Absichten bei Bewusstseinsspaltung tatsächlich gibt, zeigen hypnotische Experimente seit zwei Jahrhunderten bis auf den heutigen Tag. Die Ausführung eines posthypnotischen Befehls setzt gleich drei voraus, nämlich die Absicht, dem Befehl des Hypnotiseurs zu gehorchen, die Absicht, die befohlene Handlung zu vollziehen und die Absicht, sich an all dies nicht zu erinnern. Wären diese drei Absichten nicht dissoziiert, dann würde dies nicht funktionieren. Dieses Argument kann man nur knacken, wenn man die Realität von Hypnose insgesamt in Frage stellt. Mir sind nur wenige, sehr wenige ausgewiesene Kenner dieser Materie bekannt, die so weit gehen.
  3. Man kann sämtliche Phänomene einer “Kriegshysterie” bei hypnotisch begabten Menschen durch hypnotische Befehle hervorrufen – ohne dass dazu eine “schwere Traumatisierung” erforderlich wäre.
  4. Freud zitiert in der “Psychopathologie des Alltagslebens” einen Gewährsmann zur Kriegshysterie zustimmend mit folgenden Worten: “Das Erscheinen des Spitalskommandanten, der von Zeit zu Zeit die Genesenden sich ansieht, auf der Abteilung, die Phrase eines Bekannten auf der Straße: ‘Sie schauen ja prächtig aus, sind gewiss schon gesund’, genügen zur prompten Auslösung eines Brechanfalls.”

PS: Ich kann jeden Soldaten, der eine “posttraumatische Belastungsstörung” bekommt, nur zu gut verstehen. Er hat mein volles Mitgefühl. Mag es sich dabei auch nicht um eine Krankheit handeln, so hat dieses Phänomen dennoch sehr reale Ursachen, die vielen Betroffenen kaum eine andere Wahl lassen (jedenfalls keine gute), als die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. An der grundsätzlichen Willensfreiheit des Menschen ändert diese höchst eingeschränkte Wahlmöglichkeit jedoch nichts.

Anmerkungen

(1)  Rivers, W. H. R. (1920). Instinct and the Unconscious. A Contribution to a Biological Theory of the Psycho-Neuroses. Cambridge: Cambridge University Press, p. 60

(2) Martens, U., Ansorge, U. & Kiefer, M. (2011). Controlling the Unconscious: Attentional Task Sets Modulate Subliminal Semantic and Visuomotor Processes Differentially. Psychological Science 22(2) 282­ 291

(3) Ferenczi, S. (1978). Zur Erkenntnis des Unbewussten und andere Schriften zur Psychoanalyse. München: Kindler Taschenbücher

(4) Hilgard, E. R. (1977). Divided Consciousness: Multiple Controls in Human Thought and Action. New York: John Wiley & Sons.

(5) Freud, S. (1910). Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung. Ärztliche Standeszeitung Wien

The post Das Unbewusste appeared first on Pflasterritzenflora.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 323