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Psychische Krankheit und Gesundheit als Rollenspiele

Unbewusste Inszenierungen

Meine Behauptung, die so genannten psychischen Krankheiten würden von den Betroffenen inszeniert, stößt häufig auf Kopfschütteln, Unverständnis, mitunter sogar auf hasserfüllte Ablehnung. Oft genügt es allerdings, abmildernd zu betonen, dass es sich dabei um unbewusste Inszenierungen handele. Meist beruhigen sich die angesprochenen Gutmenschen dann wieder, wenn auch nicht vollends, Skepsis bleibt. Wenn das Unbewusste im Spiel ist, kann der Betroffene aber immerhin nichts dafür, so denkt man, dann handele er nicht mit Absicht, er simuliere nicht, sondern er sei richtig krank. So interpretieren viele der von mir Aufgestörten, die es nicht gleich zum Eklat kommen lassen wollen, beschwichtigend meine Rede.

Mitunter erlaube ich mir den Spaß, anschließend darauf hinzuweisen, das Unbewusste sei ein sehr unbestimmter Begriff. Er bedeute aus meiner Sicht nur, dass der von unbewussten Motiven geleitete Mensch sich seine Handlungen nur noch nicht so genau überlegt habe. Oftmals hätten, so gieße ich Öl ins Feuer, die Betroffenen durchaus vermerkt, was ihre wahren Gründe seien, aber sie zögen es vor, dies nicht zum Thema ausführlichen Nachdenkens werden zu lassen.

“Wollen Sie damit etwa sagen, dass sich die psychisch Kranken ihre Krankheit nur einbilden und sich aus purer Denkfaulheit weigern, sich diese Tatsache klarzumachen?” Das Spektrum reicht von ungläubigem Staunen ist hin zu geschwollenen Adern auf der Stirn.

“Ich sage, dass sich Menschen dazu entscheiden, die Rolle des ‘psychisch Kranken’ zu übernehmen, wobei diese Entscheidung meist nicht sehr gut durchdacht ist.”

Der Wechsel des Themas ist noch die mildeste der möglichen Reaktionen; vielfach setzt dann ein heftiges Brüllen und Kreischen ein, aus dem Sätze wie “Und Sie als Psychologe sagen so etwas!” hervorschießen wie Raubtierkrallen.

Die Besonnenen jedoch, mit denen zu rechnen ich mir im Lauf der Jahre schon fast abgewöhnt habe, versuchen, mich mit Argumenten widerlegen.

  • Sie räumen ein, dass eine “psychische Krankheit” dem Betroffenen auch Vorteile biete, einen “Krankheitsgewinn”. Der Kranke könne Schonung beanspruchen, und dies sei für seelisch Überlastete durchaus ein Anreiz, in der Krankenrolle zu verharren.
  • Es sei aber offensichtlich, dass dieser “Krankheitsgewinn” nicht die primäre Ursache der Krankheit sein könne, denn niemand wünsche sich jenes zum Teil erhebliche Leid, das mit psychischen Krankheiten verbunden sei.

Diesen Einwand kann ich gut nachvollziehen, denn viele der so genannten psychisch Kranken bieten tatsächlich ein herzzerreißendes Bild des Jammers. Man hat dabei auch nicht das Gefühl, dass dieses Bild vorgetäuscht, nicht echt sei – zumindest drängt sich bei oberflächlichem Hinschauen der Eindruck auf, man hätte es mit einem Menschen zu tun, der Spielball grausamer Kräfte geworden ist, die sich seiner Kontrolle entziehen.

Zu den Menschen, die sich nicht mit dem ersten Blick begnügen, zählte Sigmund Freud. Er beobachtete bei manchen seiner Patienten eine negative psychotherapeutische Reaktion.

“Wenn man ihnen eine Symptomlösung mitgeteilt hat, auf die normalerweise ein wenigstens zeitweises Schwinden des Symptoms folgen sollte, erzielt man bei ihnen im Gegenteil eine momentane Verstärkung des Symptoms und des Leidens. Es reicht oft hin, sie für ihr Benehmen in der Kur zu belobigen,  einige hoffnungsvolle Worte über den Fortschritt der Kur zu äußern, um eine unverkennbare Verschlimmerung ihres Befindens herbeizuführen. Der Nicht-Analytiker würde sagen, er vermisse den Genesungswillen; nach analytischer Denkweise sehen Sie in diesem Benehmen eine Äußerung des unbewussten Schuldgefühls, dem Kranksein mit seinen Leiden und Verhinderungen eben recht ist.” (1)

Ein “unbewusstes Schuldgefühl” kann fraglos ein starkes Motiv für eine Selbstinszenierung als “psychisch krank” darstellen, dem das Leiden der “Kranken” keineswegs widerspricht; im Gegenteil. Das Leiden ist sogar das Salz in der Suppe” dieser Inszenierung.

Man könnte nun einwenden, dass in diesen Fällen das unbewusste Schuldgefühl das Pathologische sei. Sich als “psychisch krank” zu inszenieren und einer “Heilung” Widerstand entgegenzusetzen, sei eben ein Ausdruck “psychischer Krankheit”. Hier stellt sich dann natürlich die Anschlussfrage: Welchem Krankheitsprozess entspringt das unbewusste Schuldgefühl und das mit ihm verbundene Selbstbestrafungsbedürfnis?

Ich fahre zunächst mit einer milderen Variante meiner Interpretation dieses Sachverhalts fort:

Aus meiner Sicht findet im menschlichen Unbewussten eine Abwägung der in einer Situation gegebenen Möglichkeiten, unter Berücksichtigung der eigenen Präferenzen, Stärken und Schwächen, statt, wobei sich diese Abwägung natürlich nur auf das implizite Wissen beziehen kann, das dem Unbewussten momentan zur Verfügung steht. Im Allgemeinen wird sich das Unbewusste dann für jene Handlungsweise entscheiden, die ihm als die Sinnvollste erscheint. Dies bedeutet keineswegs, dass die Wahl zwingend auf jene Alternative fällt, die bei vollständiger Kenntnis aller relevanten Faktoren tatsächlich die vernünftigste wäre.

Daraus folgt, dass die Inszenierung einer “psychischen Krankheit” im oben skizzierten Sinn für das betroffene Individuum die beste Lösung ist. Würde die “psychische Krankheit” bewusst inszeniert, so müsste sich der Schauspieler als Simulant fühlen, und dieses Gefühl würde bei vielen Menschen das Selbstwertgefühl beeinträchtigen. Also ist die beste Lösung in aller Regel die unbewusste Inszenierung. Das Schuldgefühl und das Strafbedürfnis erscheinen in dieser Sichtweise nunmehr in einem neuen Licht. Es handelt sich um unbewusste Mechanismen der Selbstkorrektur, die gewährleisten sollen, dass sich das Individuum auch rollenkonform als leidend verhält und somit die beste aller Lösungen auch zu realisieren vermag.

“Aber ist das denn nicht krank?”, rufen meine Kritiker unisono.

“Nein, nein!”, rufe ich zurück, nun bereits die härtere Variante meiner Erklärung in Erwägung ziehend. “Das ist nicht krank, das ist das Leben. Das ist die Natur. Sie geht immer den Weg des geringsten Widerstands.”

Und wenn mir der Teufel im Nacken sitzt, füge ich hinzu: “Es gilt auch zu bedenken, dass wir das Unbewusste nicht unzulässig verdinglichen dürfen. Es ist kein Akteur, der den betroffenen Menschen zu irgendetwas zwingt. Das Unbewusste ist nur eine ungenaue Redeweise dafür, dass der Mensch wähnt, nicht anders handeln zu können, obwohl er es niemals ernsthaft versucht hat. Wäre ‘psychische Gesundheit’ in einer gegebenen Situation allerdings zweckdienlicher, dann würden dieselben Individuen, die nun schwer leidend “psychisch krank” sind, plötzlich ihr Bett nehmen und wandeln. Es handelt sich in diesen Fällen aber nicht um Wunderheilungen, den Heiland müsste man dafür nicht eigens herabbemühen. Solche “Spontan-Remissionen” sind schlicht und ergreifend die beinahe zwingende Folge veränderter Bedingungen in der Innen- und in der Außenwelt.(2)”

Psychisch krank zu sein bedeutet also, die Rolle des psyçhisch Kranken zu spielen. Es handelt sich dabei aber nicht um Schauspielerei im üblichen Sinne. Ein Schauspieler weiß ja, dass er nur eine Rolle spielt und nicht tatsächlich King Lear oder Faust ist. Der “psychisch Kranke” aber darf nicht wissen, dass er diese Rolle nur spielt, weil er sie sonst nicht spielen könnte.

Rollentheorie

Rollentheoretisch lässt sich der “psychisch Kranke” recht gut mit einem Hypnotisanden vergleichen, sofern man die Rolle des letzteren im Sinne der “Role-taking Theory” von Theodore Sarbin interpretiert. Ebenso, wie der “Hypnotisierte” so handelt, als ob er hypnotisiert, so handelt der “psychisch Kranke” so, als ob er psychisch krank wäre. Und beide handeln in diesem Sinn, weil sie bereit sind, sich in eine Situation zu fügen, in der dieses “Als-ob-Handeln” angemessen ist und voraussetzt, dies nicht zum Gegenstand kritischer Reflexion zu machen. Wenn also der situative Anforderungscharakter sich ändert oder wenn der “psychisch Kranke” nicht mehr bereit ist, sich diesen Zumutungen zu unterwerfen, dann ist der “psychisch Kranke” wieder “gesund”.

Hier zeigt sich allerdings ein gravierender Unterschied zur Hypnose. Der Hypnotiseur kann einen Hypnotisanden recht einfach wieder “aufwecken”, durch eine hypnotische Suggestion. Bei “psychisch Kranken” ist das in aller Regel nicht so simpel. Denn die Rolle des “psychisch Kranken” ist kein Bestandteil eines “Psycho-Spiels”, wie dem der Hypnotisierung, sondern sie ist eingebettet in die sozio-ökonomische Struktur unserer Gesellschaft – sie dient der Kontrolle aller Formen von erheblich störenden Abweichungen, für die das Justizsystem nicht zuständig ist. Solche Rollen haben eine große Haltekraft. Wer einmal in sie hineingerutscht ist, kommt so schnell nicht wieder heraus.

Stigmatisierung und andere Hoffnungsschimmer

Manche räumen ein, dass solche Inszenierungen bei “psychischen Krankheiten” durchaus eine Rolle spielen könnten, aber die psychiatrische Forschung sei nun einmal nicht bei Sigmund Freud stehengeblieben. Man wisse heute, dass zum Ursachenbündel dieser Erkrankungen maßgeblich Hirnstörungen gehörten, die zu einem erheblichen Anteil angeboren seien. Meist werde ich zum Beweis dieser These auf Berichte in Zeitungen und Zeitschriften sowie auf einschlägige Fernseh-Features in den Dritten Programmen oder auf Arte verwiesen.

Wer sich allerdings über den aktuellen Forschungszustand, beispielsweise in der Pflasterritzenflora, informiert, wird unschwer erkennen, dass es sich bei diesen angeblich neuesten Erkenntnissen aus Funk und Fernsehen um Spekulationen handelt. Es gibt in Wirklichkeit keinerlei Beweise dafür, dass

  • psychische Störungen durch chemische Ungleichgewichte im Gehirn verursacht werden
  • gestörte Hirnschaltkreise psychische Störungen auslösen
  • psychische Störungen auf defekten Genen beruhen
  • die Umwelt (beispielsweise Traumata, Armut, Verwahrlosung) für psychische Störungen verantwortlich ist
  • psychiatrische, also subjektive Diagnosen mit irgendwelchen objektiv messbaren Biomarkern korrelieren.

All dies sind nur höchst umstrittene Hypothesen. Ein Teil der empirischen Studien spricht dafür, ein anderer Teil dagegen. Die meisten dieser Studien sind methodisch unzulänglich; ihre Aussagekraft ist größtenteils erheblich eingeschränkt. Die genannten Faktoren können zwar eine Rolle spielen, aber sie reichen bei weitem nicht aus, um jene Phänomene zu erklären, die von der Psychiatrie aus “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden.

Es gibt zudem auch keinerlei Beweise dafür, dass

  • psychiatrische Medikamente mehr nutzen als schaden
  • Psychotherapien wirksamer sind als Placebo-Behandlungen
  • es psychiatrisch Behandelten durchschnittlich auf lange Sicht besser geht als Nicht–Behandelten.

Ist das nicht wunderbar?

Ist es nicht wunderbar, dass

  • die so genannten “psychisch Kranken” immer noch massiv stigmatisiert werden
  • viele der Menschen, die als “psychisch krank” diagnostiziert werden, sich nicht freiwillig in die Obhut von Psychiatern begeben
  • sich ein großer Teil von ihnen weigert, psychiatrische Medikamente zu nehmen, sogar dann, wenn sie an ihre Diagnose glauben
  • für psychiatrische Maßnahmen Milliarden ohne erkennbare positive Resultate verausgabt, also vergeudet werden?

Ja, das ist wunderbar und erfüllt mich mit großer Freude. Denn all dies lässt mich hoffen. Zwar gibt es in zunehmender Zahl Menschen, die der Verlockung zur Übernahme der Rolle des psychisch Kranken erliegen; aber dennoch leisten viele, die für diese Rolle vorgesehen sind, mehr oder weniger hartnäckig Widerstand. Sie ahnen, dass trotz vieler Vorteile irgendetwas nicht stimmt mit dieser Inszenierung.

Wenn es nämlich anders wäre, wenn die Psychiatrie tatsächlich effektiv menschliches Verhalten und Erleben steuern könnte und zwar so, dass die Gesteuerten damit sogar vollends zufrieden wären, dann würden

  • Menschen unter erbärmlichen Arbeitsbedingungen glücklich optimale Leistungen erbringen
  • Ehefrauen ihren prügelnden Männern leidenschaftliche Geliebte und ihren missratenen Kindern vorbildliche Mütter sein
  • sexuell missbrauchte und misshandelte Kinder in der Schule dem Unterricht brav und strebsam folgen sowie Spitzenleistungen erbringen
  • Soldaten an der Front im Stahlgewittern wie Roboter funktionieren
  • kurz: jeder, der auch nur den Anschein erweckt, seelisch unter den Folgen sozialer Konflikte und ökonomischer Schieflagen zu leiden, erhielte eine Pille und alles wäre wieder gut.

Unter den gegebenen Machtverhältnissen ist die Psychiatrie ein Reparaturbetrieb für schlecht laufende Rädchen im Getriebe – und wenn die Psychiatrie perfekt wäre, dann hätten diese Rädchen aus Fleisch und Blut jede Chance verloren, sich ihrer Lage bewusst zu werden. Zumindest zur Zeit sind aber selbst jene, die freiwillig die Rolle des “psychisch Kranken” gewählt haben, tagtäglich mit den Schattenseiten dieser Entscheidung konfrontiert. Die Nachteile lasten auf ihnen, auch wenn sie diese, angesichts der Vorteile, als unausweichlich hinzunehmen bereit sind und nicht weiter darüber nachdenken.

Krankheit ist oft mit Leiden verbunden, aber nicht jeder, der leidet, ist auch krank. Es ist völlig normal, seelisch unter unerträglichen Lebensbedingungen zu leiden. Wenn jedoch seelisches Leiden stets als “psychische Krankheit” aufgefasst wird, dann liegt es nahe, den Leidenden ausnahmslos Psychopharmaka zu verabreichen. Wären diese dann auch noch effektiv und ohne Nebenwirkungen, die der Konsument erkennen kann, dann hieße es schnell: Der Zweck heiligt die Mittel.

Man könnte nun wirklich fragen, was denn daran so schlimm sei, dass fragwürdige Verhältnisse nicht geändert würden, wenn es einen chemischen Weg gebe, das Leiden daran zu lindern oder gar auszumerzen. Unter dem Gesichtspunkt von Kosten und Nutzen könnte die chemische Lösung doch die vernünftigste sein, und zwar für Individuum und Gesellschaft gleichermaßen.

Es gibt Menschen mit angeborener Schmerzunempfindlichkeit. Das ist keineswegs ein Glück. Diese Menschen fügen sich selbst häufig schwere Schäden zu, weil sie zu spät bemerken, dass sie sich verletzen. Eine chemisch induzierte Unempfindlichkeit für seelische Schmerzen hätte dieselben verheerenden Folgen, wenngleich diese Folgen nicht unmittelbar sichtbar würden.

  • Wer aufgrund eines Gendefekts keinen Schmerz verspürt, der verbrennt sich vielleicht, weil er nicht fühlt, dass ein Gegenstand heiß ist – aber er wird dies an den Spuren der Verbrennung schnell bemerken.
  • Doch bei einem seelisch Schmerzunempfindlichen ist dies nicht der Fall. Vielmehr werden Probleme nicht in Angriff genommen, weil nichts dazu drängt. Die Konsequenzen, die eine perfekte Psychiatrie für die Gesellschaft hätte, wären alptraumhaft.

Ja, es ist wunderbar, dass “psychisch Kranke” stigmatisiert werden – vor allem, wenn sie darunter leiden. Das zeigt nämlich, dass sie es noch können.

Ein Ratgeber zur Vorbeugung psychischer Krankheiten

Spätestens nunmehr habe ich mir den Vorwurf eingehandelt, unerträglich zynisch zu sein. Immer nur zu kritisieren, sei destruktiv und defaitistisch; wer von der Praxis keine Ahnung habe und auch keine Lösung wisse, solle besser die Klappe halten.  Derlei Anwürfe muss ich nicht auf mir sitzen lassen. In Theorie und Praxis bin ich mit dem Problemfeld bestens vertraut. Die Früchte meiner Erfahrungen und Erkenntnisse habe ich hier in knappen Worten zusammengefasst:

Wenn in Ihnen, verehrte Leserin und ggf. Leser, auch nur der leiseste Verdacht aufkeimt, Sie hätten eine “psychische Krankheit”, dann ist schnelles Handeln geboten. Dieser Verdacht ist nämlich ein untrügliches Anzeichen dafür, dass bei Ihnen eine Psychodiagnostizitis im Anzug ist. Doch keine Panik! Sie haben es in der Hand. Uralte Weisheit und neue Erkenntnisse der Wissenschaft helfen Ihnen. Durch einige einfache Tricks können Sie den Ausbruch der Krankheit verhindern. Bitte bedenken Sie: Je schneller Maßnahmen ergriffen und je konsequenter sie verwirklicht werden, desto größer sind die Erfolgsaussichten. Also, nur Mut! Fangen Sie sofort damit an, sich vor größerem Schaden zu bewahren. Nehmen Sie die Sache nicht auf die leichte Schulter.

  1. Lesen Sie ab sofort keine Artikel in Zeitungen oder Zeitschriften mehr, die sich mit “psychischen Krankheiten” beschäftigen. Diese Texte sind Gift für Sie. Achten Sie auch darauf, dass sie nicht durch lieblich duftende und süß schmeckende Berichte über Lust und Leid von Prominenten in die Falle gelockt werden; auch diese Artikel bergen sehr oft, gut versteckt, die Keime der Krankheit. Das Psychodiagnostizitis-Virus lauert überall da, wo es um Herz und Schmerz, Triumph und Niederlage der Reichen und Schönen geht. Meiden Sie ebenso Fernsehsendungen und Kinofilme, die geeignet sind, das Virus zu verbreiten.
  2. Geben Sie von nun an keine psychiatrischen Diagnosen mehr in die Suchmaschinen des Internets ein. Sie wissen ja, dass Sie sich im Internet all die gefährlichen Viren einfangen können, die Ihren Computer gefährden – viel schlimmer noch als jedes Computervirus ist ein Virus, das ihr Selbstbild infiziert, nämlich das Psychodiagnostizitis-Virus. Wahrscheinlich haben Sie schon davon gehört, dass Krankenhäuser ein Dorado von Keimen sind; daher meiden Sie die Websites psychiatrischer Kliniken, psychotherapeutischer Praxen oder psychosomatischer Einrichtungen. Ihr Organismus ist ja bereits geschwächt und die Ansteckungsgefahr ist viel zu groß. Falls Sie versehentlich auf eine Website mit psychodiagnostischen Begriffen stoßen sollten, surfen Sie sofort weiter; es sei denn, sie würden auf Seiten mit dem Qualitätssiegel “Pflasterritzenflora” stoßen. Seiten mit dieser Kennzeichnung sind garantiert keimfrei.
  3. Suchen Sie ab sofort nicht mehr das Gespräch mit Partnern, Freunden, Bekannten und Verwandten über psychische Krankheiten im Allgemeinen oder Ihren Verdacht, sie selbst seien betroffen, im Besonderen. Achten Sie darauf, nicht in derartige Gespräche hineingezogen zu werden. Wechseln Sie sofort das Thema. Wenn die Grippe grassiert, dann lassen Sie sich ja auch nicht anhusten, wenn es sich vermeiden lässt. Seien Sie gewarnt: Bereits vom Psychodiagnostizitis-Virus Infizierte neigen krankheitsbedingt dazu, ihre Opfer mit unverfänglichem Gesprächsstoff zu umgarnen, um sich dann Schritt für Schritt, sehr zart fühlend, an ihr eigentliches Anliegen heranzutasten, nämlich die Weitergabe ihres Virus, das ihren Geist voll im Griff hat.
  4. Wenn eine Erkältung im Anzug ist, soll man viel trinken, beispielsweise Kräutertee mit Honig. Droht der Ausbruch der Psychodiagnostizitis, soll man viel lesen, nämlich Texte, die abhärten und das seelische Immunsystem stärken. In ihre seelische Hausapotheke gehören beispielsweise die Schriften des amerikanischen Psychiaters Thomas Szasz. Während seines langen Lebens hat er Tausende und Abertausende von Seelen gerettet, von denen viele ohne ihn wohl für immer verloren gewesen wären. Versichern auch Sie sich seiner Hilfe. Die Anwendungen sollten möglichst regelmäßig erfolgen, auf jeden Fall aber vor einem Treffen mit der besten Freundin oder ähnlichen Infektionsquellen. Lassen Sie sich vom zunächst bitteren Geschmack dieser Medizin nicht abschrecken: Sie werden sich daran gewöhnen und nach geraumer Zeit wollen Sie auf dieses geistige Heilmittel nicht mehr verzichten.
  5. Es ist für Sie vermutlich selbstverständlich, für Sauberkeit in Ihrer Wohnung oder an Ihrem Arbeitsplatz zu sorgen. Aber wie steht es um Ihre Innenwelt? Achten Sie darauf, dass keine schmutzigen Gedanken dort ihre Spuren hinterlassen. Sobald Ihnen ein Begriff aus dem thematischen Feld der “psychischen Krankheiten” in den Sinn kommt, sollten Sie die Technik des Gedankenstopps anwenden. Wenn Sie allein sind, rufen Sie bei solchen Gedanken laut “Stopp!”; in Gegenwart von anderen, machen Sie mit diesem dann nur gedachten Stopp im Stillen möglichst viel Lärm. Seien Sie konsequent: Sobald sich ein Gedanke auf eine “psychische Krankheit” bezieht: Stopp!
  6. Falls die Psychodiagnostizitis bereits weiter vorangeschritten ist, wird Ihnen krankheitsbedingt der Gedanke kommen, fremde, gar professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hier hilft die Technik der kognitiven Umstrukturierung. Sie müssen es nur versuchen: Wenn Sie es an Beharrlichkeit und Selbstvertrauen nicht fehlen lassen, dann werden Sie nach geraumer Zeit oft eine Vielzahl von Möglichkeiten entdecken, wie Sie an die Stelle der Hilfe durch Fremde die Selbsthilfe treten lassen können. Die Gewissheit, dass fremde Hilfe bei psychischen Problemen ohnehin nicht funktioniert, wird Sie zur Anwendung dieser Technik der kognitiven Umstrukturierung motivieren.
  7. Falls Sie das Gefühl haben sollten, dass Ihre Kräfte beim Kampf gegen den Ausbruch der Psychodiagnostizitis erlahmen, helfen alte Hausmittel, wie beispielsweise kalte oder warme Wadenwickel. Gute Erfolge werden auch erzielt, wenn man sich einfach nur wiederholt an den Kopf greift. Ist man allein, kann man zusätzlich ausrufen: “Ja, bin ich denn bescheuert?” Falls möglich, packen Sie Ihre Koffer und ab geht’s in den Urlaub. Sie werden sich dort, aller Voraussicht nach, weniger an den Kopf greifen müssen. Weniger aufwändig sind guter Sex, ein Besuch im Lieblingsrestaurant; andere bekannte Hausmittel, wie das Ärgern des Nachbarn, sind nicht ohne Tücken und vorsichtig zu dosieren.
  8. Die Psychodiagnostizitis kann jeden befallen; aber das Virus sucht sich vor allem jene Zeitgenossen aus, die innerlich geschwächt sind. Machen Sie also Ordnung in Ihrer Innenwelt. Wenn Ihr Selbstbild keine dunklen Stellen hat, dann kann sich das Virus auch nicht einnisten. Um Karies und Parodontose zu vermeiden, reicht es ja auch nicht, sich die Zähne nur mit der normalen Bürste zu putzen, nein, die potenziellen Nistplätze der kariogenen Keime in den Zahnzwischenräumen müssen ebenfalls peinlich rein gehalten werden. Dafür gibt es Interdentalbürstchen. Und so ist es auch mit Ihrer Seele. Lassen Sie, aus Furcht und Scham, keine unklaren Bereiche in ihrem Innenleben bestehen. Setzen Sie sich mutig mit diesen unerforschten Zonen ihres Selbsts auseinander; sonst droht die Seelenfäule, die Psychodiagnostizitis. Beim Zahnarzt mag die regelmäßige professionelle Zahnreinigung sinnvoll sein; im Falle der Seelenfäule können aber nur Sie selbst einer Erkrankung vorbeugen, denn die Stellen, um die es hier geht, können allein Sie selbst erreichen.
  9. Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen. Es ist heutzutage ja Mode, anderen Leuten eine “psychische Krankheit” anzudichten, um sie zu kränken, zu diskreditieren oder aus dem Weg zu räumen. Oft werden solche Aggressionen als Rat und wohlmeinende Sorge um den lieben Nächsten getarnt. Lassen Sie sich dadurch nicht täuschen. Es handelt sich hier immer um eine Attacke gegen Sie – sei es aus Arglist und Niedertracht, sei es aus Ignoranz und Oberflächlichkeit. Sie müssen stark bleiben und zur Not zurückschlagen. Wehren Sie sich mit allen Mitteln gegen diese Etikettierung.
  10. Lassen Sie sich nicht verführen. Wenn einem die Arbeit über den Kopf wächst, wenn man sich zukünftigen Aufgaben nicht gewachsen fühlt, ist es verlockend, sich eine “psychische Krankheit” zuzulegen. Und es ist leicht, mit diesem Betrug und/oder Selbstbetrug durchzukommen. Körperliche Krankheiten kann man meist nachweisen, wohingegen es das Charakteristikum der psychischen Krankheiten ist, dass man sie eben nicht nachweisen kann. Diese Diagnosen sind subjektiv, nicht objektivierbar. Sie haben also, ein wenig schauspielerisches Talent vorausgesetzt, leichtes Spiel, wenn sie gern eine solche Diagnose erhalten möchten. Lassen Sie dennoch die Finger davon. Wenn Sie dies nicht tun, dann verhalten Sie sich wie eine Alkoholikerin oder ein Alkoholiker. Sie nehmen für einen kurzfristigen Nutzen einen langfristig unvergleichlich größeren Schaden in Kauf (sofern Sie sich noch Ihren Stolz bewahrt haben). Halten Sie Disziplin. Wehren Sie sich gegen Ihre Neigung zur verantwortungslosen Bequemlichkeit.

Nehmen Sie die Psychodiagnostizitis nicht auf die leichte Schulter. Es handelt sich um eine schwere Erkrankung. Die Betroffenen werden mutlos, von anderen abhängig, trauen sich nichts mehr zu, übersehen Lebenschancen und werden schlussendlich völlig verantwortungslos gegenüber sich selbst und ihren Mitmenschen.

Hier handelt es sich um eine Krankheit der besonderen Art. Sie bedarf des Arztes nicht. Da sie eine iatrogene Krankheit ist, muss der Arzt sogar gemieden werden. Definitionsgemäß ist hier die Selbsthilfe der einzige Erfolg versprechende Weg zur seelischen Gesundheit. Unterstützend wirken die von Dr. Szasz wiederentdeckten Naturheilmittel, wie man sie beispielsweise in der Pflasterritzenflora pflücken kann. Bitte zehn Minuten ziehen lassen und heiß lesen.

Welche Rolle soll man spielen?

Scherz beiseite: Die “psychische Gesundheit” ist ebenso wie die “psychische Krankheit” ein Rollenspiel. Wenn Sie die Rolle des “psychisch Gesunden” spielen, werden weiterhin die Stürme des Lebens an Ihnen zausen und Sie nur zu oft niederdrücken. Häufig genug werden sie Grund haben, sich elend und allein zu fühlen, nicht selten werden Sie dazu verführt werden, sich eine “Depression” oder etwas Ähnliches zu genehmigen. Und ich weiß nicht, ob dies nicht vielleicht besser für Sie wäre. Die Rolle des “psychisch Gesunden” zu spielen, kann wesentlich anstrengender sein als die des “psychisch Kranken”, und ob sie größeren Ertrag abwirft, bleibt dahingestellt.

Eine Garantie dafür, dass man als “psychisch Gesunder” besser fährt, denn als “psychisch Kranker”, gibt es nun einmal nicht. Daher kann ich hier auch nicht mit gutem Rat aufwarten. Krank oder gesund? Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Wenn Sie sich nicht entscheiden können, welche Rolle sie spielen möchten, dann kann ich Ihnen allerdings eine Variante empfehlen, die soweit wie möglich die Vorzüge beider Rollen miteinander vereint. Das geht so: Verteufeln Sie die Psychiatrie. Werfen Sie ihr vor, sie als “psychisch krank” zu verunglimpfen. Weisen Sie dies weit von sich. Bezeichnen Sie Psychiater als Nazis und als käufliche Handlanger der Pharmaindustrie. Zugleich machen Sie für all Ihre Missgeschicke neben der Psychiatrie weitere finstere Mächte verantwortlich, z. B. Täter, die Sie in Kindheit und Jugend traumatisiert haben, die Hartz-4-Behörden, die Illuminaten, die Bilderberger, die Männer, die Frauen, die Besendung durch umgebaute Mikrowellenherde, wen und was auch immer. Jedoch achten Sie darauf, dass kein Schatten auf Sie selbst fällt.

Ich weiß nicht, welche der genannten Rollen die beste ist. Es kommt wohl immer auf den Einzelfall an. Einen Rat, noch einmal, nein, den weiß ich nicht, wirklich nicht. Kierkegaard schrieb in “Entweder – Oder”:

“Verheirate dich, du wirst es bereuen; verheirate dich nicht, du wirst es auch bereuen. Heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen. Verlache die Torheiten der Welt, du wirst es bereuen; beweine sie, beides wirst du bereuen. Traue einem Mädchen, du wirst es bereuen; traue ihm nicht, du wirst auch dies bereuen. Fange es an, wie du willst, es wird dich verdrießen. Hänge dich auf, du wirst es bereuen; hänge dich nicht auf, beides wird dich gereuen. Dieses, meine Herren, ist der Inbegriff aller Lebensweisheit.”

Anmerkungen

(1) Freud, S. (1933). Angst und Triebleben. In: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Seite 152
(2) Markus: Die Heilung eines Gelähmten

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