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Über den Luxus der eigenen Meinung

Die verspottete Wahrheit

Beweise bitte!

Es ist immer wieder dasselbe Lied. Menschen rufen mich an, die von Pontius zu Pilatus gelaufen sind, doch niemand konnte oder wollte ihnen helfen. Sie haben eine wahre Odyssee hinter sich, von Psychiatern zu Psychotherapeuten, mitunter auch von Pfarrern zu Gurus, hin und her, vor und zurück. Niemand wollte ihnen glauben.

Der Psychiater diagnostizierte eine Psychose und offerierte ihnen ein Neuroleptikum. Der Psychotherapeut sprach von “narrativer Wahrheit” und bot ihnen an, sie behutsam in die Realität zurückzuführen. Der Priester meinte, ständiges Gebet könne die verwirrte Seele zurechtrücken. Der Guru schließlich zelebrierte esoterische Rituale. Doch niemand hörte wirklich zu.

Diese Menschen haben eine Geschichte, die wie ein Höllenfeuer in ihrer Seele brennt. Diese Menschen haben eine Geschichte, bei der sofort die Klappe herunterfällt, wenn sie davon berichten. Sogar Ehepartner, gute Freunde, verständnisvolle Mitmenschen schütteln den Kopf, blicken besorgt, empfehlen den Gang zum Psychiater und die Einnahme von Pillen.

Die heile Welt

Was ist nun das Unglaubwürdige, das Verrückte an diesen Geschichten? Die häufigsten Geschichten dieser Art, die ich zu hören bekomme, lassen sich in vier Kategorien einteilen:

  • Satanisch Ritueller Missbrauch
  • Manipulation durch Hypnose
  • Entführung durch UFOs
  • Beeinflussung des Erlebens durch Strahlung

Viele dieser Ratsuchenden fragen mich, ob ich Ihnen nicht helfen könne, ihre Geschichten zu beweisen. Manche meinen sogar, ich könne als Gutachter vor Gericht für sie aussagen, dass ihre Geschichten wahr und dass sie, die Ratsuchenden nicht verrückt seien.

Selbstverständlich muss ich diese Menschen enttäuschen. Sie haben sich in der Adresse geirrt. Ich bin kein Rechtsanwalt, kein Polizist, kein Detektiv und erst recht kein Strahlenexperte. Meine Aufgabe als Psychologe könnte allenfalls darin bestehen, den Anrufern zu helfen, mit dem vermutlich Unbeweisbaren zu leben – besser zu leben als zuvor.

Zu einem Ratsuchenden sagte ich:

“Wissen Sie, dass es gar nicht um Beweisbarkeit geht? Sie sind enttäuscht, verletzt, gekränkt, dass Ihnen sogar die besten Freunde, die Menschen, die Ihnen am nächsten stehen, nicht glauben wollen. Dies erleben Sie als Entwertung Ihrer Person. Ja, man hält Sie für verrückt. Nur, weil sie etwas erlebt haben, was sie nicht beweisen können!

Nur, weil Sie es nicht beweisen können? Darum geht es gar nicht. Ihre Mitmenschen glauben Ihnen tagtäglich alles Mögliche, was Sie nicht beweisen können. Problemlos. Gar kein Thema. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Nehmen wir einmal an, Sie fahren mit dem Auto eine einsame Landstraße entlang. Sie werden von einem Verkehrsrowdy belästigt, der fast einen Unfall verursacht. Sie fahren an den Straßenrand und sind so außer sich, dass Sie zehn Minuten Verschnaufpause brauchen, bevor sie weiterfahren können. Deswegen kommen Sie zu spät zu einem Termin. Als Entschuldigung berichten Sie über diesen Vorfall, und wenn Sie nicht als notorischer Lügner bekannt sind, wird man Ihnen vermutlich glauben. Beweisen können Sie diese Geschichte natürlich nicht. Es gab keinen Zeugen, keine Spuren. Und nun stellen Sie sich vor, der Verkehrsrowdy wäre ein halbwüchsiger Alien in einem UFO gewesen? Hätte man Ihnen geglaubt?”

“Sicher nicht, weil ich’s nicht beweisen kann!”

“Beweisen könnten Sie beide Geschichten nicht. Die meisten Ereignisse in unserem privaten Leben, fast alles, was uns als Individuum zustößt, können wir nicht beweisen. Das Beweisbare ist nur die Spitze des Eisbergs. Und unseren Mitmenschen geht es nicht anders. Unsere alltägliche Kommunikation beruht zum größten Teil auf Glauben, nicht auf Wissen und Beweisen.”

“Und warum wird dann das eine geglaubt und das andere nicht?”

“Dafür gibt es keine vernünftigen Gründe. Es geht auch nicht um Plausibilität und Wahrscheinlichkeiten? Wie wollen wir beispielsweise die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass uns bei einer Fahrt auf einer Landstraße ein UFO begegnet? Geben Sie sich keine Mühe damit, nach Argumenten zu suchen, die Ihre UFO-Sichtung zumindest plausibel erscheinen lassen. Ihre Mitmenschen wollen Ihnen nicht glauben, Beweise hin oder her.

Ihre Mitmenschen wissen zwar, dass wir nicht in einer heilen Welt leben, in der es gerecht und vernünftig zugeht. Aber in Ihrem nahen Umfeld möchten sie, dass sie nicht mit Ereignissen konfrontiert werden, die allzu bizarr und / oder grausam sind. Ihre Mitmenschen wollen sich Ihre heile Welt erhalten – und um diese Lüge aufrecht erhalten zu können, werden Sie der Lüge oder Verrücktheit bezichtigt. Selbst wenn Sie gute Gründe für die Wahrheit Ihrer Geschichte, gar Beweise hätten, würden sich Ihre Mitmenschen mit Händen und Füßen dagegen wehren, Ihnen zu glauben. Tatsachen werden nur zu gern ignoriert, wenn sie nicht ins Wunschbild passen.”

Realitätstunnel

Kein Mensch ist der absoluten Wahrheit teilhaftig. Oft glauben wir, die Wahrheit zu kennen – meist, weil niemand daran zweifelt. Das ist vielfach ja auch ganz vernünftig, vor allem im Bereich der Naturwissenschaften. Doch in anderen Bereichen haben wir die Möglichkeit der Überprüfung und des Beweisens nicht – oder nicht in diesem Ausmaß wie in den Naturwissenschaften. Dann ist es hochgradig unvernünftig, die eigene Wahrheit zu verabsolutieren und andere, die sie nicht teilen, für verrückt zu erklären.

Unser Nervensystem hat keinerlei Kontakt mit der Wirklichkeit, wie sie “an sich” ist. Unsere Sinnesorgane nehmen vielmehr Energien wahr (Schallwellen, Licht etc.) und unser Gehirn versucht, Regelmäßigkeiten in den wahrgenommenen Energieschwankungen zu erkennen, denen es dann Bedeutungen zuschreibt. Aus diesen dürftigen Erkenntnissen aus der Außenwelt konstruiert unser Gehirn ein ganzes Universum. Jedes individuelle Gehirn erzeugt auf diese Weise sein eigenes Weltall. Ist es da nicht erstaunlich, dass wir überhaupt in der einen oder anderen Frage übereinstimmen?

Wenn uns ein Mitmensch eine Geschichte erzählt, die wir für nicht plausibel halten, dann sollten wir immerhin die Möglichkeit einkalkulieren, dass diese Geschichte einfach nur nicht in unseren Realitätstunnel passt, dass unser Tunnelblick die Wahrheit der Geschichte des anderen bisher nur übersehen hat. Wer einen gedeihlichen Dialog mit anderen führen möchte, ist gut beraten, die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass auch der andere Recht haben könnte.

Die eigene Wahrheit als Ressource

Mir sind sehr selten Menschen mit derartigen “unglaubwürdigen” Geschichten begegnet, die nicht gleich zweifach schreckliche Erfahrungen zu verarbeiten hatten. Sie wurden erstens schmerzlich überwältigt von den Erlebnissen, von denen ihre Geschichten erzählen und sie mussten zweitens die üblen Reaktionen vieler ihrer Mitmenschen auf diese Geschichten ertragen. Besonders schwierig zu bewältigen waren häufig die Reaktionen der sogenannten Fachleute, also von Psychiatern, Psychotherapeuten, Sozialarbeitern und ähnlichen Experten.

Die Reaktionen der Laien bestehen nämlich meistens aus Unverständnis und Spott; die Fachleute aber stehen natürlich über diesen menschlich-allzumenschlichen Grausamkeiten und setzen an die Stelle vulgärer Abwertung die sich wissenschaftlich gerierende Psychodiagnose.

Eine psychiatrische Diagnose ist jedoch nur ein Etikett, das einen Menschen fürs Leben zeichnen kann. Sie kann Ehen zerstören, arbeitslos machen, ja, man kann durch sie seine Freiheit verlieren und mitunter muss man sogar Folter erdulden, die als medizinische Hilfe getarnt ist. Wer eine “unglaubwürdige” Geschichte auf Lager hat und seinen Mitmenschen erzählt, läuft Gefahr, dass der dadurch verursachte Schaden unter Umständen größer ist als der Schaden, der mit den Erlebnissen verbunden ist, von denen die Geschichte erzählt.

Dabei ist es gar nicht entscheidend, dass die Geschichte erzählt wird. Man kann das Erzählen der Geschichte durchaus unbeschadet überleben. Es kommt darauf an, wie sie erzählt wird. Es gibt selbstgefährdende Formen des Erzählens solcher Geschichten. Zu diesen Formen neigen wir, wenn wir von dem Wunsch beseelt sind, dass die Mitmenschen uns doch bitte, bitte, um Himmelswillen glauben möchten. Und so rate ich jedem Betroffenen, diesem missionarischen Streben zu entsagen. Es kommt doch gar nicht darauf an, ob andere uns glauben. Niemand steht in unseren Schuhen. Niemand steckt in unserer Haut. Entscheidend ist, die eigenen Wahrheiten als Ressourcen zu nutzen, als Hilfsquellen zur Lösung unserer Probleme.

Nach Beweisen streben?

Dies bedeutet natürlich nicht, dass wir aufhören sollten, nach Beweisen zu streben. Natürlich: Wenn schon sonst niemand an uns glaubt, dann sollten wir zumindest selbst an uns glauben. Doch Tatsache ist es nun einmal, dass niemand vor Irrtümern gefeit ist. Darum sollten wir die Stimme des Zweifels in uns nicht unterdrücken. Der Zweifel ist ein wertvolles Korrektiv unseres seelischen Lebens. Er zwingt uns, Hypothesen zu überprüfen, Fakten zu sammeln und aus ihnen logische Schlüsse zu ziehen. Selbstverständlich können wir auch die Meinungen von Mitmenschen einholen – aber Fakten und logische Schlüsse sind allemal wichtiger als die Meinungen anderer.

Vor allem jedoch sollten wir die eigenen Erfahrungen ernst nehmen. Sie sind die Grundlage unseres Wissens. Sie sind die Basis unseres Universums. Wir haben nichts anderes, wonach wir uns richten könnten. Letztlich müssen wir alles selbst überprüfen. Darum ist es auch nicht so wichtig, ob andere uns glauben. Wenn andere versuchen, uns Maßstäbe für unser Verhalten aufzunötigen, dann sollten wir uns höflich, aber entschieden dagegen verwahren (es sei denn, der Nötigende hätte die Macht, uns einzusperren oder uns sonstwie gravierend zu schaden).

Jeder nämlich hat in einer freien Gesellschaft das grundgesetzlich verbriefte Recht, nach eigener Fasson selig zu werden. Gute Maßstäbe für unser Verhalten und Erleben finden wir nur in uns selbst. Niemand, niemand steht in unseren Schuhen, kennt unsere Innenwelt besser als wir selbst, kann besser als wir selbst wissen, was gut und was schlecht für uns ist. Verlässliche Informationen sollten uns immer willkommen sein; aber was wir dann auf Grundlage dieser Informationen entscheiden, das muss man uns schon selbst überlassen.

Die besten Informationen sind im Übrigen jene, die von subjektiver Meinung unabhängig sind. Diese bietet die methodisch saubere empirische und am besten experimentelle Forschung. Deren Ergebnisse sind unabhängig von Lehrmeinungen, von den Glaubensbekenntnissen der Autoritäten. Sie besitzen nur Gültigkeit, wenn die Studien repliziert werden konnten, von anderen Forschern in unterschiedlichen Institutionen und Weltgegenden.

Du darfst

Ermutigung für Leute, die so bleiben wollen, wie sie sind

Wenn ein Mensch den Erwartungen seiner Mitmenschen nicht mehr entspricht, wenn er von der Norm abweicht, wenn diese Abweichungen störend und rätselhaft sind und wenn dieser Mensch nicht zu den Spitzen der Gesellschaft zählt oder ein Vorgesetzter ist, dann erhält er heutzutage häufig den Rat: Geh zum Psychiater!” Es wird offenbar als Krankheit betrachtet, so zu sein, wie man ist und nicht so, wie man angeblich sein sollte.

Ein Nullsummenspiel

Viele Menschen leiden heute unter tatsächlichen oder eingebildeten Abweichungen von sinnvollen oder unsinnigen Normen: Sie empfinden sich als zu dick oder zu dünn, sie halten sich für zu schüchtern oder zu forsch, zu ängstlich oder zu draufgängerisch, für zu aufgekratzt oder zu trübselig.

Manche meinen, ihre Abweichungen von Normen seien Ausdruck einer “psychischen Krankheit”, die eventuell sogar in ihren Erbanlagen verankert sei. Diesen Menschen bietet der Buchmarkt eine Fülle von psychologischen Ratgebern zur raschen und schmerzlosen Korrektur der Normabweichungen. Ratgeber, die ihren Lesern auch nur in zarten Andeutungen empfehlen, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, sich selbst so anzunehmen, wie sie sind, werden Interessierte vergeblich suchen. “Sich ändern lernen!”, ist das Leitmotiv all dieser gut gemeinten Ratgeber.

Doch mit wem meinen es diese Ratgeber gut? Mit den Menschen, die unter ihren Normabweichungen leiden oder mit jenen Zeitgenossen, die sich dadurch gestört fühlen? Vielleicht profitieren ja alle, irgendwie. Doch mit Vernunft betrachtet, ist die Korrektur von Normverletzungen ein Nullsummenspiel: Die Umwelt, die sich gestört fühlt, gewinnt, weil eine Störquelle ausgeschaltet wurde. Die “geheilten” Störer aber verlieren in dem gleichen Maße, nämlich einen Teil ihrer Identität.

Wer sich – warum auch immer – nicht ändern möchte, muss sich an einen anderen Ratgeber wenden. Dieser Ratgeber will Menschen helfen, sich erfolgreich gegen Zumutungen zur Wehr zu setzen. Wenn wir von anderen beispielsweise dazu gedrängt werden,  ab- oder zuzunehmen; uns nach der neuesten Mode oder nach dem Geschmack des Ehepartners zu kleiden; langsamer oder schneller Auto zu fahren; die eine oder die andere Partei zu wählen, uns einer Glaubensgemeinschaft anzuschließen oder uns von ihr fernzuhalten – dann sagt dieser Ratgeber: “Stopp, was willst denn eigentlich du?” Dieser Ratgeber ist unsere innere Stimme, die Stimme unseres wahren Selbsts.

Der Drang zum Höheren und das Gedränge in der Mitte

Autoren von Sachbüchern und teilweise auch von Ratgebern untermauern ihre Thesen in der Regel durch Zitate und Studien. Auch ich folge dieser Konvention in vielen meiner Schriften. In diesem Text aber verzichte ich bewusst darauf, denn ich möchte Ihnen, lieber Leser, nichts beweisen oder Sie mit wissenschaftlicher Autorität beeindrucken. Wer sich selbst treu bleiben will, braucht keine objektiven Fakten, sondern Argumente anderer Art.

Wer standfest bleiben will, muss sich der subjektiven Stimmigkeit der eigenen Haltung gewiss sein. Hier geht es nicht um Fakten, Wissenschaft, Objektivität, sondern um Stimmungen, Gefühle, persönliche Erfahrungen, um Vorlieben und Abneigungen, Wünsche, Sehnsüchte und Ideale, kurz: Es geht um den Eigensinn.

Wer will schon normal sein? Machen Sie ein Experiment: Fragen Sie Freunde und Bekannte, wie sie ihre Leistungsfähigkeit einschätzen. Sie werden feststellen, dass im oberen Drittel der Skala ein ziemliches Gedränge herrscht und dass sich die überwiegende Mehrheit der Befragten für überdurchschnittlich hält.

Wer will schon abnorm sein? Wer von der Norm abweicht, ist ein Außenseiter, ein Sonderling, ein Spinner oder gar ein “psychisch Kranker”.

Machen Sie ein Experiment: Fragen Sie Ihre Mitmenschen, wie sie sich hinsichtlich des Merkmals “Eigensinn” (Sturheit, Rechthaberei etc.) einstufen. Diesmal werden Sie keine drängende Enge im oberen Drittel der Skala feststellen; die überwiegende Mehrheit der Befragten wird sich nicht als überdurchschnittlich halsstarrig, renitent, zickig usw. einstufen.

Bei dieser Frage dürfen sie vielmehr mit einer großen Bescheidenheit rechnen. Hin und wieder, ja, man habe seine Ecken und Kanten, hin und wieder beharre man schon auf seiner Meinung, sei bockig oder zickig, aber mit Sicherheit sei das nicht häufiger der Fall als bei anderen Leuten. In diesem Fall also herrscht das Gedränge in der Mitte; man findet wesentlich weniger Über- oder Unterdurchschnittliche, als dies nach Adam Riese zu erwarten wäre.

Normopathie

Sie werden vermutlich auf diese Experimente verzichten, weil sie die von mir vorhergesagten Ergebnisse nicht anzweifeln. Sie werden die mutmaßlichen Reaktionen der Befragten für normal halten. Es scheint normal zu sein, bei derartigen Befragungen zu bekunden, dass man überdurchschnittlich leistungsfähig und durchschnittlich angepasst sei.

In der Fragebogenforschung wird die Neigung von Befragten, sich mit ihren Antworten in ein möglichst günstiges Licht zu rücken, als Tendenz zur sozialen Erwünschtheit bezeichnet und als “Antwort-Verzerrung” betrachtet. Dies setzt voraus, dass diese Menschen wahre Meinungen haben, die in ihrer Kultur oder ihrem Umfeld negativer bewertet werden als die bekundeten Überzeugungen.

Es könnte aber auch sein, dass viele Menschen gar keine Meinungen mehr in sich aufkeimen lassen, mit denen sie anecken könnten. Die “politische Korrektheit” ist nicht nur ein Schlagwort, sondern soziale Realität; nicht wenige Menschen haben die entsprechende Geisteshaltung ja bereits verinnerlicht.

Kritische Zeitgenossen meinen, dass der zwanghafte Versuch, möglichst normal zu sein, selbst eine Krankheit sei, nämlich eine “Normopathie”. Wer an einer Normopathie leidet, ist demgemäß “psychisch krank” und somit anormal. Die Normalität ist offenbar ein wankelmütiger Wegweiser, der in viele Richtungen weist und manche Leute scheinbar heillos überfordert. Nicht jedem gelingt die Kunst, im Sinne der sozialen Erwünschtheit zugleich normal und nicht normal, gewöhnlich und außergewöhnlich zu sein.

Sind wir zu dem Versuch gezwungen, diese Dialektik der Anpassung zu meistern oder gibt es auch einen anderen Weg – jenseits der Normalität -, der nicht geradewegs ins soziale Abseits oder gar ins Irrenhaus führt? Oder sind normale Verhältnisse selbst das Irrenhaus, dem es zu entkommen gilt?

Vom Sinn der Normen

Wer sich Gedanken über sein Verhältnis zu sozialen Normen macht, hat bereits ein Problem damit, denn solange sich unsere Gedanken, Gefühle, Absichten und Handlungen im Einklang mit den sozialen Normen befinden, gibt es keinen Grund, darüber nachzudenken. Dazu sehen wir uns erst gezwungen, wenn wir darauf hingewiesen wurden, dass wir angeblich etwas gesagt oder getan hätten, was man nicht sagt oder tut. Mit dem “Man” wird das Ich in seine Schranken verwiesen. Häufig wird der Hinweis auf einen Normverstoß nicht in Worten ausgesprochen; oft genügt ein Blick, die Miene, betretenes Schweigen.

Die meisten Menschen wurden im Lauf ihres Lebens unzählige Male aufgefordert, soziale Normen einzuhalten – von Eltern, Kindergärtnern, Lehrern, Lebenspartnern und Arbeitgebern, von Freunden und Bekannten, aber auch von Fremden. Manchen Menschen, die sich weigerten oder trotz guten Willens dazu nicht in der Lage waren, wurde geraten, sich in psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung zu begeben, um die Neigung zur Normverletzung korrigieren zu lassen. Keineswegs werden nur Normverletzungen beanstandet, die andere unmittelbar beeinträchtigen – wie beispielsweise ruhestörender Lärm. Es kann auch sein, dass bestimmte Einstellungen oder Überzeugungen, die im Grunde niemandem schaden, als Normverletzungen empfunden oder gar als “Wahn” aufgefasst werden.

Verlust des Maßstabs

Soziale Normen üben eine gewaltige Macht auf unser Verhalten und Erleben aus, obwohl, oder gerade weil sie meist sehr vage, sehr unbestimmt sind. Ein Beispiel: Der Ehepartner stirbt. Der Hinterbliebene trauert. Das wird von ihm erwartet. Trauerte er nicht, so würde dies vermutlich auch missbilligt. Zu trauern, wenn man seinen Ehepartner verloren hat, ist also normal – nicht zu trauern anrüchig oder gar verwerflich (1). Da die Zeit bekanntlich alle Wunden heilt, überwindet der Hinterbliebene seine Trauer, findet vielleicht sogar einen neuen Lebensgefährten. Auch das ist normal.

Doch was ist, wenn der Hinterbliebene nach einem, zwei, fünf Jahren immer noch trauert? Ab welchem Zeitpunkt wird aus einer natürlichen Traurigkeit eine pathologische Depression, die behandelt werden muss? Es gibt offenbar eine normale Dauer der Trauer nach einem Verlust. Die Reaktionen des sozialen Umfelds verändern sich jedenfalls im Zeitverlauf, wenn ein Trauernder “übermäßig” lange trauert. Aus Verständnis wird Unverständnis.

Vom Trauernden wird erwartet, dass er nach einer angemessenen Zeit wieder neuen Lebensmut fasst. So will es die vage bestimmte Trauer-Norm. Diese Norm bestimmt im Übrigen nicht nur die Dauer, sondern auch die Intensität und den Ausdruck der Trauer. Doch niemand kann und will exakt festlegen, wie lange man trauern darf.

Diese Norm ist wie alle sozialen Normen eine Sache der Interpretation. Daher ist ein Mensch, der sich den Normen zu fügen versucht, um auf der sicheren Seite zu stehen, immer zugleich verunsichert, weil die Normen dehnbar sind.

Soziale Normen sind zweifellos nützlich, ja, unerlässlich, wenn es gilt, das Verhältnis der Menschen zueinander friedvoll und produktiv zu gestalten. Sie geben Orientierung. Sie werden jedoch höchst destruktiv, wenn sie an die Stelle der Maßstäbe in der eigenen Innenwelt treten. Wer sich bemüht, normal zu sein, setzt seine Identität aufs Spiel.

Leider steht Prinzipientreue heute nicht mehr besonders hoch im Kurs. Wer “in” sein und im Trend liegen will, muss sich wechselnden Moden anpassen und auch sein Inneres marktgerecht “stylen”. Es mag ja sein, dass man nur so erfolgreich sein kann – im globalisierten Turbo-Kapitalismus. Doch woran misst man den Erfolg, wenn man sein inneres Maß verloren hat? Und wer soll den Erfolg genießen, wenn du nicht mehr du selber bist?

Anmerkung

(1) Deswegen haben die Autoren des DSM-5, der neuesten Version der amerikanischen Psychiater-Bibel, ja auch helle Empörung geerntet, weil sie die Trauer selbst in der unmittelbaren Zeit nach dem Todes des Liebsten zur Depression, also zur Krankheit erklärten.

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