Ungeklärt?
Auf einer Webseite der Charité (Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie) heißt es zur Frage, ob es biologisch messbare Veränderungen im Gehirn von Schizophrenen gebe:
“In den letzten beiden Jahrzehnten gelang es durch neue Technologien in der modernen Bildgebung, der Neurochemie und der Elektrophysiologie Erkenntnisse bezüglich pathologischer körperlicher Grundlagen und Veränderungen bei der Schizophrenie deutlich zu erweitern. Ob diese Veränderungen aber ursächlich für die Schizophrenie oder das Ergebnis dieser Erkrankung darstellen ist bis heute ungeklärt.” (Zeichensetzung und Grammatik unverändert übernommen, HUG.)
Die Bezeichnung “ungeklärt” ist allerdings eine sehr schmeichelhafte Kennzeichnung des gegenwärtigen Stands der Forschung. Auf einer Website des amerikanischen “National Institute of Mental Health” wird der augenblickliche Erkenntnisstand nicht nur für die Schizophrenie, sondern für alle so genannten psychischen Krankheiten unmissverständlich mit folgenden Worten zusammengefasst:
“As it turns out, most genetic findings and neural circuit maps appear either to link to many different currently recognized syndromes or to distinct subgroups within syndromes.”
Es hat sich also herausgestellt, dass die meisten Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen und genetischen Forschung entweder mit mehreren “psychischen Krankheiten” übereinstimmen oder aber nur mit Aspekten einzelner dieser angeblichen und offenbar willkürlich zusammengewürfelten “Syndrome”. Mit anderen Worten. Die üblichen psychiatrischen Diagnosen wie “Schizophrenie” oder “Depression” finden sich in den Ergebnissen der einschlägigen Studien gar nicht wieder. Es korrelieren zwar Prozesse im Nervensystem mit bestimmten Mustern des Verhaltens und Erlebens, aber diese Korrelationen verweisen nicht auf eine gemeinsame biologische Grundlage einzelner Psychiatrie-Diagnosen.
Daraus folgt: Die Behauptung vieler Psychiater, dass “Schizophrenien”, “Depressionen” oder was auch immer eine biologische Grundlage hätten, verdient angesichts des gegenwärtigen Forschungsstandes nicht etwa das Etikett “ungeklärt”, sondern sie muss als wissenschaftlich längst überholte Vorstellung eingeschätzt werden müssen. Um es deutlich zu sagen: Aus neurowissenschaftlicher Sicht und angesichts der Befundlage in der Humangenetik, gibt es die Krankheiten der Psychiatrie gar nicht. Unverdrossen aber behaupten Psychiater, im Einklang mit biologischen Erkenntnissen zu handeln.
Ursache oder Folge?
Richtig ist allerdings das Statement der Charité, die Frage der Kausalität sei ungeklärt. Es gibt zwar empirische Hinweise darauf, dass bestimmte Hirnparameter mit beobachtbarem Verhalten und bekundetem Erleben korrelieren (wenngleich sich solche Befunde häufig nicht replizieren lassen), aber man weiß definitiv noch nicht, was Ursache, was Wirkung ist.
- Wenn beispielsweise ein Mensch als schizophren diagnostiziert wird und wenn er die verordneten Neuroleptika regelmäßig über einen längeren Zeitraum einnimmt, dann werden sich dadurch Veränderungen in seinem Nervensystem einstellen, die verheerend und irreversibel sein können. Sie sind dann aber nicht die Ursache der Erkrankung, sondern die Folge der psychiatrischen Diagnose und ihrer Konsequenzen.
- Wenn beispielsweise ein Mensch, der als schizophren und selbstmorgefährdet eingestuft wurde, sich gegen eine Behandlung wehrt und gewaltsam an ein Bett gefesselt wird, dann kann der damit verbundene Extremstress zu einer Schädigung seines Gehirns führen. Diese ist dann allerdings nicht die Ursache der “Schizophrenie”, sondern die Folge der bei uns herrschenden Rechtslage und psychiatrischer Gewaltanwendung.
Mythen und Diagnosen
Die Schlüssel-Information, die Angehörigen und Betroffenen in aller Regel gegeben wird, läuft darauf hinaus, dass es sich bei der Schizophrenie, der Depression oder was auch immer um eine Stoffwechselstörung des Gehirns handele, die teilweise angeboren sei und deren Verlauf durch Umwelteinflüsse ausgelöst, verstärkt oder abgeschwächt werden könne. Diese “Aufklärung”, so glatt und eindeutig sie auch klingen mag, ist dennoch falsch, weil sie mit dem Stand der Forschung nicht übereinstimmt. Es gibt für keine der “psychischen Krankheiten” eine bekannte biologische Grundlage und beim Stand der Forschung ist auch nicht damit zu rechnen, dass sie jemals gefunden wird.
- Dies liegt nicht nur daran, dass die psychiatrischen Diagnosen nicht hinlänglich mit neurowissenschaftlichen und genetischen Erkenntnissen übereinstimmen.
- Dies liegt auch daran, dass sie ebenso wenig durch die verhaltenswissenschaftliche Forschung erhärtet werden. Sie beruhen nicht auf einer umfassenden empirischen Zusammenschau problematischen Verhaltens und Erlebens, die dann durch Kategorienbildung mit statistischen Methoden geordnet wurde.
- Die psychiatrischen Diagnosen sind vielmehr das Ergebnis der Verhandlungen internationaler und nationaler Psychiatrie-Gremien.
- Psychiatrie und Psychotherapie sind keine Wissenschaften mit einheitlicher Lehrmeinung; diese Disziplinen zerfallen vielmehr in eine Fülle unterschiedlicher Schulen und Denkansätze.
- Daher entsprechen die diagnostischen Kategorien der einschlägigen Manuale dem kleinsten gemeinsamen Nenner.
- Sie haben keine theoretische, sondern nur eine politische Grundlage, die man auch – etwas unfreundlich, aber zutreffend – als faulen Kompromiss bezeichnen könnte.
Dies sollte jeder wissen, der eine psychiatrische Diagnose erhalten hat:
- Diese Diagnose beruht nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.
- Sie beruht im Wesentlichen auf dem, was der Psychiater bei seinem Patienten wahrgenommen und was dieser ihm über sich und seine Welt erzählt hat.
- Das psychiatrische Urteil ist also völlig subjektiv und hängt von den Wertmaßstäben des Diagnostikers ab.
- Selbst wenn der Psychiater oder der Psychotherapeut den Menschen, der ihn konsultiert, für völlig normal hält, wird er geneigt sein, ihm eine Diagnose zu verpassen und diese als “gesichert” einzustufen, weil ihm sonst die Krankenkasse nicht für seine Leistung bezahlt.
Komplexe Strukturen
Wenn der “Patient” nun ein “Medikament” verschrieben bekommt,
- so wird ihm in aller Regel suggeriert,
- dass diese chemische Substanz der Störung seines Stoffwechsels in seinem Gehirn entgegenwirke,
- die seiner “Krankheit” zugrunde liege.
Dass dies, angesichts des oben Gesagten, nicht der Fall sein kann, dürfte auf der Hand liegen. Wenn ein Patient allerdings dieser Suggestion unterliegt, dann wird sich durch diese Diagnose und durch diese Medikamentenverschreibung sein Selbstbild verändern. Er glaubt dann, dass ihn – unter Stress, in widrigen Umständen – seine angeborene Stoffwechselstörung dazu zwinge, allerlei Blödsinn zu treiben. Er wird davon überzeugt sein, dass er dagegen im Wesentlichen nichts anderes tun könne, als Pillen zu schlucken.
Allein, diese Veränderung des Selbstbildes ist ein Motor der Chronifizierung von seelischen Problemen, die sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit episodisch bleiben würden. Man hat dann eine Ausrede für Fehlverhalten, ist nicht mehr verantwortlich dafür und kann selbst auch nichts Eigenständiges dagegen tun.
Ein weiterer, wichtiger Faktor der Chronifizierung sind natürlich die so genannten Nebenwirkungen der Psychopharmaka selbst. Es gehört zu den Mythen der Psychiatrie, dass die Behandlung mit Psychopharmaka der Chronifizierung psychischer Störungen entgegenwirke. Das Gegenteil ist der Fall. Dies hat der amerikanische Medizinjournalist Robert Whitaker in seinem Buch “Anatomy of an Epidemic” eindrucksvoll anhand von Langzeitstudien dokumentiert.
Wenn es nun dem behandelten Psychiater gelingt, die Angehörigen eines Menschen, den sie als psychisch krank diagnostiziert haben, von ihrer “biologischen Theorie” und der Notwendigkeit einer medikamentösen Behandlung zu überzeugen, dann verwandeln sie das soziale Nahfeld dieses “Patienten” u. U. in eine Chronifizierungsagentur. Der Mythos des biologischen Fundaments psychischer Störungen macht es schwierig, diese Zusammenhänge zu durchschauen.
Selbstverständlich hat jedes Verhalten und Erleben biologische Grundlagen. Dies gilt aber gleichermaßen für das so genannte gesunde und normale, wie für das als psychisch krank diagnostizierte Verhalten und Erleben. Dies bedeutet aber nicht, dass irgendwelche Normabweichungen im Nervensystem zwangsläufig Ursache von Unterschieden des Verhaltens und Erlebens sein müssten. Bei Taxifahrern in London wurde festgestellt, dass bei ihnen im statistischen Schnitt eine Hirnstruktur, der Hippocampus deutlich vergrößert ist, verglichen mit Busfahrern in derselben Stadt. Daraus folgt aber nicht zwingend, dass diese Menschen wegen ihres vergrößerten Hippocampus zu Taxifahrern und nicht zu Busfahrern wurden. Viel wahrscheinlicher ist es, dass sich ihr Hippocampus erst infolge ihrer Berufspraxis und der damit verbundenen Aufgaben vergrößerte, die sich eben von denen der Busfahrer unterscheiden.
Das menschliche Nervensystem ist die komplexeste uns bekannte Struktur im Universum. Seriöse Forscher räumen ein, dass wir darüber bisher nur sehr wenig wissen. Es wurden in den letzten Jahren, dank moderner, bildgebender Verfahren und hoch entwickelter Computertechnik, dank des Fleißes emsiger Forscher, zwar beachtliche Fortschritte erzielt. Aber eine solide Grundlage zur Analyse, gar zur Behandlung menschlichen Verhaltens und Erlebens bilden diese Erkenntnisse nicht, definitiv nicht – was immer auch die Marketingabteilungen der Pharmaindustrie dazu sagen mögen.
Medikamente?
Das National Institute of Mental Health (NIMH) ist die weltweit größte und einflussreichste Forschungsinstitution für psychische Störungen. Es untersteht dem amerikanischen Gesundheitsministerium. Ihr Direktor ist der Neurowissenschaftler und Psychiater Thomas Insel. Er schreibt:
“Existing antidepressants and antipsychotics have many proposed molecular targets, but none that have been shown to be necessary or sufficient for their clinical effects. Amazingly, after three decades of broad use of these medications, we still don’t know how they work when they are effective. And we lack effective pharmacologic treatments for too many patients and for some major sources of disability, like the cognitive deficits of schizophrenia or the social deficits of autism.”
Also:
- Für die existierenden Antidepressiva und Antipsychotika (Neuroleptika) wurden viele molekulare Ziele vorgeschlagen.
- Bei keinem dieser Ziele konnte gezeigt werden, dass sie notwendig oder ausreichend sind, um den klinischen Effekt zu erzielen.
- Auch nach drei Jahrzehnten des umfassenden Einsatzes dieser Medikamente ist unbekannt, wie sie wirken, sofern sie wirken.
- Es gibt noch keine effektiven Medikamente für zu viele Menschen und für einige zentrale Quellen von Behinderung, wie beispielsweise für die kognitiven Defizite bei “Schizophrenie” oder für die sozialen Defizite bei “Autismus”.
Man mag nun einwenden, diese Medikamente hülfen doch und das sei wichtiger als das Wissen darum, warum sie helfen. Hierzu Insel:
“Medications developed over the past five decades have been prescribed widely but have not been sufficient for reducing the morbidity and mortality of mental disorders.”
Kurz: Die Leistungsbilanz dieser Medikamente ist durchweg unbefriedigend.
Den unbefriedigenden “Hauptwirkungen” stehen teilweise massive “Nebenwirkungen” gegenüber. Der amerikanische Psychiater Peter Breggin schreibt:
- Antidepressiva verursachen eine emotionale Betäubung, manchmal auch Euphorie und führen zu einer nur flüchtigen und künstlichen Besserung des Leidens.
- Neuroleptika erzeugen eine chemische Lobotomie, rufen Apathie und Indifferenz hervor, machen emotional gestresste Menschen unterwürfig und gefühlsarm.
Und hierbei handelt es sich nur um die häufigsten “Nebenwirkungen”, die sofort sichtbar werden. Manche langfristige Nutzer solcher Drogen, die man eigentlich nicht “Medikamente” nennen sollte, erleiden schwere körperliche Schäden, die teilweise irreversibel (unheilbar) sind.
Nun mag man einwenden, dass es – trotz Unwissenheit und “Nebenwirkungen” – für viele Patienten keine Alternative zu den Drogen gebe. Dies trifft aber nicht zu. Folgende Studie spricht für das Gegenteil:
Harrow M, Jobe TH, Faull RN.: Do all schizophrenia patients need antipsychotic treatment continuously throughout their lifetime? A 20-year longitudinal study. Psychol Med. 2012 Feb 17:1-11
Hier zeigt sich, dass es den Patienten, die kontinuierlich mit Neuroleptika behandelt wurden, deutlich schlechter geht als anderen, die nicht kontinuierlich mit Neuroleptika behandelt wurden.
“SZ (SZ = Schizophrenie) patients not on antipsychotics for prolonged periods were significantly less likely to be psychotic and experienced more periods of recovery; they also had more favorable risk and protective factors. SZ patients off antipsychotics for prolonged periods did not relapse more frequently.”
Eine neuere Studie von Lex Wunderink, die sich durch ein deutlich verbessertes Design auszeichnet, bestätigt dieses Ergebnis eindrucksvoll.
Irvin Kirsch und Mitarbeiter konnten nachweisen, dass selbst bei schwer “Depressiven” die Wirkung von Antidepressiva kaum größer ist als der Placebo-Effekt. Dies bedeutet im Klartext, dass eine eventuelle Verbesserung der Befindlichkeit fast ausschließlich von Faktoren abhängt, die nichts mit den pharmakologischen Eigenschaften der Antidepressiva zu tun haben. Sehr real sind aber die möglichen unerwünschten Wirkungen, wie die Auslösung von Manien, erhöhte Suizidalität, sexuelle Funktionsstörungen und Gewichtszunahme.
Compliance
Unter “Compliance” (manchmal auch: Adherence) versteht man die Bereitschaft von Patienten, sich den Anweisungen ihres Arztes zu fügen. Non-Compliance ist natürlich das Gegenteil. Non-Compliance ist ein erhebliches Problem bei Patienten, die als “psychisch krank” diagnostiziert wurden. Zwei Drittel der Patienten, denen Psychopharmaka verschrieben werden, unterbrechen die Einnahme im Lauf des ersten Jahres, häufig aus eigener Entscheidung und ohne ihren Arzt darüber zu informieren. Die Non-Compliance ist besonders ausgeprägt bei Menschen, die Neuroleptika oder Antidepressiva nehmen sollen. (1)
Unter diesen Bedingungen darf man wohl voraussetzen, dass die Compliance bei Patienten am ausgeprägtesten ist, die nicht wissen, ja, noch nicht einmal ahnen, dass ihre Psychiater nichts wissen. Denn angesichts des desolaten Zustandes psychiatrischen und psychopharmakologischen Wissens muss ein Patient blind vertrauen, um sich ohne Zweifel und Unsicherheit den Anweisungen seines Arztes fügen zu können.
Unter Psychiatern gilt es als ratsam, die Angehörigen der Patienten zum Zwecke der Complianceförderung einzubeziehen. Allein, zwar nimmt die Kraft zu, die auf einen Gegenstand ausgeübt wird, wenn mehrere an einem Strang ziehen und viele können erreichen, wozu ein Einzelner nicht in der Lage ist. Doch dies gilt nicht im Fall von Unwissenheit. Wenn Psychiater und Angehörige ahnungslos sind, dann werden sie auch nicht mit vereinten Kräften zum Durchblick gelangen. Und so tritt an die Stelle der Überzeugungskraft sozialer Druck.
Unter den gegebenen Bedingungen darf man wohl voraussetzen, dass der Druck unter sonst gleichen Bedingungen bei Angehörigen am ausgeprägtesten ist, die nicht wissen, ja, noch nicht einmal ahnen, dass die Psychiater nichts wissen. Denn angesichts des desolaten Zustandes psychiatrischen und psychopharmakologischen Wissens muss ein Angehöriger blind vertrauen, um, ohne Zweifel und Unsicherheit, Partner oder Familienmitglieder zur Einnahme von Antidepressiva oder Neuroleptika drängen zu können.
Alternativen
Das medizinische Modell der so genannten psychischen Krankheiten ist gescheitert. Manche meinen, dass man dies nur behaupten dürfe, wenn man eine Alternative hätte. Das ist fraglos Quatsch. Das medizinische Modell ist unabhängig davon gescheitert, ob eine Alternative existiert oder nicht. Natürlich wurden Alternativen vorgeschlagen, die ohne oder mit wenig Medikamenten auskommen, bei denen die Selbsthilfe und die semi-professionelle Hilfe im Vordergrund steht. Diese Alternativen haben sich auch als erfolgreich herausgestellt, aber sie stießen – mit Ausnahmen – auf wenig Gegenliebe in der Psychiatrie.
Sie beruhen auf
- Hoffnung – anstelle der Furcht, ein Leben lang Psychopharmaka schlucken zu müssen
- Sicherheit – anstelle des Damoklesschwerts der Zwangseinweisung und -behandlung, dass über jedem, ich wiederhole: jedem “psychisch Kranken” schwebt
- dem Selbst, der eigenen Sicht der Dinge – anstelle eines pseudowissenschaftlichen Konzepts “psychischer Krankheit”
- unterstützenden Beziehungen zwischen gleichermaßen Beeinträchtigten – anstelle hierarchischer Beziehungen in psychiatrischen Anstalten
- Autonomie – anstelle medizinischer Bevormundung
- Bewältigungsstrategien – anstelle psychopharmakologischer Ruhigstellung
- Sinn – anstelle einer Degradierung zum Objekt medizinischer Leistungen.
In diesen Ansätzen (Recovery Approach) spielt die Compliance keine Rolle, denn es gibt keine Ärzte, die Anweisungen geben, und es gibt keine Patienten, die ihnen gehorchen müssten.
Was wirklich zählt
Warum öffnen wir nicht einfach unsere Augen und stellen uns den Tatsachen?
- Es gibt eine zunehmende Zahl von Menschen, die den Arbeits- und Lebensbedingungen in unserer Gesellschaft mental und emotional nicht gewachsen sind.
- Menschen, die durch ihre Arbeits- und Lebensbedingungen mental und emotional überfordert sind, hat es vermutlich schon immer gegeben, wenngleich diese Problematik nunmehr durch eine historisch beispiellose Dramatik gekennzeichnet ist.
- Immer schon haben die Menschen nach Erklärungen und Lösungen für dieses Problem gesucht. So glaubte man z. B. in früheren Zeiten, die seltsamen Verhaltensweisen mental und emotional überforderter Mitmenschen seien durch Dämonen verursacht, die es folglich auszutreiben galt.
- Heute sind es angeblich Stoffwechselstörungen, denen durch Pillen entgegengewirkt werden soll.
- All diese Erklärungen haben gemeinsam, dass sie nur vor dem Hintergrund der in einer Gesellschaft vorherrschenden Ideologien plausibel sind.
Vor einem anderen als vor dem ideologischen Hintergrund der Herrschenden, könnte man allerdings auch auf die Idee kommen, unsere Gesellschaft zu humanisieren, damit eine steigende Zahl von Menschen in ihr einen Platz findet, dem sich die Betroffenen auch gewachsen zeigen können. Bei diesem Denkansatz spielt es im Übrigen keine Rolle, ob man biologische Gründe dafür vermutet, dass Menschen sich den gegebenen Verhältnissen nicht anpassen können. Eine Allergie hat bekanntlich biologische Grundlagen, aber wenn es keine Allergene gibt, dann treten auch keine Symptome auf.
Die Ultrareichen, die etwa ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen und die auf dieser schönen Erde das Sagen haben, ließen bisher noch keine Neigung erkennen, eine Veränderung von Verhältnissen, auf denen ihr unermesslicher Reichtum beruht, auch nur hinzunehmen. Mitunter allerdings beglücken sie Stiftungen, die den Armen helfen sollen, mit ihren Milliarden, um auch in diesem Bereich die Kontrolle ausüben zu können.
Was sonst aber könnte die herrschende Klasse tun? Beispielsweise könnte man – im Gegensatz zu den Pollen, die Heuschnupfen auslösen – unzumutbare Arbeitsbedingungen, die Gemütsverstimmungen begünstigen, durchaus beseitigen. Vielleicht sehen es die Superreichen aber lieber, wenn sich die Leute als “psychisch krank” (beispielsweise “depressiv”) empfinden und nicht als Opfer brutaler Ausbeutung und menschlicher Entfremdung.
Der Mensch tut, was er tut, weil er ist, wie er ist. Darauf, wie er ist, hat er allerdings nur begrenzten Einfluss. Seine Erbanlagen kann er gar nicht verändern und seine Umwelt häufig bestenfalls geringfügig. Erbanlagen und Umwelt bestimmen in erheblichem Maße mit, wie er ist und somit, was er tut. Im Rahmen seiner jeweils objektiv gegebenen Möglichkeiten hat jeder Mensch dennoch einen mehr oder weniger großen Entscheidungsspielraum, den er kraft seines freien Willens nutzen kann.
Der Einfluss auf die Umwelt ist variabel. Wer sehr viel Geld hat, kann diese in stärkerem Maß umgestalten als ein armer Schlucker. Aber wenn sich arme Schlucker dazu entscheiden, sich solidarisch zusammenschließen, dann wachsen auch ihre Möglichkeiten zur Umweltveränderung. Dies sollten “psychisch Kranke” bedenken und einen Weg wählen, der eine dauerhafte und natürliche Verbesserung ihrer Lage verspricht.
Anmerkung
(1) Alex J. Mitchell & Thomas Selmes: Why don’t patients take their medicine? Reasons and solutions in psychiatry. Advances in Psychiatric Treatment (2007), vol. 13, 336–346
The post Zum aktuellen Stand des Nichtwissens in der Psychiatrie appeared first on Pflasterritzenflora.