Gestern zitierte ich den von mir sehr geschätzten, leider unlängst in hohem Alter verstorbenen Psychiater William Glasser mit folgenden Worten:
“Die Entscheidungstheorie erklärt, warum wir, bei allen praktischen Anliegen, alles, was wir tun, auswählen, einschließlich des Elends, das wir fühlen. Andere Leute können uns weder elend, noch glücklich machen. Alles, was wir von ihnen erhalten oder ihnen geben können, sind Informationen. Doch an sich können uns Informationen nicht dazu veranlassen, irgendetwas zu tun oder zu fühlen. Sie gehen in unser Gehirn, wo wir sie verarbeiten und dann entscheiden, was zu tun ist. Wie ich in meinem Buch detailliert beschreiben werde, wählen wir alle unsere Handlungen und Gedanken und, indirekt, beinahe alle unserer Gefühle und einen großen Teil unserer physiologischen Reaktionen aus.”
Ein Mann rief an, wütend. Oh, wie wütend er war. Wenn einer, so rief er in die Muschel seines Telefons, wenn einer unter die Räuber gefallen sei, schuldlos, dann habe er sich nicht für das Elend, das er fühle, entschieden. Wenn einer auf Hartz-4 gesetzt werde, nach dreißig Jahren fleißiger Arbeit, weil die Firma pleite gemacht habe, dann habe er sein Elend nicht gewählt. Was mir einfiele, so empörte er sich in hohen und tiefen Tönen, mich in so verständnisloser Weise über Menschen zu äußern, die vom Schicksal gebeutelt worden und dafür nie und niemals verantwortlich seien. Ich sei einer dieser fürchterlichen Neoliberalen, die inzwischen überall ihre Finger im Spiel hätten und unser Land, ja, diese Welt in den Ruin trieben.
Zufällig lag mein eBook-Reader neben der Tastatur des Computer auf dem Schreibtisch. Ich öffnete die Klappe und las dem Manne aus einem Büchlein vor, das mich seit vielen Jahren begleitet und das mir eine Menge Kraft gibt – auch die Kraft, mich mit solchen Anwürfen ruhig auseinanderzusetzen:
“Über das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht; nicht gebieten wir über unseren Körper, unseren Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und mit einem Wort, über alles, was nicht von uns ausgeht.
Worüber wir gebieten, ist von Natur aus frei, kann nicht gehindert oder gehemmt werden; worüber wir aber nicht gebieten, ist kraftlos, abhängig, kann gehindert werden und steht unter fremdem Einfluss.
Denke also daran: Wenn du das von Natur aus Abhängige für frei hältst und das Fremde für dein eigen, so wird man deine Pläne durchkreuzen und du wirst klagen, die Fassung verlieren und mit Gott und der Welt hadern; hältst du aber nur das für dein Eigentum, was wirklich dir gehört, das Fremde hingegen, wie es tatsächlich ist, für fremd, dann wird niemand je dich nötigen, niemand dich hindern, du wirst niemanden schelten, niemandem die Schuld geben, nie etwas wieder Willen tun, du wirst keinen Feind haben, niemand wird dir schaden, denn du kannst überhaupt keinen Schaden erleiden.”
Diese Zeilen stammen aus dem “Handbüchlein der Moral” von Epiktet. Nun ist dieser Mann kein Neoliberaler, sondern er war ein antiker Philosoph, der etwa im Jahr 50 n. Chr. geboren wurde und im Jahr 138 starb. Er war zunächst Sklave, wurde dann freigelassen und begründete eine Philosophenschule, die er bis zu seinem Tode leitete. Da er stets ein ärmliches Leben führte, trifft ihn der Vorwurf, eine antike Variante des Neoliberalen gewesen zu sein, dann doch wohl nicht.
Was Epiktet lehrte, was Glasser schrieb, was auch ich glaube, dass wir nämlich über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden gebieten und daher nicht zum Unglücklichsein gezwungen werden können, ebenso wenig, wie unser Glück von äußeren Umständen abhängt, sollte eigentlich jedermann einsichtig sein, der sich der Sache in einer unaufgeregten Stunde widmet.
Ein anderer alter Grieche, Epikur (341 bis 271 v. Chr.) lehrte:
„Auch die Unabhängigkeit von äußeren Dingen halten wir für ein großes Gut, nicht um uns in jeder Lage mit Wenigem zufrieden zu geben, sondern um, wenn wir das Meiste nicht haben, mit Wenigem auszukommen, weil wir voll davon überzeugt sind, dass jene, die den Überfluss am meisten genießen, ihn am wenigsten brauchen, und dass alles Natürliche leicht, das Sinnlose aber schwer zu beschaffen ist und dass eine einfache Brühe die gleiche Lust bereitet wie ein üppiges Mahl…”
Wir sind keineswegs den Wechselfällen unseres Lebens ausgeliefert wie ein Blatt im Wind, und ein äußeres Missgeschick führt nicht zwangsläufig zum Gefühl des Elends. Wir haben es tatsächlich selbst in der Hand, ob wir unser Unglück wählen wollen oder nicht. Es mag nicht immer leicht sein, nach diesen Einsichten zu leben, vor allem am Anfang nicht, wenn man noch üben muss. Aber es ist wirklich falsch zu sagen, dass man nicht seines Glückes Schmied sei. Man ist natürlich nicht im neoliberalen Sinn seines Glückes Schmied. Keineswegs kann jeder Reichtümer anhäufen, wenn er nur fleißig und schlau ist. Im Gegenteil. Wir versuchen dann nur, über etwas zu gebieten, was sich schlussendlich unserer Macht entzieht, wie wir im “Handbüchlein der Moral” erfahren.
Wir sind unseres Glückes Schmied in dem Sinne, dass wir in der Tat über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden gebieten. Es liegt an uns, wie wir mit den Informationen, die auf uns einströmen, umgehen. Daher ist auch niemand gezwungen, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Es mag zwar sein, dass wir an einer der seltenen körperlichen Krankheiten leiden, die gegen unseren Willen unser Verhalten und Erleben negativ beeinflussen. Doch dann leiden wir nicht an einer psychischen, sondern an einer körperlichen Krankheit. Und selbst dann haben die Betroffenen sehr oft noch den Spielraum, diese Impulse aus ihrem Inneren zu meistern.
Weil all dies so ist, empfinde ich es als wenig hilfreich, wenn den so genannten psychisch Kranken suggeriert wird, dass eine Störung ihres Gehirns ihr Elend verursache, dass sie an diesem unschuldig seien, dass sie an diesem vermutlich ein Leben lang leiden würden und dass ihnen allein die Pillen oder die heilenden Worte des Experten Linderung verschaffen könnten. Bei Epiktet: Das ist nicht wahr. Das wäre selbst dann nicht wahr, wenn es körperliche Ursachen der angeblichen psychischen Krankheiten gäbe. Ob es sie wirklich gibt, ist aber mehr als nur fraglich. Ziemlich unwahrscheinlich ist das. Seit Jahrzehnten versucht man mit immer besseren neurowissenschaftlichen Apparaten und Untersuchungsmethoden, solche Ursachen zu identifizieren, ohne Erfolg, ohne Erfolg.
Wenig hilfreich? Das ist im Grunde eine verharmlosende Redeweise. Wer diese negative Botschaft wirklich glaubt, der hindert sich selbst daran, die Ressourcen zur Überwindung seines Elends in sich selbst zu entdecken. Er mag dann das “Handbüchlein der Moral” lesen und sich sagen: “Das ist ja alles schön und gut und das frommt bestimmt auch den normalen Leuten, aber mir, dem Hirnkranken, kann so nicht geholfen werden.”
Aber, zum Glück: Niemand muss denen glauben, die dies behaupten. Über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden gebieten nur wir selbst. Die “biologische” Psychiatrie liefert Informationen. Wie sie damit umgehen, ist die Sache der Patienten.
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