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Ist die Psychiatrie ein notwendiges Übel?

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Das gute Haar

Manche werfen mir vor, ich sei ein polemischer, einseitiger, feindseliger, unausgewogener Kritiker der Psychiatrie und ließe kein gutes Haar an dieser. Scherzhaft könnte ich auf diesen Anwurf mit einem Spruch des Schauspielers und Kabarettisten Wolfgang Neuß antworten:

“Ein gutes Haar würde ich ihr ja gern lassen, allein, ein Haar macht sich nicht gut auf einer Glatze.”

Scherz beiseite: Wenn man eine Institution, die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung für notwendig gehalten wird, nicht nur wegen einzelner Missstände, sondern fundamental angreift, dann muss man schon verdammt gute Gründe dafür haben. Schließlich kümmert sich die Psychiatrie zweifellos um leidende Menschen sowie deren Angehörige, Freunde, Arbeitgeber, Lehrer usw.

Angesichts all dieses Leides fällt es manchen Leuten schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich auf sachliche Argumente zu beschränken. Mit persönlichen Angriffen, oft der widerlichsten Art, muss jeder rechnen, der die Psychiatrie grundsätzlich in Frage stellt. Schnell wird man als Scientologe, als uneinsichtig psychisch krank oder als durchgeknallter Verschwörungstheoretiker verdächtigt.

Wer nicht von starken Überzeugungen oder gar missionarischem Eifer beseelt ist, wird sich von derlei Angriffen in aller Regel mundtot machen lassen. Obzwar nämlich die allermeisten Psychiatriekritiker weder Scientologen, noch uneinsichtig psychisch krank oder durchgeknallte Verschwörungstheoretiker sind, sehen sie sich schnell in die Rolle des Verteidigers in eigener Sache gedrängt und ihr eigentliches Anliegen gerät aus dem Blick.

Die Vehemenz der Angriffe, trotz sachlich vorgetragener Psychiatriekritik, zeigt allerdings, dass sie, ganz gleich, was sie aufs Korn nimmt – Diagnostik, Psychotherapie, medikamentöse Behandlung, Elektrokrampftherapie, Forensik, Zwang etc. – stets empfindlich wunde Punkte berührt. Mich erstaunt es immer wieder, welche Aufwallungen Psychiatriekritik hervorzurufen vermag – trotz der gewaltigen Macht, durch die sich dieses System ungebrochen auszeichnet und durch die es vor Angriffen eigentlich geschützt sein sollte. Wenn man den Rest der Medizin kritisiert, muss man jedenfalls nicht mit Empörung dieses Ausmaßes rechnen, bei weitem nicht.

Auch wenn man vielleicht nicht alles, was dort geschieht, für gut hält, so betrachtet die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Psychiatrie dennoch für unverzichtbar. Und wenn auch einige der wortreichsten Verteidiger der Psychiatrie und Pharmaindustrie hier im Internet wohl auf den Gehaltslisten einschlägig interessierter Kreise stehen, so dürften doch die meisten ihrer Fürsprecher in Foren, Netzwerken oder im Usenet uneigennützig ihrer Überzeugung Ausdruck verleihen, dass eine fundamentale Psychiatriekritik den Interessen leidender Menschen schade und daher zu unterbleiben hätte.

Wer dennoch unverdrossen Psychiatriekritik übt, hat entweder ein dickes Fell oder er ist sehr leidensfähig. Ich habe weder das eine, noch bin ich das andere. Um also Attacken gegen mich möglichst abzumildern, trage ich meine Kritik an der Psychiatrie stets in den moderatesten Tönen vor, mildere sie ab, wo es eben nur geht und meide mitunter sogar allzu verfängliche Problemzonen. Auch im weiteren Verlauf dieses Textes werde ich meine Argumente gleichsam in Watte packen, damit sie empfindliche Gemüter nicht verletzen können.

Psychisch krank?

Der übergeordnete Ansatz einer fundamentalen Psychiatriekritik ist der Begriff der “psychischen Krankheit”. Mitunter spricht man auch von einer “psychischen Störung mit Krankheitswert”. Nur wenige Zeitgenossen zweifeln an der Existenz solcher Krankheiten. Und in der Tat existieren diese ja auch, nämlich als Begriffe, Vorstellungen, Mutmaßungen. Sie haben den ontologischen Status des berühmten Einhorns. Niemand hat dieses Fabelwesen in der Realität jemals gesehen, aber es existiert fraglos in der Fantasie.

Würde ein solches Tier jemals entdeckt und von Biologen eindeutig als eigenständige Spezies klassifiziert, so hörte es auf, ein Fabelwesen zu sein. Entsprechendes gilt für die so genannten psychischen Krankheiten. Würden jemals Hirnstörungen als Grundlage eines Musters abweichenden Verhaltens identifiziert, so hörte die entsprechende “psychische Krankheit” auf, eine bloße Fiktion, ein Fantasiegebilde zu sein. Wir hätten es dann mit einer realen neurologischen Krankheit zu tun.

Aber selbst eine solche, durch neurologische Befunde objektivierte Krankheit wäre kein wertfreier wissenschaftlicher Begriff. Denn unabhängig von der vorliegenden Hirnstörung wäre die Einstufung des entsprechenden Verhaltensmusters als Krankheit eine Bewertung, und zwar eine negative. Wird nämlich ein Verhaltensmuster als Ausdruck einer Krankheit eingestuft, so bedeutet dies, dass man es für notwendig erachtet, dieses Verhaltensmuster zu verändern, es durch ein “gesundes” zu ersetzen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt konnte für keine der gängigen “psychischen Krankheiten” eine Hirnstörung nachgewiesen werden. In den Medien werden zwar immer wieder Kausal-Hypothesen als erwiesene Erkenntnisse verkauft, aber in der psychiatrischen Fachliteratur wird eingeräumt, dass die biologischen Grundlagen dieser “Erkrankungen” bisher ungeklärt sind. Dies gilt nicht nur für die selbst in Psychiaterkreisen umstrittenen Störungen wie beispielsweise die “Dissoziative Identitätsstörung” oder die “Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung”, sondern dies trifft auch auf die etablierten Diagnosen wie beispielsweise Schizophrenie, Depressionen und die bipolaren Störungen zu. Näheres und wissenschaftliche Belege hierzu finden sich beispielsweise in meinem Tagebucheintrag: “Die psychiatrische Diagnostik“. Bei all diesen angeblichen Krankheiten sind also die biologischen Grundlagen nach wie vor unbekannt und wären sie bekannt, dann müsste man sie logischerweise als neurologische und eben nicht als psychische Krankheiten einstufen.

Man könnte nun einwenden, dass man auch dann legitimerweise von Krankheit sprechen dürfe, wenn keine Störungen des Gehirns für die Symptome verantwortlich seien. Die Schwierigkeiten, die mit dieser Auffassung verbunden sind, zeigen sich besonders eindrücklich bei den so genannten Depressionen.

In der neuesten Version des diagnostischen Handbuchs DSM (Version 5) der amerikanischen Psychiatervereinigung “American Psychiatric Association” (APA) wurde gegenüber der Vorgängerversion u. a. bei dieser Diagnose eine Änderung vorgenommen. Galt früher die Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen als normal, sofern sie nicht übermäßig lang ausgedehnt wurde, so wird sie heute bereits als Anzeichen einer depressiven Störung aufgefasst, wenn sie zwei Wochen überdauert (was üblicherweise der Fall sein dürfte). Da es keine objektiven Tests gibt, mit denen man das Vorliegen einer “depressiven Erkrankung” feststellen könnte, ist es natürlich eine philosophische Frage, ob man Trauer als depressiv oder als notwendiges Anzeichen eines “gesunden” seelischen Bewältigungsprozesses auffasst.

Gegen philosophische Diskurse habe ich nichts einzuwenden; auch nichts gegen Debatten über Werte oder den Sinn des Lebens. Der medizinische Diskurs ist aber nicht als ein philosophischer angelegt, sondern, heute noch viel ausgeprägter als in früheren Zeiten, als Diskurs einer angewandten Naturwissenschaft. Der naturwissenschaftliche Diskurs zeichnet sich durch das Signum der Objektivität aus, und dies zu recht, weil die Naturwissenschaft experimentiert, systematisch beobachtet und ihre Hypothesen einer empirischen, intersubjektiven Überprüfung unterzieht.

Wenn nun die Psychiatrie einen “philosophischen” Krankheitsbegriff in diesen naturwissenschaftlichen Diskurs einbringt, so suggeriert sie eine Objektivität, die einer philosophischen Wertediskussion naturgemäß nicht innewohnt. Dadurch wird die Psychiatrie, unabhängig vom guten Willen der beteiligten Psychiater, zu einer dogmatischen Disziplin, weil sie die philosophische Natur ihres Krankheitsbegriffs nicht reflektiert.

Wir erkennen dies besonders krass an den psychiatrischen Diagnosen. Da man ja das Vorliegen einer “psychischen Krankheit” nicht mit objektiven, naturwissenschaftlich fundierten Tests überprüfen kann, ist die psychiatrische Diagnose nichts weiter als eine Bewertung, als eine subjektive, durch Tatsachen nicht begründbare Meinung des Diagnostikers. Die Psychiatrie versteckt diesen unbestreitbaren Sachverhalt hinter einer Fassade aus Autorität und “klinischer Erfahrung”.

Es kommt im Übrigen nicht gerade selten vor, dass ein Mensch von mehreren Psychiatern voneinander abweichende Diagnosen erhält. In diesen Fällen ist es allerdings nicht möglich, beispielsweise anhand von Biomarkern zu entscheiden, welche der divergierenden Diagnosen zutrifft. Es gibt keine Möglichkeit, dies objektiv festzustellen. Doch damit nicht genug. Das diagnostische Denken der Psychiatrie lässt es gar nicht zu, dass eine Diagnose durch Fakten widerlegt werden kann. Denn die Psychiatrie räumt sich das Recht ein, auch dann vom Vorliegen einer psychischen Krankheit zu sprechen, wenn der angeblich Erkrankte die für diese “Krankheit” charakteristischen “Symptome” gar nicht zeigt. Der Psychiater behauptet dann unter Umständen und nach Belieben, dass der “Kranke” die “Krankheit” dissimuliere.

Wer heilt, hat recht

Dieser alte Spruch trifft, wenngleich er häufig zur Rechtfertigung von Hokuspokus missbraucht wird, durchaus uneingeschränkt zu. Wer heilt, hat recht, sofern er tatsächlich geheilt hat, und ihm die Heilung nicht nur zugeschrieben wird. Die Psychiatrie ruht auf zwei Säulen, nämlich der Psychopharmaka-Behandlung auf der einen und der Psychotherapie auf der anderen Seite.

  • Die positiven Wirkungen eines Medikaments setzen sich stets aus zwei Komponenten zusammen, nämlich dem pharmakologischen und dem Placebo-Effekt. Dies bedeutet, dass auch bei einem pharmakologisch effektiven Medikament immer auch ein zusätzlicher Placebo-Effekt zur Gesamtwirkung beiträgt. Staatlich finanzierte Studien zeigen nun, dass bei den Antidepressiva der pharmakologische Eigenanteil an der Gesamtwirkung winzig und vielfach gar nicht vorhanden ist. Auch bei den anderen Psychopharmaka ist er nicht sehr bedeutsam. Die schädlichen Nebenwirkungen sind aber dennoch sehr real und keineswegs eingebildet. Langzeitstudien haben ergeben, dass die so genannten Neuroleptika zur Behandlung von Psychosen den Betroffenen langfristig mehr schaden als nutzen. Der dänische Arzt und Gründer des Nordic Cochrane Centre vertritt die Auffassung, dass sämtliche Psychopharmaka vom Markt genommen werden müssten (1). Das Nordic Cochrane Centre gehört zum Verband der Cochrane Collaboration, einer weltweiten Institution zur medizinischen Qualitätssicherung.
  • Die Psychotherapieforschung hat gezeigt, dass die Effekte der Psychotherapie weitgehend von den eingesetzten Therapieformen unabhängig sind und dass der entscheidende Faktor ebenfalls im Bereich des Glaubens zu suchen ist: Der Erfolg hängt überwiegend davon ab, ob Therapeut und Patient davon überzeugt sind, dass die Behandlung ein Erfolg sein wird. Näheres und empirische Belege hierzu finden sich in meinem Tagebucheintrag: “Ist Psychotherapie die bessere Form der Psychiatrie?”

Wer heilt, hat recht. Zweifellos. Wir sehen hier aber, dass weder in der Psychopharmaka-Behandlung, noch in der Psychotherapie der Psychiater oder Psychotherapeut diesbezüglich die entscheidende Rolle spielt. Was auch immer nach einer Behandlung Positives geschehen mag – dies hängt im Wesentlichen nicht vom Produzenten der medizinischen Dienstleistungen, sondern von ihren Konsumenten ab. Die Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit der “Patienten” entscheidet letztlich darüber, ob die Behandlung ein Erfolg wird.

Anders ist dies bei den so genannten unerwünschten Nebenwirkungen. Bei diesen ist nur zum Teil der Patient selbst beteiligt, wenn er nämlich einem Nocebo-Effekt unterliegt (indem er beispielsweise durch eine “biologische” Erklärung seiner “Krankheit” entmutigt wird). Ein erheblicher Teil der Schadwirkungen aber tritt völlig unabhängig vom Bewusstsein des Patienten als Folge beispielsweise der chemischen Eigenschaften eines “Medikaments” ein.

Im Reich der Fantasie

Die moderne Psychiatrie gaukelt ihren Patienten zwar vor, an einer körperlich begründeten Krankheit zu leiden, die mit biologischen Mitteln behandelt werde, aber in der Praxis spielt nach wie vor die Seele die entscheidende Rolle. Die Psychiatrie ist eine Seelenlandschaft, die sich zwischen den Polen von Placebo und Nocebo, von Verführung und Zwang entfaltet. Immer dann, wenn hier der Körper ins Spiel kommt, dann vor allem als Objekt von Maßnahmen, die ihm teilweise erheblich schaden können. Das Entscheidende aber, um das es, zumindest vordergründig, geht, die Einwirkung auf die Psyche nämlich, findet im Reich der Fantasie statt.

Dies ist weniger überraschend, als es auf den ersten Blick scheint. Man kann nämlich mit den Mitteln der Hypnose sämtliche Symptome “psychischer Erkrankungen” suggerieren. Man kann – zuvor völlig normale, geistig gesunde – Menschen dazu bringen, visuell zu halluzinieren, Stimmen zu hören, an Wahnideen zu glauben, man kann ihnen psychotische Ängste einjagen und sie zutiefst depressiv stimmen, man kann sie hyperaktiv und lethargisch machen (2).

Hypnose funktioniert aber nur, wenn der Hypnotisierte sich dazu bereitfindet, sich den Willen des Hypnotiseurs zu eigen zu machen. Dies bedeutet, dass die Symptome der so genannten psychischen Krankheiten ein Produkt der Fantasie des angeblich Kranken sind. Dass man bisher keine Hirnstörungen ausfindig machen konnte, die für diese Symptome verantwortlich sind, ist daher nicht weiter erstaunlich. Die Hypnose ist ein kommunikativer Prozess.

Es ist im Übrigen keineswegs erforderlich, dass sich Hypnotisand und Hypnotiseur bewusst sind, einen hypnotischen Prozess zu durchlaufen bzw. ihn zu begleiten. Dieser muss auch nicht absichtlich angestrebt werden. Es kommt einzig und allein darauf an, ob das hypnotische Rollenspiel stattfindet. Ein Hypnotisand in einem entspannten, rezeptiven Zustand lauscht einer autoritativen, suggerierenden Stimme und unterwirft sich freiwillig dem Willen, der sich in dieser Stimme ausdrückt – genauer, er identifiziert sich mit diesem Willen, so, als ob es der eigene wäre.

Die so genannten psychischen Krankheiten sind kommunikative Prozesse. Gehorsam spielt dabei eine gewaltige Rolle. Ohne Suggestionen gäbe es keine “psychischen Krankheiten”. Sie beruhen jedoch nicht nur auf Fremdsuggestionen, sondern auch auf Autosuggestionen. Die Autosuggestionen sind sogar der Motor, der die Betroffenen dazu bringt, sich selbst als Akteure in einem therapeutischen Theater zu inszenieren. Sie leiden unter seelischen Konflikten, die in sozialen und ökonomischen Schieflagen wurzeln, und sie unterliegen der Suggestion, dass sie als “psychisch Kranke” (also als Unvernünftige, Irre, heillos Verzweifelte, Traumatisierte) diese Konflikte am besten bewältigen könnten. Und so führen sie sich dann auch auf.

In der Realität

All dies liegt weit jenseits der Themenfelder, die der medizinisch-naturwissenschaftliche Diskurs aufspannt. Dogmatismus, gleich welcher Art, hilft hier nicht weiter, erst recht der psychiatrische nicht. Es geht hier nicht um Krankheiten, sondern um Lebensprobleme und um Lebensstile, die sich als Reaktion darauf eingestellt haben. Diese Lebensstile können riskant, mitunter auch gefährlich für die Mitmenschen des jeweiligen Akteurs sein, durchaus. Den Akteur deswegen als “psychisch krank” einzustufen, ist aber höchst kontraproduktiv, denn dieses Etikett

  • stigmatisiert die Betroffenen, kann Partnerschaften, Ehen, Freundschaften zerstören, zum Verlust des Arbeitsplatzes und zum sozialen Tod führen
  • entlastet den “Patienten” von der Verantwortung für sein Verhalten und demotiviert ihn
  • zwingt ihn zur Übernahme einer Krankenrolle und deformiert dadurch sein Selbstbild
  • vermindert die ohnehin meist erheblich beeinträchtigte Selbstachtung.

Doch die Auswirkungen der Psychiatrie sind nicht nur für einzelne Individuen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt fatal. Über jedem Bürger nämlich schwebt das Damoklesschwert einer psychiatrischen Diagnose. Da psychiatrische Diagnosen subjektiv, also objektiv nicht überprüfbar sind, kann es jeden treffen. Jeder weiß oder kann wissen, dass es auch ihn erwischen kann, wenn er sich für andere rätselhaft aufführt, wenn er andere stört oder wenn er gar den Reichen und Mächtigen in die Quere kommt.

Auch wenn den Menschen dieses Damoklesschwert nicht immer bewusst ist, so wirkt es dennoch, Tag und Nacht, unbewusst und kontrolliert das Verhalten und Erleben. Dies verstärkt den Konformismus, die Homogenisierung der Gesellschaft und dies trägt damit zur Sterilität und zum Verlust von Kreativität bei. Das Leben wird öde und langweilig, angepasst und spießig – und in den Tiefen manch derart malträtierter Seele brodelt Unbehagen, Hass, Lebensüberdruss.

Zwar bestreite ich die Existenz psychischer Krankheiten, nicht aber das Vorliegen von Mustern des Verhaltens und Erlebens, auf die sich diese Diagnosen beziehen. Es gibt selbstverständlich Menschen, die durch psychische Probleme belastet sind und auch für andere zur Belastung oder gar zur Bedrohung werden.

All diese Menschen könnten sich selber helfen, wenn sie nur erkennen würden, dass der von ihnen, als Antwort auf ihre Lebensprobleme, gewählte Lebensstil nicht der einzig mögliche und keinesfalls ein wirklich sinnvoller ist. Ob sie sich nach dieser Erkenntnis ändern wollen, ist eine andere Frage. Dies müssen sie selbst entscheiden und ggf. für die jeweiligen Konsequenzen einstehen.

Hilfe

Aus pragmatischer Sicht muss man aber einräumen, dass eine beträchtliche Zahl dieser Menschen mit fragwürdigen Lebensstilen nicht in der Lage ist, diese zu überwinden, selbst wenn sie es möchten oder dies zumindest vorgeben. Wer, wenn nicht die Psychiatrie, soll ihnen die nachgefragte und mitunter auch erforderliche Hilfe bieten?

Leute und Organisationen, die sich gern an die Stelle der Psychiatrie setzen möchten, gibt es ja genug. Der Esoterikmarkt boomt, Kulte und Sekten haben Zulauf. Manche Psychokulte, wie beispielsweise Scientology, gerieren sich sogar als direkte Konkurrenz zur Psychiatrie und bieten “Technologien” zur “Klärung” eines “unklaren” Geistes an. Wer meinen Ausführungen bisher gefolgt ist, kann sich vermutlich ausmalen, was ich von diesen “alternativen” Angeboten halte.

Esoterik und Psychokulte verfehlen das Problem nicht minder als die Psychiatrie, nur ein klein wenig anders, das ist das “Alternative” daran. Ob nun das Heil in der fernen Geisteswelt Indiens oder im Reich der Schamanen oder, wie bei Scientology, in Hollywood gesucht wird, spielt keine Rolle; man wird es dort ebenso wenig finden wie im Hirn, von dessen Störungen die Psychiatrie fabuliert.

All diese Ansätze und die Psychiatrie eint der Glaube, dass die Individuen im Brennpunkt aller Bemühungen stehen müssten, weil deren “Krankheit” ein Prozess sei, der in ihrem Inneren ablaufe. Zur Art dieses Prozesses mag man unterschiedlicher Meinung sein – die einen glauben an feinstoffliche Energien, die anderen an chemische Ungleichgewichte -, im Grundsätzlichen aber stimmt man überein: Die maßgeblichen Ursachen der “Krankheit” sind im Individuum zu suchen.

Allein: Dass sie tatsächlich dort liegen, konnten bisher weder die Psychiatrie, noch ihre Konkurrenten in esoterischen Gefilden nachweisen. Und es gibt auch keinerlei Anzeichen, die darauf hindeuten, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. Aus meiner Sicht ist es vielmehr an der Zeit, es einmal mit einem Wechsel der Perspektive zu versuchen. Nicht das als psychisch krank missverstandene Individuum, sondern die sozialen Mikrosysteme sollten im Brennpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Denn im Alltag dieser Mikrosysteme entstehen die Muster des Verhaltens und Erlebens, die heute als “psychische Krankheiten” oder als “psychische Störungen mit Krankheitswert” missdeutet werden.

  • Es ist schlicht und ergreifend katastrophal, wenn beispielsweise versucht wird, disziplinarische Probleme in der Schule durch Psychopharmaka zu lösen, anstatt durch eine Überprüfung und ggf. Änderung schulischer Organisationsformen und Abläufe.
  • Katastrophal ist es, schlicht und ergreifend, wenn Drogenprobleme durch Methadon-, Heroinprogramme oder Umerziehungslager gelöst werden sollen und nicht durch eine sinnstiftende Gestaltung des Milieus, in dem Kinder und Jugendliche aufwachsen.
  • Grauenvoll und unbegreiflich jedoch ist es, wenn alte Leute in schlecht geführten Heimen mit Neuroleptika ruhiggestellt und übers Wochenende mit falschen Diagnosen in die Psychiatrie abgeschoben werden, nur weil sich eine ansprechende Gestaltung des Heimes und ausreichend Personal aus wirtschaftlichen Gründen verbieten.

Gutsherrenart

Es liegt mir fern zu behaupten, dass soziale und ökonomische Bedingungen die Ursachen für “psychische Krankheiten” wären. Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, kann unschwer erkennen, dass dies nicht der Fall sein kann; zu verschieden reagieren unterschiedliche Menschen auf vergleichbare Bedingungen. Wohl aber lässt sich feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Phänomenen, die von der Psychiatrie als “Symptome psychischer Krankheiten” missdeutet werden, in Abhängigkeit von Umweltbedingungen steigt oder sinkt. Hier kann, hier muss man also eingreifen.

Die moderne Psychiatrie ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Damals wurden die gesellschaftlichen Strukturen durch den Industrialismus durcheinandergewirbelt und man versuchte, die dadurch verursachten Probleme des Verhaltens und Erlebens mittels der alten Methoden, nämlich nach Gutsherrenart durch eine strenge Hand und Gängelung der desorientierten Menschen zu lösen. Dieser Versuch war zum Scheitern verurteilt und seine Exzesse, von der Folter bis hin zur Ermordung “Geisteskranker” im Dritten Reich, waren keine zufällige Begleiterscheinung.

Die Kosten, die durch die Psychiatrie und ihre Begleitindustrie (Pharma-Wirtschaft) verursacht werden, sind gigantisch. Demgegenüber ist die Effektivität dieser Branche überaus fragwürdig. Es spricht also auch aus ökonomischer Sicht viel dafür, neue Ansätze auszuprobieren.

Echte Alternativen

Sozialarbeit und Sozialpädagogik sollten nicht mehr als Saugnäpfe der Psychiatrie fungieren, sondern eigenständig im Alltag vor Ort Hilfen anbieten, Strukturen modifizieren, Abläufe gestalten, wenn sich Schieflagen zeigen, die sich verändern lassen, auch ohne gleich das gesamte Gesellschaftssystem auf den Kopf stellen müssen (was vielleicht wünschenswert wäre, aber als utopisch hier nicht erwogen werden soll).

Dabei wären die Interventionen natürlich nicht nach dem Muster des Arzt-Patienten-Verhältnisses zu gestalten, sondern als Hilfe zur Selbsthilfe. Hier der aktive, wissende Arzt – dort der unwissende, folgsame Patient -: diese Art der Beziehung ist Gift, wenn es gilt, Menschen zur Eigenverantwortung und zur selbständigen Problemlösung zu ermutigen und ggf. anzuleiten.

Ob dieser Ansatz, in großem Stil betrieben, effektiver wäre als die psychiatrische Lösung, könnte sich erst herausstellen, wenn er denn verwirklicht würde; ich glaube fest daran, dass er es ist, und zwar erheblich. Sicher ist jetzt schon, dass er deutlich billiger wäre. Sogar großzügig ausgestattete Selbst- bzw. sozialarbeiterisch, sozialpädagogisch und semiprofessionell angeleitete Hilfe ist nun einmal kostengünstiger als eine Armee von Psychiatern mit ihren Hilfskräften sonder Zahl. Warum nicht umschwenken, warum keine einschneidende Kurskorrektur? Was hat denn die Psychiatrie an nachweisbarer Leistung zu bieten?

Gute und schlechte Geschichten

Die Pflasterritzenflora ist voll von Belegen dafür, dass die Psychiatrie, im Lichte der unabhängigen empirischen Forschung betrachtet, vor einem Scherbenhaufen steht. Die Liste der Fehlleistungen ist lang und die Leistungsbilanz erscheint nur solange positiv, wie man nicht genauer hinschaut. Leider tun dies viel zu wenige. Die meisten Menschen schauen sogar nicht nur nicht hin, sondern ostentativ weg. Sie haben nichts mit der Psychiatrie zu tun, wollen dies auch nicht und sehen keinen Grund, sich mit dieser unerquicklichen, aber als notwendig erachteten Angelegenheit auseinander zu setzen.

Unter denen, die sich als direkt oder indirekt Betroffene damit beschäftigen müssen, sind die Ansichten gespalten. Die einen bewundern, ja, sie lieben ihn: den hemdsärmeligen, raubeinigen Psychodoc, der sich mit Pillenschleuder und elektrokrampftherapeutischer Stun Gun seinen Weg durch den Dschungel des Wahnsinns freikämpft und sich schließlich mit “compliant patients” zu Füßen fürs Trophäenfoto ablichten lässt.

Die anderen hassen ihn, halten ihn für ein Monster. Sie schwärmen stattdessen für den netten Irrenflüsterer, der mit guten, heilenden Worten vom Himmelreich der seelischen Gesundheit fabuliert und der seinen Patientinnen gelegentlich Postkarten aus dem Urlaub schickt, auf denen er, im Lotossitz zu Füßen seines indischen Meisters sitzend, hochglänzend zu bestaunen ist.

Selbst unter denen, die bereits Zwangseinweisungen und -behandlungen hinter sich haben, finden sich Leute, erstaunlich viele Leute, die zumindest halbwegs ihren Frieden mit der Psychiatrie gemacht haben, und die es als ihr Schicksal ansehen, gelegentlich gegen ihren Willen hinter psychiatrische Gitter verfrachtet zu werden. Nicht wenige dieser Menschen sind letztlich während des größten Teils ihres Lebens mit diesen Maßnahmen sogar einverstanden. Nur eine vergleichsweise kleine Minderheit dieser Betroffenen leistet Widerstand, organisiert sich in den Verbänden der Psychiatrieerfahrenen.

Der Mythos von der guten Psychotherapie scheint ebenso unausrottbar zu sein wie der Mythos des seelischen Apparates, der durch mechanische Eingriffe (mittels chemischer Keule) zu adjustieren sei. Es handelt sich in beiden Fällen in der Tat um Mythen, denn es gibt nicht die Spur eines Beweises dafür, dass raubeinige Psychiater oder säuselnde Psychotherapeuten mehr Gutes zu bewirken vermögen als ein Placebo und es gibt jede Menge Hinweise darauf, dass sie schlussendlich und auf lange Sicht mehr schaden als nutzen. Dies ist zumindest die Lehre, die ich aus meiner rund vierzigjährigen, methoden- und ideologiekritischen Beschäftigung mit der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur sowie aus meinen Erfahrungen und Beobachtungen in diesen Arbeitsfeldern ziehe.

Auch bei Zwangseinweisungen und -behandlungen, die bemerkenswerterweise schlecht erforscht sind, kann der Verdacht nicht von der Hand gewiesen werden, dass sie unterm Strich und auf lange Sicht mehr Menschenleben gefährden als retten.

Nach bisherigem Kenntnisstand, sind wir Menschen die einzigen Wesen in diesem Universum, die einander Geschichten erzählen. Es mag in den Weiten des Weltalls Kreaturen geben, die dies auch tun, aber davon wissen wir nichts. Was wir vom Geschichtenerzählen wissen, das wissen wir von unserer eigenen Spezies und aus eigener Erfahrung. Wir geben unserem Leben Sinn, indem wir Geschichten über uns selbst erfinden und sie anderen erzählen.

Beim Geschichtenerzählen werden wir nicht nur durch unsere eigenen Erlebnisse beeinflusst, sondern auch durch die Berichte und Erfahrungen anderer Leute. In unsere Geschichten fließen nicht nur Tatsachen ein, sondern auch Fantasien, die entweder von uns selbst stammen oder die andere uns vorschwärmten oder zuraunten. Schlussendlich beinhalten die Geschichten über uns selbst zahllose Mythen, deren Herkunft nicht einzelnen Personen zugeschrieben werden kann, sondern die gleichsam in der Luft liegen.

Zu diesen Mythen zählen auch die psychiatrischen, zum Beispiel der Mythos der psychischen Krankheit, der Mythos der gestörten Gehirnchemie, der Mythos der effektiven Psychopharmaka oder der Mythos der alleinseligmachenden psychotherapeutischen Methode. All diese und viele andere Mythen können in unsere Geschichten über uns selbst einfließen, sich mit Fakten und Fantasien verbinden und damit in entscheidendem Maße das Bild prägen, dass wir uns von uns selbst machen und anderen mitteilen.

Dies ist keineswegs so harmlos, wie es auf den ersten Blick erscheint. Denn die Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen, prägen zugleich die Wahrnehmung unserer Welt und ihrer Möglichkeiten und Grenzen.

  • Wer an den Mythos der gestörten Hirnchemie glaubt und sich selbst als depressiv erfährt (sowie entsprechende Geschichten erzählt), der wird viel weniger auf soziale, ökonomische, kulturelle Faktoren achten, die eventuell mit den seelischen Verstimmungen verbunden sein könnten.
  • Wer an den Mythos der alleinseligmachenden Psychotherapiemethode sowie den Worten seiner Psychotherapeutin glaubt und sich selbst als multiple Persönlichkeit fühlt, der wird in seinen Erinnerungen z. B. nach Satansroben und sexuellen Anzüglichkeiten des Vaters kramen und das Fantasiefutter, das aus den Mundwinkeln der freundlichen Psychotherapeutin quillt, eher nicht kritisch reflektieren.
  • Wer an den Mythos des Traumas als Hauptursache seelischer Krankheit glaubt und sich für eine Borderline-Persönlichkeit hält, der wird sich immer wieder die erlittenen seelischen Verletzungen vor Augen führen und sein Augenmerk von all den Vorteilen abwenden, die mit dem Ausleben der “Störung” verbunden sein können.

Dies sind nur drei Beispiele aus einer unerschöpflichen Fülle ähnlich gestrickter Zusammenhänge. Die durch psychiatrische Mythen verengte Wahrnehmung führt natürlich auch zwangsläufig dazu, dass bestimmte Handlungsalternativen in alltäglichen Lebenssituationen von vorneherein ausgeschlossen oder, ohne vernünftigen Grund, als weniger Erfolg versprechend eingeschätzt werden.

Warum sollte ein Mensch, der sich einbildet, an einer “gestörten Hirnchemie” zu leiden, allzu große Mühe darauf verwenden, unerträgliche Lebensumstände zu verändern? Welchen Zweck sollte das haben?, wird er sich fragen. Warum sollte ein Mensch, der sich einbildet, er sei als Kind vorsätzlich und wiederholt zu heiß gebadet worden, sich kritisch mit seinen eigenen Strategien zur Lebensbewältigung auseinandersetzen? Welchen Sinn, so wird er sich fragen, sollte dies denn haben, wenn ich ja doch nur das wehrlose Opfer einer frühkindlichen Abrichtung durch Gewalt und Missbrauch bin?

Die Maßnahmen der Psychodocs werden natürlich wie die entsprechenden Mythen in die Geschichten, die Menschen sich selbst und anderen über sich selbst erzählen, eingewoben. Im schlimmsten Fall wird die richtige Pille oder die richtige Psychotherapie zur einzigen Alternative, um dem eigenen Leben eine Wendung zum Guten zu geben und jedes Scheitern, jede Niederlage in alltäglichen Situationen werden als Beweis dafür gedeutet, dass die Maßnahmen noch besser angepasst, intensiviert oder wieder aufgenommen werden müssen.

Der Patient hat keine Möglichkeit, all dies rational zu überprüfen. Wenn mich ein Zipperlein plagt und ich tue dieses oder jenes dagegen, dann kann ich nie wissen, ob dieses oder jenes dafür verantwortlich war, dass es mir wieder besser geht, oder irgendetwas anderes, und sei es auch nur das Verstreichen der Zeit. Mangels objektiver Maßstäbe wird sich der Patient vielmehr daran orientieren, ob die Geschichte, die er sich und anderen über sich selbst erzählt, in sich stimmig ist und ihm ein gutes Gefühl gibt oder nicht. Erfolgreiche Psychodocs wissen das und helfen ihren Patienten dabei, sich selbst und anderen Geschichten über sich selbst zu erzählen, in denen der Psychodoc die Funktion einer guten Fee wahrnimmt.

Angesichts der Bedeutung solcher Geschichten nimmt es nicht wunder, dass sich auch die Meister des Marketings auf diesem Felde tummeln. Großen schwarzen Vögeln gleich, hüllen sie das Feld der freien Forschung mit ihren Schwingen ins Dunkel, während sie aus lichter Höhe des Kommerzes den (potenziellen) Konsumenten psychiatrischer Leistungen direkt ins Hirn scheißen. Wie anders sollte man es sich beispielsweise erklären, dass immer noch Dopamin- und Serotonin-Hypothesen von Medien aus Pressemeldungen abgeschrieben werden, obwohl diese definitiv wissenschaftlich widerlegt sind? Wie anders sollte man es sich beispielsweise erklären, dass immer noch von den Medien aus Pressemeldungen abgeschrieben wird, wie wichtig die Qualifikation des Psychotherapeuten sei, obwohl wissenschaftlich längst erwiesen ist, dass diese allenfalls eine höchst untergeordnete Rolle spielt?

Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Medien Vorlagen produzieren, nach denen die Rezipienten und potenziellen Konsumenten die Geschichten über sich selbst gestalten sollen. Die eigene Identität wird zum Malbuch, dessen Figuren man nur noch mit den empfohlenen Farben ausmalen muss. Dieses Identitätsmalbuch unter den wachsamen Augen des Psychodocs zu gestalten, ist Bestandteil psychiatrischer “Kunsttherapie” mit dem Ziel der “Krankheitseinsicht”.

Psychiatrische Maßnahmen, gleich welcher Art, wirken sich nicht nur auf bestimmte Symptome aus, haben nicht nur die auf den Beipackzetteln oder in Psychotherapieratgebern aufgelisteten Nebenwirkungen – psychiatrische Maßnahmen erfassen stets, auf dem Wege des Geschichtenerzählens, die gesamte Persönlichkeit eines Menschen, der zu ihrem Objekt wird.

Fazit

Die Psychiatrie ist aus Sicht der Betroffenen kein notwendiges Übel, sondern ein Übel ohne Not. Nichts von dem, was für Betroffene, die Hilfe brauchen, Sinnvolles getan werden könnte, benötigt zwingend einen medizinischen Rahmen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, merkwürdige Phänomene, die infolge von Lebensproblemen auftreten, als “Symptome einer psychischen Krankheit” zu deuten. Diese Deutung ist vielmehr eine Stigmatisierung, der keinerlei Nutzen gegenübersteht.

Die psychiatrischen Mythen haben in unheilvoller Weise die Geschichten verändert, die Menschen einander über ihre Innenwelten erzählen. Dies gilt gleichermaßen für jene, die sich als “psychisch krank” empfinden, wie auch für die so genannten Normalen. Leiden wird zunehmend nicht mehr als Botschaft und Chance zum Neuanfang begriffen, sondern als biologisch verursachtes, sinnloses Geschehen, das mit Pillen und Psychotherapie beseitigt werden kann und muss.

Echte Alternativen zur Psychiatrie müssten nicht erst entwickelt werden; es gibt sie schon. Zahllose psychiatrieferne Hilfen haben weltweit ihre Leistungsfähigkeit bereits unter Beweis gestellt. Es wurde demonstriert, dass als unheilbar eingestufte “Schizophrene” auch ohne Medikamente von ihren Leiden genesen können. “Alkoholiker” haben in Selbsthilfegruppen ihren Weg zur Abstinenz gefunden. “Depressive” haben sich, z. B. dank guter Bücher und guter Musik, am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. All diese hoffnungsvollen Ansätze könnte man fördern und ausbauen, wenn man nur wollte. Ein kleine Auswahl von alternativen Projekten zur Hilfe für Menschen in besonderen Problemlagen findet sich hier.

Für einen Bruchteil des Geldes, das heute für das psychiatrische System verausgabt wird,  könnte man Hilfsangebote entwickeln, die soweit wie irgend möglich die Eigeninitiative der Menschen mit Lebensproblemen nutzen und ggf. wecken. Der Beweis dafür, dass dies bei allen  betroffenen Menschen auch funktioniert, konnte bisher aus verständlichen Gründen noch nicht erbracht werden. Noch schlechter jedoch als die der Psychiatrie könnten die Leistungen alternativer Projekte der erwähnten Art wohl kaum sein.

Anmerkungen

(1) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe

(2) Davon kann man sich in jedem beliebigen Lehrbuch der Hypnose überzeugen, beispielsweise hier: Hilgard, E. R. (1977). Divided Consciousness: Multiple Controls in Human Thought and Action. New York: John Wiley & Sons

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