In einem neuen Positionspapier fordert die ”British Psychological Society’s Division of Clinical Psychology” nichts Geringeres als die Abkehr vom medizinischen Modell in der Diagnostik psychischer Störungen.
Als Grundlage dieser Forderung identifizierte die “Division” folgende Problemfelder:
- Psychiatrische Diagnosen würden häufig als objektive Statements oder Fakten präsentiert, obwohl sie in Wirklichkeit nur Interpretationen von beobachtetem Verhalten und von Bekundungen der Patienten seien
- Damit seien gravierende Mängel der Reliabiltät und Validität dieser Diagnosen verbunden
- Und so sei die Nützlichkeit dieser Diagnosen für klinische Interventionen höchst begrenzt
- Die Dominanz des medizinischen Modells führe zu einer Unterschätzung psycho-sozialer Faktoren und zu einer Überbetonung medikamentöser Behandlungsformen
- Die negativen physischen und psychischen Auswirkungen dieser Medikamente würden heruntergespielt
- Psychiatrische Diagnosen kaschierten die Verbindungen zwischen den Erfahrungen, dem Leiden und dem Verhalten der Menschen und ihrem sozialen Kontext
- Sie seien zudem ethnozentrisch verzerrt und tendenziell diskriminierend in sexistischer, klassistischer, spiritueller und kultureller Hinsicht
- Sie verstärkten negative Einstellungen gegenüber den Betroffenen
- Sie seien stigmatisierend und wirkten sich negativ auf das Selbstbild aus
- Sie marginalisierten die persönlichen Erfahrungen der Betroffenen, die häufig nur als auslösende Faktoren betrachtet würden
- Sie würden den Diagnostizierten aufgezwungen und nicht im Dialog mit ihnen erarbeitet
- Sie würden die Betroffenen entmachten und sie entmutigen, eigene, selbstbestimmte Entscheidungen zu fällen.
Daher fordert die “Division of Clinical Psychology” einen Paradigmenwechsel – hin zu einem multifaktoriellen Ansatz, der seelisches Leiden und Verhalten im Kontext begreift und der die Komplexität menschlicher Erfahrung berücksichtigt.
Dieses Papier kann als PDF-Datei hier heruntergeladen werden.
Die britische Presse hat diesen Vorstoß, der sicher eine kleine Sensation darstellt, sofort aufgegriffen. Der Guardian (11.05.20013) zitiert eine der Urheberinnen dieses Statements , die psychologische Psychotherapeutin Lucy Johnstone mit den Worten: “Es ist nicht hilfreich, Probleme der psychischen Gesundheit im Licht biologischer Ursachen zu betrachten. Im Gegenteil, es gibt nun überwältigende Hinweise, dass Menschen infolge einer komplexen Mischung aus sozialen und psychischen Umständen zusammenbrechen – Trauer und Verlust, Armut und Diskriminierung, Trauma und Missbrauch.”
Der Guardian weist darauf hin, dass die Stellungnahme der britischen Psychologen bereits massiv aus psychiatrischen Kreisen kritisiert wurde. Ein Psychiater, ein Mitglied des Royal College of Psychiatrists, Prof. Simon Wessely, versuchte die Bedeutung psychiatrischer Klassifikationssysteme herunterzuspielen. Diese seien wie eine Landkarte. “Und wie Landkarten sind sie nur provisorisch und so wie diese geändert werden können, wenn sich die Landschaft ändert, so ändert sich auch die psychiatrische Klassifikation.”
Man soll natürlich Vergleiche nicht überstrapazieren, dennoch erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass sich die Beziehung zwischen einem Diagnostiker und einem Diagnostizierten nicht mit dem Verhältnis zwischen einem Kartographen und dem Terrain vergleichen lässt.
In der diagnostischen Beziehung interagieren zwei Subjekte miteinander, wohingegen in der Kartographie kein Austausch zwischen im Prinzip gleichwertigen Partnern stattfindet. Und wenn ich mich nicht täusche, so ist diese Differenz, die Wessely mit seinem Beispiel kaschiert, der entscheidende Grund dafür, dass der von den britischen Psychologen geforderte Paradigmenwechsel in der Tat längst überfällig ist.
Anmerkung
Jamie Doward: Psychiatrists under fire in mental health battle. The Guradian, 11 May 2013
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