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Rätselhafte Phänomene oder psychische Krankheiten?

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Wir wissen nicht, warum sich Menschen in einer Weise verhalten, die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit verbunden ist, als “psychisch krank” diagnostiziert zu werden. Es gibt zweifellos Hinweise auf Einflussgrößen, die dabei eine Rolle spielen könnten. Hier handelt es sich um mutmaßliche Ursachen im körperlichen, sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Bereich. Allein, einen wie auch immer gearteten Mechanismus, der diese Phänomene hervorbringt, kennen wir nicht. Es verbietet sich daher, diese Muster des Verhaltens und Erlebens als Symptome von Krankheiten zu deuten; allenfalls könnte man von mutmaßlichen Symptomen hypothetischer Krankheiten sprechen.

Gemeinhin glauben wir, dass Menschen aus freien Stücken handeln, wenn sie nicht zu ihrem Verhalten gezwungen werden. Und dies scheint der Fall, sofern wir keine Anzeichen für einen Zwang erkennen können. Dieser Zwang mag sichtbar, mit den Sinnen erfahrbar sein. Es ist aber auch denkbar, dass wir ihn aus bekannten Sachverhalten erschließen. Bei den so genannten psychisch Kranken können wir weder einen Zwang wahrnehmen (diesen allenfalls vermuten), noch gibt es irgendwelche empirischen Studien, die dafür sprechen, dass ihr Verhalten nicht ihrer Kontrolle unterliegt. Deshalb findet sich auch kein vernünftiger Grund, dies zu unterstellen, geschweige denn, für gewiss zu halten.

Den meisten Menschen scheint eine unbegründete, rein spekulative Erklärung für ein Phänomen lieber zu sein als gar keine – besonders dann, wenn man sich durch dieses Phänomen bedroht sieht. Da man sich nicht erklären kann, warum ein Mensch aus freien Stücken Stimmen hört, die sonst niemand hört, in tiefer Traurigkeit verharrt, obwohl das Leben auch schöne Seiten hat oder sich beispielsweise selbst verletzt, wenngleich man damit die eigene Gesundheit gefährdet, ist man nur zu gern bereit, die Hypothese einer ursächlichen psychischen Krankheit für wahr zu halten, obwohl es dafür keine vernünftigen, auf Tatsachen fußenden Argumente gibt.

Ob jemand UFOs, die Illuminaten oder “psychische Krankheiten” für rätselhafte Phänomene verantwortlich macht, liegt auf derselben geistigen Ebene. Wenn jemand beispielsweise Stimmen hört, die sonst niemand hört, und dies auf “Besendung” zurückführt, so ist er nicht klüger oder dümmer als sein Psychiater, der dies mit einem chemisches Ungleichgewicht im Gehirn erklärt. Beide können ihre These nicht beweisen.

Viele Menschen halten leider unverrückbar an ihren Thesen über rätselhafte Phänomene fest, auch wenn ihnen die Beweise dafür fehlen. Dies könnte daran liegen, dass solche Pseudo-Erklärungen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln, das man nicht missen möchte, auch wenn man sich eigentlich eingestehen müsste, dass man einer Illusion aufsitzt.

Dennoch dient es nicht dem Frieden in der Welt, wenn wir an derartigen Illusionen festhalten. Es ist nicht richtig, Menschen Krankheiten zu unterstellen, wenn es dafür keine Beweise gibt.  Wir behaupten damit nämlich, dass sie sich in einem Zustand befinden, der geändert werden sollte – und zwar durch eine ärztliche Behandlung. Dies impliziert, dass es sich dabei um einen Zustand handelt, der ursächlich durch Prozesse hervorgerufen wird, die im betroffenen Individuum ablaufen. Beweisen können wir dies nicht. Dies ist eine implizite, einseitige Parteinahme zuungunsten des betroffenen Individuums.

Es zählt nicht, wenn nun behauptet wird, man wolle dem “psychisch Kranken” ja nur helfen. Dies ist nicht ausschlaggebend, weil es ja gar nicht bewiesen ist, dass er dieser Art von Hilfe überhaupt bedarf. Wenn er tatsächlich Hilfe braucht, so könnte es sich nach Sachlage um eine ganze andere Form der Unterstützung handeln. Es ist sogar denkbar, dass ihm die ärztliche und womöglich unangemessene Hilfe sogar schadet und ggf. anderen nutzt, nur nicht ihm.

Solange man ein Rätsel nicht zu lösen vermag, sollte man lernen, es zu ertragen. Solange wir nicht wissen, warum manche Leute seltsame Dinge tun, sollten wir ihnen auch keine psychische Krankheit oder andere unbewiesene Gründe unterschieben. Die Psychiatrie suggeriert ihren Patienten, sie stünde auf einer soliden wissenschaftlichen Basis. Dies ist aber nicht der Fall. Man sollte die Menschen nicht anlügen (auch nicht in bester Absicht), damit sie ihre Pillen schlucken.

Das Rätselhafte zu ertragen, bedeutet nicht, die Verletzung eigener Rechte hinzunehmen. Es ist durchaus vertretbar, sich davor zu schützen, mit angemessenen Mitteln. Angemessen sind die Mittel aber nicht, wenn sie durch unbewiesene Krankheiten gerechtfertigt werden müssen. Zur Rechtfertigung der Mittel sollten wir uns an das Greifbare halten. Dies sind beispielsweise Straftaten, nicht aber eine angeblich krankheitsbedingte, mutmaßlich über das Normale hinausgehende Gefährlichkeit.

Der Hang zur Pseudo-Erklärung und das unbelehrbare Festhalten daran müssten aus psychiatrischer Sicht eigentlich als Wahn gedeutet werden – als Wahn sogar, der den Wahnsinnigen potenziell gefährlich macht. Dies kommt der Psychiatrie jedoch nicht in den Sinn. Es könnte sich nämlich durchaus herausstellen, dass manche Psychiater selbst die Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung erfüllen.

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Biologische Psychiatrie?

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Obwohl sie diesen Eindruck zu erwecken versucht, ist die gegenwärtige, angeblich biologische Psychiatrie nicht naturwissenschaftlich fundiert. Das “National Institute of Mental Health” (NIMH), das mit Abstand größte psychiatrische Forschungsinstitut der Welt, räumt dies in seiner Website auch unumwunden ein:

“However, the way that mental disorders are defined in the present diagnostic system does not incorporate current information from integrative neuroscience research, and thus is not optimal for making scientific gains through neuroscience approaches.”

Die Autoren beziehen sich hier auf das amerikanische Diagnose-System DSM; das Gesagte gilt aber gleichermaßen für den psychiatrischen Teil der ICD, der in Deutschland die von den Kassen vorgeschriebene Grundlage der Diagnose bildet.

Die psychiatrischen Diagnosesysteme beziehen die gegenwärtigen Informationen aus der integrierten neurowissenschaftlichen Forschung nicht ein und daher sind sie auch nicht optimal, um Fortschritte durch neurowissenschaftliche Forschungsansätze zu erzielen.

Die Diagnostik ist aber das Herz jedes medizinischen Modells und so auch des Modells der psychischen Krankheiten. Ohne eine naturwissenschaftlich fundierte Diagnostik hängt die Suche nach den Ursachen gleichsam in der Luft. Dass es dann, außer durch Zufall, auch keine Therapien zur Behandlung der Ursachen geben kann, versteht sich von selbst.

Die Psychiatrie ignoriert aber diesen Sachstand und hält unverbrüchlich an ihren Diagnose-Manualen fest. Dies bedeutet, dass Menschen willkürlich, also ohne wissenschaftliche Basis, zu “psychisch Kranken” erklärt werden und diese mutmaßlichen Krankheiten werden dann mit Methoden behandelt, die allein schon darum nicht wissenschaftlich fundiert sein können, weil es keine validen Diagnose-Systeme gibt.

Manche Psychiatriekritiker, die auf den Schwindel der psychiatrischen Marketing-Maschine hereinfallen, glauben dieser Zunft, dass sie naturwissenschaftlich fundiert sei. Sie kritisieren deshalb diese Orientierung mit dem Argument, dass die Seele etwas anderes sei als das Gehirn und mit naturwissenschaftlichen Mitteln weder erforscht, noch behandelt werden könne. Diese Kritik schießt glatt am Ziel vorbei, denn die Psychiatrie behandelt ihre Patienten nicht auf naturwissenschaftlicher Grundlage.

Dies gilt auch für die so genannte medikamentöse Behandlung. Diese wirkt nicht kausal. Mit ihnen wird auch nicht behandelt, was vorgeblich behandelt wird. Man gibt vielmehr Medikamente und peilt dann über den Daumen, ob die Ergebnisse passen – ob sie auch den “Patienten” passen, spielt eine eher untergeordnete Rolle.  Vielmehr geht es darum, die angeblichen Symptome zu lindern oder zu unterdrücken, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Ob es sich bei diesen Phänomenen tatsächlich um Symptome einer Krankheit handelt, weiß, mangels valider Diagnostik, allerdings niemand so genau.

Ich gehöre nicht zu diesen Psychiatriekritikern, die einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Leib und Seele machen. Zwar behaupte ich nicht, dieses uralte philosophische Problem geklärt zu haben, gebe aber zu bedenken, dass keine bekannte Tatsache gegen die These spricht, dass seelische Vorgänge mit Prozessen im Gehirn identisch seien. Dies gilt für alle seelischen Vorgänge, nicht nur für jene, die von der Psychiatrie als “krank” bezeichnet werden.

Psychologie und Psychiatrie sind keine Teilgebiete der Philosophie, sondern empirische Wissenschaften. Man darf sich fraglos philosophischen Glasperlenspielen hingeben, wenn es um sonst weiter nichts geht als darum, wer recht hat. Stehen aber Menschenleben auf dem Spiel, so verbietet sich diese Herangehensweise. Dann muss die Forschung empirisch sein und die eingesetzten Methoden und Versuchspläne müssen den höchsten Anforderungen entsprechen.

Daher kritisiere ich die Psychiatrie nicht etwa, weil sie biologisch, sondern weil sie es nicht ist. Echte Biologie abstrahiert nicht von der Umwelt eines Organismus, sondern studiert die Interaktionen zwischen den Exemplaren einer Art und ihren jeweiligen Biotopen. Die angeblich biologische Psychiatrie jedoch suggeriert uns, dass die Umwelt allenfalls als Auslöser fungiere, nicht aber zum Ursachenbündel der Phänomene gehöre, die sie willkürlich als “psychische Krankheiten” bezeichnet (Vulnerabilitäts-Stress-Modell).

Das Biologische an dieser Psychiatrie besteht dann angeblich in der Sichtweise, psychische Störungen würden weitgehend von überwiegend genetisch bedingten Hirnprozessen verursacht. Dies genau ist aber keine biologische Sichtweise. Selbst bei den angeborenen Auslösemechanismen weiß man, dass diese durch Lernen verändert werden können; sie bilden dann mit erlernten Verhaltensweisen einen unauflöslichen Verhaltenskomplex.

Ich kann nachvollziehen, wenn naturwissenschaftlich gebildete Menschen gegenüber einer Psychiatriekritik misstrauisch sind, die aufgrund eines dualistischen Leib-Seele-Begriffs Anklänge ans Esoterische nicht zu vermeiden vermag. Natürlich wird dann auch leicht der Scientology-Verdacht laut, weil sich dieser Begriff ja in der Thetan-Lehre dieser Glaubensgemeinschaft wiederfindet. Dass dieser Verdacht meist unbegründet ist, steht auf einem anderen Blatt.

Mit seriöser Psychiatriekritik haben solche Vorstellungen allerdings nichts zu tun. Die Psychiatrie hat eindeutig Züge einer staatlich geförderten Sekte und es ist fruchtlos, sie im Sinne eines anderen Sektendenkens zu kritisieren. Jeder, der mit der Psychiatrie konfrontiert wird, sollte nicht in alternativen Ideen schwelgen, sondern sie auffordern, ihre Hypothesen zu beweisen. Wer also als “psychisch krank” diagnostiziert wird, sollte nach Laborbefunden fragen und nicht darüber klagen, dass man mit derartigen Diagnosen seiner unsterblichen Seele Unrecht tue.

Mir ist bewusst, dass ich hier meine Kritik an manchen Psychiatriekritikern etwas überspitzt vortrage. Dennoch halte ich meine Polemik für gerechtfertigt, weil es hier, wie bereits erwähnt, um Menschenleben geht. Und daher ist eine naturwissenschaftlich fundierte Argumentation erforderlich, die ihrem Anspruch auch gerecht wird. Dies darf man nicht nur von der Psychiatrie, sondern auch von ihren Kritikern erwarten.

Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn jemand – völlig unwissenschaftlich – seine eigenen Erfahrungen oder die von Angehörigen schildert. Doch dabei sollte man bedenken, dass diese durchaus zur Illustration, aber nicht zur Begründung einer soliden Psychiatriekritik taugen. Die Psychiatrie hat leichtes Spiel mit solchen Geschichten: entweder bezeichnet sie das Erzählte als bedauerlichen Einzelfall oder aber als unvermeidlich, da fachlich geboten.

Die “biologische Psychiatrie” weiß genau, warum sie sich auf die naturwissenschaftliche Forschung beruft und warum sie diese Suggestion mit gewaltigem Aufwand durch Pseudo-Forschung aufrecht erhält. Sie will von dem Prestige dieser Disziplinen in der technisch-naturwissenschaftlichen Welt profitieren. Dabei kommt es ihr nicht in erster Linie auf die Patienten an; sie weiß, dass diese vielfach “esoterisch angehaucht” sind.

Es geht ihr vielmehr darum, politische Entscheidungsträger zu beeinflussen, weil diese gezwungen sind, ihre Entscheidungen ggf. im Geist der naturwissenschaftlich-technischen Welt zu begründen. Pharma-Wirtschaft, Psychiatrie und Politik haben ein System der, meist einseitigen, Beeinflussung entwickelt, das auf der Fiktion einer naturwissenschaftlich fundierten Medizin beruht. Es gilt, diese Fiktion zu entlarven.

Mitunter präsentieren uns die Medien auch den “weisen” Psychiater, der, esoterische Kundschaft beschwichtigend, darauf verweist, dass Medizin nicht nur Naturwissenschaft, sondern auch Kunst sei. Es komme doch immer auf die Würdigung des Einzelfalles an, der mit Fingerspitzengefühl und Intuition in der Komplexität seiner Lebenswirklichkeit gewürdigt und behandelt werden müsse.

Schön und gut. Kunst. Toll. Dann ist die psychiatrische Klinik wohl eine Kunstausstellung mit den “Patienten” als lebenden Objekten. Da hat sich dann also seit Charcots “hypnotischem Theater” nicht viel geändert. Ein Künstler gestaltet seine Objekte nach Gusto. Ich möchte nicht, dass dies mit Menschen geschieht.

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Psychische Krankheiten auf dem Prüfstand

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Eine Frau, nennen wir sie Lisa, weint seit Monaten fast jeden Tag, und wenn nicht, dann ist sie sichtbar den Tränen nahe. Ihrem Ehemann, Paul fällt auf, dass sie sich auch sonst verändert hat: Ihre Aktivität ist vermindert; man beobachtet sie sogar kaum noch bei Tätigkeiten, die ihr früher Freude machten. Sie hat erheblich an Gewicht verloren. Nachts findet sie häufig nicht in den Schlaf. Vor die Wahl zwischen Alternativen gestellt, kann sie sich oft nicht (rechtzeitig) entscheiden.

Paul drängt sie schließlich dazu, einen Arzt aufzusuchen.

Erste Variante: Sie berichtet dem Mediziner, dass sie sich traurig und leer fühle, dass sie eine unerklärliche Unruhe in sich spüre, dass sie sich wertlos und schuldig vorkomme. Sie könne sich nicht konzentrieren und oftmals falle ihr jeder Gedanke schwer. Immer wieder müsse sie an den Tod denken und mitunter erwäge sie, sich von all dieser Qual zu erlösen. Sie habe eigentlich den Arzt gar nicht aufsuchen wollen, weil ja doch alles vergeblich sei. Aber ihr Mann habe sie dazu gedrängt. Sie erzählt dem Arzt, welche Veränderungen ihr Mann an ihr beobachtet habe, dass er sich deswegen Sorgen mache und die Gründe geklärt wissen wolle.

Hier sind offenbar zwei Gruppen von Phänomenen relevant. Die Elemente der einen Gruppe können beobachtet werden. Es handelt sich dabei um die Verhaltensweisen, die Paul wahrgenommen hat. Die Aspekte der anderen Gruppen aber können nicht beobachtet, sondern nur vom Betroffenen selbst erlebt werden. Es sind dies die mentalen Zustände, die Lisa gegenüber ihrem Arzt bekundete.

Zweite Variante: Lisa erzählt dem Mediziner, dass sie nur auf Drängen ihres Mannes bei ihm erschienen sei. Paul habe seltsame Veränderungen ihres Verhaltens bemerkt, die sie ja gar nicht bestreiten wolle, die sie sich aber auch nicht erklären könne. In ihrem Leben habe sich nichts Wesentliches verändert und sie fühle sich wie immer.

In der ersten Variante vermutet der Arzt, dass Lisas Verhalten und Erleben eindeutig für eine Depression sprächen. In der zweiten Variante unterstellt der Arzt, Lisa leide an einer Depression, dissimuliere jedoch die damit verbundenen Symptome im Bereich des Erlebens. Beweisbar ist die Diagnose jedoch in keinem Fall, denn erstens haben sich alles bisherigen bio-psycho-sozialen Erklärungsversuche der genannten depressiven Verhaltensweisen als unzulänglich erwiesen und zweitens hängt die Interpretation des mentalen Zustands von den Bekundungen Lisas ab, und diese können in beiden Varianten falsch sein.

Der Arzt hätte in der ersten Variante auch behaupten können, dass Lisas Verhalten und Erleben auf den Einwirkungen eines Dämons beruhe. In der zweiten Variante hätte er unterstellen können, dass der Dämon zusätzlich ihren Geist verwirrt habe. Da wir aber nicht mehr im Mittelalter leben, fabuliert der Arzt, Lisa leide unter einer Depression, die durch einen Serotonin-Mangel hervorgerufen werde. Er verschreibt ihr ein Medikament, dass angeblich den Mangel ausgleicht. Wenn er einen Exorzismus angeordnet hätte, so wäre dies auch nicht weniger wissenschaftlich fundiert gewesen.

Es gibt keine empirisch erhärtete Ursachentheorie für “psychische Krankheiten”. Das angeblich durch derartige “Krankheiten” verursachte Verhalten kann auch anderes gedeutet werden und das bekundete Erleben muss nicht mit den tatsächlichen mentalen Zuständen übereinstimmen. Doch selbst wenn ein Patient so ehrlich wie möglich über seine innere Befindlichkeit Auskunft gibt, so gilt doch, dass uns das Erleben eines mentalen Zustands nicht verrät, was ihn hervorbringt.

Man könnte, angesichts des Sachstandes, nun Folgendes fordern: Klammern wir alles aus, was sich nicht beobachten lässt. Ursachentheorien sind unerheblich und Spekulationen über mentale Zustände überflüssig. Konzentrieren wir uns auf das Verhalten. Verhalten mag nicht alles sein, aber alles, was sich beobachtbar verändern lässt, ist Verhalten.

Dass sei Dressur, könnte man einwenden, Behavorismus, Verhaltenstherapie, unmenschlich, Zwang. An diesem Einwand ist sicher etwas dran. Andererseits: Wenn jemand aus freien Stücken eine Änderung seines Verhaltens wünscht und es gelingt uns, seinen Wunsch beobachtbar und nachweislich zu erfüllen, was sollte daran verwerflich sein, auch wenn es sich um eine Dressur handelt? Wird man nicht auch dressiert, wenn man lernt, Klavier zu spielen oder Auto zu fahren?

Ein Psychiater mag einwenden, durch solche Methoden würden allenfalls die “Symptome” überlagert, aber die eigentliche “Krankheit” nicht beeinflusst. Dies könnte zutreffen, wenn eine solche “Krankheit” tatsächlich existierte und wenn die Phänomene tatsächlich deren “Symptome” wären. Doch es gibt keinen vernünftigen, auf Tatsachen fußenden Grund, die Existenz derartiger “Krankheiten” zu unterstellen.

Es spräche also viel, wenn nicht alles für die Verhaltenstherapie, wenn sie nicht einen kleinen Schönheitsfehler hätte. Aus der empirischen Psychotherapieforschung wissen wir, dass sie nicht effektiver ist als jeder andere Therapieform, die jemals mit ihr, in methodisch (halbwegs) einwandfreien Studien, verglichen wurde. Es zeigte sich, dass Therapiemethoden gar nicht so wichtig sind. Als in erster Linie entscheidend für den Erfolg, stellte sich heraus, dass Patienten und Therapeuten, in engem Arbeitsbündnis, fest davon überzeugt sind, dass die Methode wirkt. Kurz: Wer sich in eine Psychotherapie begibt, betritt das wundersame Reich der Placebo-Wirkung.

Aber was ist mit den Medikamenten, gegen diese könne man ja sagen, was man wolle, aber dass sie wirkten, könne niemand bestreiten. Freilich, sie wirken: In vielen Fällen wirken sie wie ein Placebo, z. B. die Antidepressiva. Manchmal wirken sie auch dadurch, dass sie eine mutmaßliche, also die “psychische Erkrankung”, durch eine reale, nämlich eine schwere neurologische Störung ersetzen, wie z. B. die Neuroleptika. Wenn beispielsweise jemand ein leidenschaftlicher Anhänger von Borussia Dortmund ist, so wird man dies durch eine angemessene Gabe von Neuroleptika durchaus “heilen” können. Wie, das sei keine Krankheit? Man kann aber alles als Krankheit definieren, solange man sich um die Validität der Diagnosen nicht kümmert.

Psychiatriekritikern wird häufig vorgeworfen, sie wüssten ja auch nicht, wie man es besser machen könne als die Psychiatrie. Dazu ein Beispiel aus der Geschichte der Medizin. Als Hahnemann die Homöopathie erfand, da traktierte die so genannte Schulmedizin ihre Patienten häufig mit Mitteln, die bestenfalls wirkungslos waren, ihnen aber nicht selten mehr schadeten als nutzten. Die Homöopathie war ein großer Erfolg, und dies nicht etwa, weil die entsprechenden Mittel wirksamer waren als ein Placebo, sondern weil sie die Patienten vor Schlimmerem bewahrte, was ihnen die Schulmediziner hätten antun können. Als Hahnemann die Homöopathie begründete, da wusste die Medizin so gut wie nichts, und entsprechend waren ihre Methoden.

In einer vergleichbaren Situation befinden wir uns noch heute in Sachen Psychiatrie. Sie weiß so gut wie nichts und ihre Methoden richten oftmals mehr Schaden an, als sie Nutzen stiften. Daher darf man es als medizinischen Erfolg der Psychiatriekritik werten, wenn sie potenzielle Patienten gegenüber der Psychiatrie skeptisch macht. Selbsthilfe (auch durch allerlei harmlosen Hokuspokus) ist oftmals besser als eine psychiatrische Behandlung. Schließlich gilt: Primum nihil nocere. Dieses Prinzip führt sich zwar selbst ad absurdum, wenn man es allzu streng auslegt, denn beinahe jeder Eingriff hat unerwünschte Nebenwirkungen, sofern er Wirkungen hat. Doch je primitiver der Erkenntnisstand einer Disziplin ist, desto strenger muss dieses Prinzip befolgt werden.

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Widerruf der Wahlempfehlung für die Linke

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Am 9. September 2013 berichtete die Pflasterritzenflora, dass der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener und die Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener zur Wahl der Partei “Die Linke” aufrufen. Damals gab ich u. a. Folgendes zu bedenken:

“Eine Wahlempfehlung für die Linke, auch wenn ich sie nicht ausspreche, halte ich durchaus für vertretbar, aber aus anderen Gründen. …

Solange nicht eine Mehrheit der Bevölkerung den politischen Charakter der Zwangspsychiatrie durchschaut, haben die Befürworter ihrer Abschaffung schlechte Karten. Wer Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung für notwendige medizinische Maßnahmen hält, wird zu dieser Einsicht wohl eher nicht vordringen. Daher hätte man die Kandidatinnen und Kandidaten fragen sollen, ob sie an die Existenz psychischer Krankheiten glauben.”

Leider hatte ich recht; es wurden die falschen Fragen gestellt. Inzwischen sah sich Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener gezwungen, ihren Wahlaufruf zu widerrufen. Sie hat einen Brief des Brandenburgischen Gesundheitsministeriums erhalten, das einem Linke-Mitglied, der Gesundheitsministerin Anita Tack untersteht. Dort heißt es u. a., dass nach Auffassung dieses Ministeriums bei “psychisch Kranken”

“… Zwangsmaßnahmen ausschließlich zur Abwehr erheblicher Gesundheitsgefahren für Patientinnen und Patienten selbst oder Dritte als letztes Mittel unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig sein können.”

Es führt also kein Weg daran vorbei, die Gretchenfrage zu stellen: Wie hältst du es mit den “psychischen Krankheiten”. Eine klare Antwort darauf er erzwingt eine klare Antwort auf die Frage der Zwangsbehandlung. Die Logik: Wenn es keine “psychischen Krankheiten” gibt, dann darf es auch keine Zwangsbehandlungen angeblich “psychisch Kranker” geben. Wer dann dennoch die Zwangsbehandlung für zulässig hält, straft sich selbst Lügen.

Vielleicht verstehen einige Leser, die meinen Standpunkt bisher für haarspalterisch oder nebensächlich gehalten haben, warum ich auf diesem Thema immer wieder herumreite.  Solange es keinen vernünftigen, auf Tatsachen beruhenden Grund gibt, an die Existenz “psychischer Krankheiten” zu glauben, kann man auch die Zwangsbehandlung wegen einer solchen mutmaßlichen Krankheit und einer dadurch erhöhten Gefährlichkeit für sich und andere nicht rechtfertigen.

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Verrückte sind unter uns

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Es gibt sie natürlich, Verrückte: Leute, die gelegentlich austicken. Sie verhalten sich chaotisch oder sonstwie bizarr. Sie können ihren Mitmenschen fürchterlich auf die Nerven gehen. Sie lärmen nachts im Treppenhaus, sie mischen Arbeitsgruppen mit närrischem Betragen auf, sie vernachlässigen ihre Pflichten zugunsten läppischer Beschäftigungen, sie sind rationaler Argumentation nicht zugänglich. Die Psychiatrie hat lustige Kosenamen für sie: schizophren, manisch-depressiv, psychotisch, bipolar oder was auch immer. Wenn diese Leute es allzu toll treiben oder wenn Mitmenschen allzu schwache Nerven haben, wird die Psychiatrie eingeschaltet und manchem Psychiater gelingt es dann auch, Richter davon zu überzeugen, dass diese Leute weggesperrt gehören.

Menschen, die einen kühlen Kopf zu bewahren wissen, fragen sich natürlich, was die Psychiatrie damit zu tun hat. Die Verrückten zeigen ja keinerlei Anzeichen von Krankheit; sie machen eben nur Rabatz oder halten sonstwie den Betrieb auf. Häufig genügt es ja, die Verrückten, allenfalls achselzuckend, in Ruhe zu lassen, in der Hoffnung, dass sie sich früher oder später schon wieder beruhigen bzw. wieder in die Spur zurückfinden werden. Verrückte muss man nicht gleich so schrecklich ernst nehmen. So etwas geht oft vorüber. Manchmal begehen sie kleinere Straftaten, bezahlen vielleicht eine Taxifahrt nicht und schlagen sich stattdessen in die Büsche oder sie obliegen der Hausordnung nicht, was auch immer, ärgerlich ist das schon, mitunter sogar sehr ärgerlich, aber muss man sie deswegen gleich hinter psychiatrische Gitter bringen?

Ein altes Hausmittel besagt: Verrückte soll man in Frieden lassen und ihnen immer recht geben. Solche Weisheiten helfen oft, aber bekanntlich nicht immer. Mitunter wissen die Verrückten selbst, dass sie aus eigener Kraft das Ruder nicht mehr herumreißen können und suchen Hilfe. Wohl dem, der da verständnisvolle Angehörige oder gute Freunde hat. In Ländern mit intakten Familien und ausgereiften nachbarschaftlichen Strukturen gibt es bekanntlich viel weniger Verrückte als beispielsweise bei uns und wenn einer einmal austickt, dann geht das auch viel schneller wieder vorüber. Doch ist das Land ein mitleidsloses, kaltes: was dann?

Manche Verrückte wenden sich in ihrer Not an die Psychiatrie. Die Psychiatrie, allein, sie weiß nicht, was mit diesen Leuten nicht stimmt, sie weiß nicht, wie man ihnen wirksam helfen könnte, und die Hilfen, die sie gewährt, schaden oftmals mehr als sie nutzen. Die Psychiatrie befindet sich in einem Zustand, in dem vor hundert Jahren die gesamte Medizin verharrte, sie ist überwiegend Quacksalberei. Ihre Kuren sind teilweise genauso brutal wie die Methoden im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Helfen tun sie aber nicht, nicht wirklich.

Viele Verrückte wissen oder ahnen dies natürlich und wollen sich deswegen von der Psychiatrie nicht “helfen” lassen. Die Psychiatrie unterstellt ihnen dann fehlende “Krankheitseinsicht” und wenn sie die Verrückten zusätzlich für gefährlich oder suizidal hält, dann veranlasst sie die Justiz, einer Einweisung hinter psychiatrische Gitter zuzustimmen. Das haben die Verrückten natürlich nicht verdient, aber so ist nun einmal das Leben. Die Verrückten können zwar nichts dafür, dass es kein gescheites Hilfesystem in unserem Land für sie gibt, doch wer fragt danach, das müssen sie trotzdem ausbaden, warum sind sie auch verrückt, selber schuld, sie könnten ja auch normal sein.

Natürlich könnten sie das. Kein Mensch hat sie mit vorgehaltener Kalaschnikow dazu gezwungen, verrückt sie sein. Sie haben sich aus freien Stücken dazu entschieden. Sie wollten das so. Vielen erschien dies als die beste Lösung von Schwierigkeiten in einer vertrackten Situation. Da stellt sich allerdings die Frage, ob freie Bürger in einem freien Land nur dann ihre Freiheit auch in Anspruch nehmen dürfen, wenn sie sich für etwas entscheiden, was ihre Mitmenschen für normal oder “im Rahmen” halten?

Oftmals brauchten solche Leute einfach nur eine Einrichtung, in der sie vorübergehend unterkommen können und in der man sie in Ruhe lässt, damit sie zu dieser wieder finden können. In der sie Medikamente bekommen können, wenn  sie diese wollen, in der man sie ihnen aber nicht aufzwingt und oder sie bequatscht, Substanzen zu schlucken, die mit erheblichen Schadwirkungen verbunden sein können, aber nicht wirklich helfen. Oftmals brauchen solche Leute einfach nur eine Einrichtung, in der sie auf ihrem Weg durch eine schwierige Phase begleitet werden, ohne dass man ihnen eine Therapie aufnötigt, die sie zu Kranken macht.

Einrichtungen der beschriebenen Art würden viele Verrückte auch ohne Krankheitseinsicht attraktiv finden; auch solche, die heute entweder in die Psychiatrie gezwungen werden oder sonstwie, mit oder ohne “professionelle Hilfe”, versauern.  Dies jedenfalls halte ich für eine vernünftige Hoffnung. Um zu beweisen, dass sie gerechtfertigt ist, müsste man solche Einrichtungen allerdings erst einmal schaffen und bekannt machen. Sie wären eine Konkurrenz zur Psychiatrie, in denen die Ausgeflippten unterkommen könnten, ohne das sie sich als “psychisch krank” verunglimpfen lassen müssen. Nicht wenige, davon bin ich überzeugt, würden erkennen, dass es eine bessere Lösung ist, sich aus freien Stücken in eine solche Einrichtung zu begeben, als auf sich allein gestellt durch die Landschaft zu irren. Überall dort, wo derartige Ansätze versucht wurden, waren sie jedenfalls erfolgreich.

Natürlich wird es immer Menschen geben, die sich partout nicht helfen lassen wollen. Dies wäre selbst dann der Fall, wenn es das Schreckgespenst Psychiatrie nicht leibhaftig gäbe. Was soll also mit diesem harten Kern der Verrückten geschehen? Diese Verrückten sind unter uns, es hilft nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Sie sind beharrlich. Sie haben sich aus freien Stücken dafür entschieden, aus dem Rahmen zu fallen und Menschen ggf. auch auf die Nerven zu gehen (wenn nicht Schlimmeres), und sie denken gar nicht daran, sich durch gutes Zureden oder vernünftige Argumente davon abbringen zu lassen.

Falls diese Menschen keine Straftaten begehen, wird man sie ertragen müssen, dies ist der Preis der Freiheit, diese gibt es nicht zum Nulltarif. Wer Freiheit zum Nulltarif fordert, will in Wirklichkeit gar keine Freiheit. Wenn diese Leute aber straffällig werden, dann müssen sie bestraft werden. Sie müssen jene Strafe erhalten, die der Schwere ihrer Tat entspricht. Manche meinen ja, dass solche Leute in Gefängnissen nicht gut aufgehoben seien. Dies mag sein. Wirklich gut aufgehoben ist dort niemand. In einem Land mit humanem Anspruch sollte man dafür sorgen, dass alle Gefängnisinsassen in diesen Einrichtungen so gut aufgehoben sind, wie es nach Lage der Dinge eben möglich ist.

Verrückte sind unter uns. Sie sind durchgeknallt und ausgeflippt und sie verhalten sich wirklich… – also, normal ist das nicht. Sie sind lästig, sie nerven, sie machen jede Menge Mist. Sie benehmen sich schlecht. Aber es sind Mitbürger, in einem freien Land. Sie haben die Rechte und Pflichten freier Bürger. Sie haben das Recht, aus dem Rahmen zu fallen, aus der Reihe zu tanzen – und sie haben die Pflicht, für die eventuellen Folgen geradezustehen. Das gilt für alle. Im Grunde ist dies ziemlich einfach einzusehen. Es fällt nur schwer, dies zu begreifen, solange man sich von dem wirren und wirklichkeitsfremden Konstrukt der “psychischen Krankheiten” leiten lässt. Dieses Konstrukt hat nur den einzigen Zweck, die Zuständigkeit von Medizinern in diesen Fällen zu begründen.

Das Verrückte an den Verrückten ist, dass sie sich nicht so verhalten, wie wir es von einem vernünftigen Bürger erwarten. Dies ist aber nicht das Problem der Verrückten, sondern dies ist unser Problem. Nirgendwo steht geschrieben, dass andere unsere Erwartungen erfüllen müssen, es sei denn, sie wären gesetzlich oder vertraglich dazu verpflichtet. Dass dies, die Freiheit zu erwartungswidrigem Verhalten, beachtet wird, macht ein freies Land aus. Die Zwangseinweisung der so genannten psychisch Kranken, die angeblich für sich selbst oder andere gefährlich sind, ist daher ein guter Gradmesser für die Liberalität einer Partei. Ist sie damit einverstanden (als “Ultima Ratio”, versteht sich), dann ist sie in einer zentralen Frage nicht liberal und für einen Liberalen nicht wählbar.

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“Psychisch krank”– eine freie Entscheidung?

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Manche Psychiatriekritiker bestreiten zwar, so wie ich, die Existenz “psychischer Krankheiten” – sie meinen aber, im Gegensatz zu mir, dass die Phänomene, die von der Psychiatrie als Symptome einer “psychischen Krankheit” missdeutet würden, ursächlich auf Traumata und psycho-soziale Faktoren zurückzuführen seien.

Auf der einen Seite steht also das biomedizinische Modell, auf der anderen Seite das psycho-sozial-traumatheoretische. Die einen glauben an Vererbung und Hirnstörungen, die anderen an sexuellen Missbrauch, körperliche Verwahrlosung, menschliche Verelendung unter misslichen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen.

In der Praxis haben beide Ursachen-Modelle in etwa dieselben Auswirkungen. Die einen sagen, biomedizinische Faktoren riefen die “psychische Krankheit” hervor. Die anderen sagen, für die als “psychisch krank” missdeuteten Phänomene seien Umweltfaktoren verantwortlich. In beiden Fällen unterliegt, so wird behauptet, der betroffene Mensch einem Mechanismus, der ihm keine Wahl lässt. Die Vertreter des biomedizinischen Modells unterstellen, dieser Mechanismus sei ein körperlicher. Die Anhänger des “sozialwissenschaftlichen” Modells meinen, dieser Mechanismus sei ein psychischer.

Beiden Sichtweisen ist gemeinsam, dass der Mensch keine Wahl hat. Er ist für sein Geschick nicht verantwortlich. Die einen zeigen die rätselhaften und mitunter störenden Phänomene, weil etwas in ihrem Gehirn oder in ihrem Körper im Allgemeinen nicht stimmt. Die anderen bringen sie hervor, weil sie in der Kindheit traumatisiert wurden oder weil sie unter verheerenden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen leben.

Die logische Schlussfolgerung: Da die Betroffenen ja nichts dafür können, muss nach beiden Modellen irgendwer sonst die Verantwortung für sie übernehmen, zumindest teilweise. Ob dies nun der Arzt ist, mit seinen Pillen, oder ob dies nun der Psychologe ist, mit seiner Psychotherapie, ganz gleich: Der Betroffene hat keine Wahl, er ist Opfer, entweder seiner Hirnerkrankung oder seine Lebensumstände. Diese Faktoren führen automatisch dazu, dass er aus der Rolle fällt und sich gegebenenfalls auch schwer danebenbenimmt.

Für beide Modelle gibt es nicht die Spur eines empirischen Beweises. Dies hindert deren Vertreter aber nicht, sie mit wahrem Glaubenseifer zu verteidigen. Es soll sogar vorkommen, dass sich Angehörige von diesem Virus anstecken lassen, obwohl sie es aus eigener Anschauung eigentlich besser wissen müssten. Die so genannten psychisch Kranken mögen sich in dieser oder jener Hinsicht zwar von den so genannten Normalen unterscheiden; aber in einer Hinsicht gibt es keinen Unterschied: Sie alle fällen tagtäglich eine Vielzahl von Entscheidungen, die den weiteren Verlauf ihres Lebens u. U. maßgeblich beeinflussen.

Natürlich kann jeder Aufsichtsrat werden oder ein “psychisch Kranker” auf Hartz-4. Selbstverständlich hängt die Wahrscheinlichkeit des einen oder anderen nicht nur von unseren Entscheidungen ab. Wer beispielsweise nicht aus der gehobenen Mittelschicht bzw. der Oberschicht stammt, hat nur geringe Chancen, Aufsichtsrat zu werden. Nicht alles, wozu wir uns entscheiden, wird uns auch gelingen, selbst wenn wir uns auf den Kopf stellen, es zu erreichen. Der Spross einer schwer reichen Familie dürfte es schwer haben, als “psychisch Kranker” auf Hartz-4 zu landen, auch wenn er sich noch so sehr bemüht.

Dies bedeutet aber nicht, dass unser Leben vorgezeichnet wäre. Dies wäre sogar dann nicht der Fall, so will mir scheinen, wenn unser Verhalten und Erleben auch von unseren Erbanlagen abhinge. Und dies ist, so will mir scheinen, ebenfalls nicht so, wenn uns verheerende Lebensverhältnisse belasten. Der Mensch ist kein Automat. Er hat einen freien Willen. Er kann wählen. Zwar hat er keinen oder nur geringen Einfluss auf die Zahl der Alternativen und der diesen zugeordneten Erfolgswahrscheinlichkeiten  - dennoch steht er seinem Leben als ein Wählender gegenüber und er ist dennoch kein Blatt im Wind.

Und so wird auch niemand “psychisch krank”, wie man Krebs oder ein Nierenleiden bekommt. Selbst wenn man raucht und säuft und dadurch zu körperlichen Erkrankungen beiträgt, lassen sich diese nicht mit “psychischen Krankheiten” vergleichen. Denn die so genannten psychischen Krankheiten beruhen ausschließlich auf Entscheidungen und diese Entscheidungen können rückgängig gemacht werden.

Es mag zwar sein, dass ein Mensch irgendwelchen seltsamen Phänomenen, wie beispielsweise einem Zwang, hilflos gegenübersteht. Aber er wird nur “zwangskrank”, wenn er sich dazu entscheidet, diese Diagnose zu akzeptieren und die Rolle des “Zwangskranken” zu übernehmen. Denn die Diagnose ist eine willkürliche Zuschreibung; es gibt nicht die Spur eines Beweises dafür, dass der Zwang durch einen körperlichen Prozess, auf den der einzelne keinen Einfluss hat, verursacht wird.

Selbstverständlich gibt es auch nicht die Spur eines Beweises dafür, dass der Zwang durch sexuellen Missbrauch beispielsweise oder durch miserable Lebensverhältnisse verursacht wurde. Er beruht auf einer Entscheidung. In aller Regel hat sich der Betroffene zum Zwang entschieden, weil ihm dies die beste unter allen möglichen Alternativen zu sein scheint. Diese Beurteilung der Alternativen mag falsch sein, es mag Möglichkeiten geben, die dem Betroffenen besser dienen würden, allein: Darauf kommt es nicht an.

Es kommt darauf an, wie wir uns entscheiden. Unter allen Umständen haben wir die Wahl, auch wenn sich uns nur mehr oder weniger schlechte Alternativen bieten. Und selbst wenn wir glauben, eine Maschine zu sein, so beruht dieser Glaube auf freier Entscheidung. Nichts zwingt uns dazu, dies zu glauben. Wir haben die Verantwortung. Wenn wir sie übernehmen, müssen wir uns allerdings, sofern wir logisch bleiben wollen, von allzu billigen, wenngleich scheinbar selbstdienlichen Entschuldigungen verabschieden.

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Psychiatrie ohne Zwang?

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Hilf-, ja segensreich könne sie sein, die Psychiatrie, glauben manche wohlmeinende, kritische Freunde dieser Disziplin, wenn nur der Zwang, der böse Zwang nicht wäre. Dann könne man dort, so heißt es, viel Gutes tun, vor allem mit den Mitteln der Psychotherapie, für die Traumatisierten, Mühseligen und Beladenen.

Im Augenblick noch schwebt über den Bürgern dieser Welt das Damoklesschwert der Psychiatrisierung. Jeder kann willkürlich hinter psychiatrischen Gittern eingesperrt und gegen seinen Willen mit Gewalt behandelt werden. Willkürlich sind Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung, weil es kein objektives Verfahren gibt, mit dem man das Vorliegen einer “psychischen Krankheit” feststellen oder die Gefährlichkeit eines Menschen für sich bzw. andere mit vertretbarer Trefferwahrscheinlichkeit prognostizieren könnte.

Diese Beliebigkeit bereitet auch den wohlmeinenden, kritischen Freunden der Psychiatrie Kopf- und Bauschmerzen; und so fordern sie eine Psychiatrie ohne Zwang. Dieser Forderung widerspricht allerdings die überwältigende Mehrheit der Psychiater, die glaubt, auf Zwang als “ultima ratio” nicht verzichten zu können. Zwar sei es immer besser, keinen Zwang anwenden zu müssen, und zumeist gelinge es ja auch, den Patienten von der Notwendigkeit einer Behandlung zu überzeugen, aber eine erzwungene Therapie sei vielfach besser als gar nichts zu tun.

Manche Patienten werden erpresst: Wenn man sich nicht freiwillig behandeln lasse, dann werde man sich die Zwangsbehandlung eben durch richterlichen Beschluss genehmigen lassen, wird gedroht. Eine freiwillige Behandlung könne unter Umständen schnell vorüber sein, aber bei einem Beschluss könne es lange, sehr lange dauern. Gut, wenn man die Medikamente nicht nehmen wolle, dann gäbe es eben keinen Ausgang, keinen Sport, keine Musiktherapie.

Dies zeigt, wie schmal der Grat zwischen direkter, handfester physischer Gewalt und so genannter Freiwilligkeit sein kann. Der Unterschied zwischen einer Spritze, die man sich unter Androhung von Gewalt gefallen lässt, und einer tatsächlich gewaltsam gesetzten Spritze scheint mir nicht übermäßig groß zu sein. Selbst wenn es keine ausgesprochene Androhung von Zwang gibt, so muss sich doch jeder Patient bewusst sein, dass er mit Gewalt zu rechnen hat.

Doch auch Patienten, die sich dies nicht bewusst machen, können sich vermutlich der Atmosphäre der Gewalt nicht entziehen, die insgesamt im psychiatrischen Sektor herrscht, nicht nur in den geschlossenen Abteilungen oder im Maßregelvollzug. Auch die private psychotherapeutische Praxis ist Teil eines Systems, in dem Menschen willkürlich ihrer Freiheit beraubt und gegen ihren Willen einer psychiatrischen Behandlung unterzogen werden können.

Und so ist die Atmosphäre in der Psychiatrie generell vergiftet. Wer im bequemen Ohrensessel im Behandlungszimmer seines Psychotherapeuten seine Gedanken schweifen lässt, darf nicht wähnen, er sei davor gefeit, sich wenig später hinter psychiatrischen Gittern an ein Bett gefesselt wiederzufinden. Wer dies für Panikmache hält, möge sich vor Augen führen, dass jährlich allein in Deutschland rund 200.000 Menschen zwangsuntergebracht werden. Und in dieser Zahl sind jene nicht enthalten, die sich freiwillig, aber unter Androhung von Gewalt in einer psychiatrischen Anstalt aufhalten.

Wie könnte eine Psychiatrie ohne Zwang aussehen? Es ist schwer, sich dies auch nur vorzustellen, denn im Augenblick ist die Psychiatrie bis in den letzten Winkel vom Geist des Zwangs beherrscht. Gewalt ist immer präsent, zumindest unausgesprochen. Auch wer seine Augen davor verschließt, ist in die Atmosphäre der Gewalt getaucht. Und diese Atmosphäre bestimmt sein Verhalten, ob ihm dies bewusst ist oder nicht.

Aus meiner Sicht ist es überaus zweifelhaft, ob es eine Psychiatrie ohne Zwang überhaupt geben kann. Die Diagnostik ist nicht valide, die Ursachen der angeblichen psychischen Krankheiten sind unbekannt, die Erfolge der “Behandlungen” sind überaus zweifelhaft. Unter diesen Bedingungen drängt sich der Verdacht auf, dass viele Patienten sich aus dem, häufig unbewussten, Motiv in die Psychiatrie begeben, dem Zwang zuvorzukommen.

Es dürfte wohl niemand bestreiten, dass sich Verkehrsteilnehmer anders verhalten würden, wenn sie nicht mit der Verkehrspolizei rechnen müssten. Viele halten sich, mehr schlecht als recht, an die Verkehrsregeln, weil sie ein Bußgeld vermeiden wollen. Selten aber ist dies der bewusste Grund für Konformität.

Und so ist die mögliche Zwangseinweisung in die Psychiatrie auch selten der bewusste Grund für die Konformität der Bürger. Dies bedeutet aber nicht, dass sie in der Verhaltensregulation keine Rolle spielte. Da psychiatrische Diagnosen und Prognosen willkürlich sind, gilt es, eine Vielzahl von Verhaltensmustern zu vermeiden. Sicher ist sicher.

Und so wirkt sich psychiatrischer Zwang natürlich disziplinierend auf die gesamte Gesellschaft aus. Unlängst ging durch die Medien, dass die Zahl der “psychisch Kranken” unter den Hartz-4-Empfängern beständig steige. Dies bedeutet selbstverständlich auch, dass die Wahrscheinlichkeit von Zwangsunterbringungen in diesem Kreis von Mitbürgern zunimmt. Wer entsprechende Leistungen erhält, so lautet die implizite Botschaft, muss sich also besonders vorsehen.

Viele begeben sich freiwillig in die Psychiatrie, weil sie dazu genötigt wurden. Arbeitgeber, Angehörige und andere gutwillige Menschen im Umfeld der Betroffenen haben ihnen dies mit sorgenvoller Miene geraten. Menschen mit Lebensproblemen fassen einen solchen Rat allerdings nur zu oft als Drohung auf. Im Klartext heißt der Rat nämlich unter Umständen: “Wenn du nicht zum Psychiater gehst, dann hast du dir die Konsequenzen selbst zuzuschreiben!”

Wer die Psychiatrie des Zwangs entkleiden wollte, müsste im Grunde unsere gesamte Gesellschaft verändern. Denn ohne Zwang könnte die Psychiatrie ihrer Aufgabe zur Entsorgung der Abweichenden kaum gerecht werden; auch wenn Zwang in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle nicht physisch ausgeübt wird. Fast immer genügt es, den Menschen die Instrumente zu zeigen, um sie zur Räson zu bringen.

Doch ohne diese Instrumente wäre die Psychiatrie ein zahnloser Hund. Niemand identifiziert sich mit einem Aggressor, dem erkennbar die Hände gebunden sind, und so würde eine Psychiatrie ohne Zwang auch die meisten ihrer glücklichen und zufriedenen Patienten einbüßen. Wenn Freuds Hypothese zutrifft, dass Menschen in Stunden der Not dazu neigen, sich einer strengen, aber beschützenden Autorität zu unterwerfen, dann kann eine ihrer Zuchtmittel beraubte Psychiatrie nicht florieren und wohl auch nicht überleben.

Manche Freud-Kritiker meinen, dass diese vom Begründer der Psychoanalyse als allgemeiner Wesenszug des Menschen gedeutete Neigung nur Ausdruck klassengesellschaftlicher Verhältnisse sei. Dies mag sein oder auch nicht. In dieser Kritik offenbart sich jedenfalls eine Hoffnung, die ich teile. Aus dieser Einschätzung leitet sich für mich die Konsequenz ab, dass die Überwindung der Zwangspsychiatrie und die Überwindung der Klassengesellschaft Hand in Hand gehen müssen.

Entgegen anders lautenden Gerüchten, gibt es die Psychiatrie als medizinische Spezialdisziplin erst sei Mitte des 19. Jahrhunderts. Ihre gegenwärtige Form entwickelte sich gemeinsam mit der modernen Demokratie. Ich wage die Hypothese, dass Psychiatrie und bürgerliche Demokratie Zwillingsschwestern sind. Die Psychiatrie ermöglicht es der bürgerliche Demokratie, Menschen die bürgerlichen Freiheitsrechte abzuerkennen (oder damit zu drohen), ohne dass dafür ein rechtfertigender, auf Fakten beruhender Grund vorliegen muss.

Die bürgerliche Demokratie ist auf diese Möglichkeit angewiesen, denn Ausbeutung und Entfremdung bringen Menschen hervor, die sie anders, im Rahmen der gegebenen Klassenverhältnisse, nicht in den Griff zu bekommen vermag. In prosperierenden und insgesamt friedlichen Gesellschaften kann man zwar die Zügel der Psychiatrie lockern, aber bürgerliche Demokratien sind nicht auf Dauer prosperierend und friedlich.

Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass man auf die Forderung nach Abschaffung der Zwangspsychiatrie verzichten solle, weil dies ja doch nichts bringe. Wer die bürgerliche Demokratie beim Wort und deren Slogan “Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit” ernst nimmt, der wird dies wohl fordern müssen, unabhängig von den Erfolgsaussichten.

Es ist unbedingt zu fordern, dass die Menschenrechte eingehalten werden, auch wenn die bürgerliche Gesellschaft dies aufgrund eines inneren Widerspruchs nicht in jedem Fall kann. Wenn sie die Menschenrechte aber nicht in jedem Fall einhalten kann, dann kann sie diese überhaupt nicht einhalten. Sie sind nämlich nicht teilbar. Dies transparent zu machen, ist eine vornehme Aufgabe der Psychiatriekritik.

Manche Hirnforscher haben sich zu der Forderung verstiegen, die Gefängnisse abzuschaffen. Da niemand einen freien Willen besitze und da demgemäß alle schuldunfähig seien, müssten Verbrecher ausnahmslos  in der Psychiatrie einer Behandlung unterzogen werden. Wenn sie nicht dem Menschenbild des “freien und mündigen Bürgers” verpflichtet wäre, könnte die moderne Gesellschaft durchaus auf Polizei und Justiz verzichten, nicht aber auf eine Psychiatrie mit Zwangsmöglichkeit.

Manche Psychiatriekritiker lehnen zwar den Begriff der “psychischen Krankheit” und das “biomedizinische Krankheitsverständnis” ab, behaupten aber, die Phänomene, die von der Psychiatrie als Krankheitssymptome gedeutet würden, fänden ihre Ursache in psycho-sozialen Faktoren und Traumatisierungen. Ich warne vor einer solchen Sichtweise. Die Psychiatrie könnte nämlich das biomedizinische Modell aufgeben und sich diese Sichtweise zu eigen machen, ohne dass sie deswegen ihren Zwangscharakter verlieren müsste.

Es gibt, vor allem in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, eine wachsende Zahl von Psychiatern, die einen solchen “Paradigmenwechsel” fordern. Die Psychiatrie könnte ohne das biomedizinische Modell überleben, auch wenn sie sich dadurch eines bewährten Marketinginstruments berauben würde, dass allerdings überwiegend der Pharmaindustrie dient. In der Praxis ist es ja egal, ob jemand aufgrund von Hirnstörungen oder aufgrund von Traumatisierungen “erkrankt” ist.

Auch der Traumatisierte muss behandelt werden. Da die Traumatisierung seine “Krankheit” verursachte, da er also nicht verantwortlich ist, muss er u. U. sogar zwangsbehandelt werden. Man kann ihm auch Medikamente geben, ohne dass man sich auf das biomedizinische Modell berufen müsste. Entscheidend ist doch, so könnte es dann heißen, dass die Medikamente Linderung verschaffen.

Eine konsequente Psychiatriekritik darf sich auf einen derartigen “Paradigmenwechsel” – lies: Kuhhandel – nicht einlassen. Es gilt, die bürgerliche Gesellschaft unablässig an ihr Bekenntnis zum freien und mündigen Bürger zu erinnern. Kein Erwachsener darf als unmündig betrachtet werden, es sei denn, er sei nachweislich aufgrund eines Hirnschadens nicht in der Lage dazu, Verantwortung für sich zu übernehmen.

Psychiatrie ohne Zwang? Sie müsste auf echter Freiwilligkeit beruhen. Diese kann sich nur entfalten, wenn alle Patienten über den Stand der Erkenntnis zutreffend aufgeklärt werden. Wer wird sich behandeln lassen, wenn er weiß, dass psychiatrische Medikamente im Allgemeinen mehr schaden als nutzen, wenn er weiß, dass Psychotherapien nicht effektiver sind als Placebos, wenn er weiß, dass psychiatrische Diagnosen aus der Luft gegriffen sind, wenn er weiß, dass psychiatrische Prognosen nicht besser sind als die Glaskugelschau, wenn er weiß, dass die psychiatrische Forschung und Praxis hochgradig von der Pharmaindustrie korrumpiert wurden und wenn er zudem noch all dies wüsste, was wir heute nur ahnen können?

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Die Psychiatrisierung der Schmerzen

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Wer wegen Schmerzen zum Arzt geht, darf von Glück im Unglück reden, wenn der Arzt etwas Körperliches findet, was die Schmerzen erklärt. Falls der Doktor nämlich keine körperliche Ursache zu entdecken vermag, so läuft man Gefahr, dass er einem etwas “Psychisches” als Ursache des Leidens unterstellt. Ärzte tun dies gern, wenn sie mit ihrem kleinen Medizinerlatein am Ende sind. Dann hat man nicht nur Schmerzen, sondern auch noch den schwarzen Peter.

Der Schmerz wird als Symptom einer psychischen Störung gedeutet und diese entsteht, so heißt es dann, wenn der Betroffene aufgrund einer genetisch verankerten oder lebensgeschichtlich erworbenen Vulnerabilität dem allgemeinen Stress des Lebens oder auch aktuellen besonderen Belastungen nicht gewachsen ist. Irgendwie ist man also eine allzu zarte Seele, die zudem nicht in der Lage ist, den unvermeidlichen Stress angemessen zu managen. Der Arzt ist fein raus und man steht da mit seiner “gestörten Psyche”.

Es ist natürlich denkbar, dass der Schmerzpatient an einer seltenen und deswegen unzulänglich erforschten körperlichen Erkrankung leidet. Warum aber sollte sich der Arzt unnötig darüber den Kopf zerbrechen, wenn die Diagnose eines “psychogenen Schmerzes” in aller Regel seine Wirkung nicht verfehlt. Der Patient ist erst einmal eingeschüchtert und sucht die Schuld bei sich. Besonders Frauen müssen damit rechnen, dass jeder, der von dieser Diagnose erfährt, sie für hysterisch hält. Allein diese Aussicht kann einen schon “depressiv” machen.

Schmerzen sind bekanntlich subjektiv. Niemand kann uns ins Hirn schauen und feststellen, ob wir Schmerzen haben und wenn ja, wie stark sie sind. Ebenso wenig gibt es objektive Methoden, mit denen man feststellen könnte, ob unsere Psyche gestört ist. Hier eröffnet sich also ein weites Feld für Spekulationen und wer nicht gelernt hat, rational mit Hypothesen umzugehen, der findet sich als Schmerzpatient schnell unter den “psychisch Kranken” wieder, wenn er sich mit einer solchen Diagnose abspeisen lässt.

Denken wir an den Phantom-Schmerz. Da schmerzt ein Glied, obwohl es gar nicht mehr vorhanden ist. Also fehlt eine körperliche Ursache des Schmerzes. Fehlt sie wirklich? Wenn wir glauben, der Schmerz würde beispielsweise durch ein verletztes Knie verursacht, dann fehlte sie tatsächlich, wenn uns dieses Knie abhandeln gekommen wäre und wir dennoch Schmerzen verspürten. Allein: Eine Verletzung des Knies führt nur dazu, dass die darauf spezialisierten Nerven reagieren und die Erregung ins Hirn weiterleiten. Dort erst entsteht der Schmerz.

Wenn also unsere linke Hand schmerzt, obwohl wir sie bei einem Unfall verloren haben, dann dürfte wohl etwas anderes die, für die Schmerzerfahrung zuständigen, Module in unserem Gehirn in Aktion versetzt haben. Und da diese Module nur auf physische Prozesse reagieren, dürfe auch der Phantomschmerz eine körperliche Ursache haben, ebenso wie der angeblich “psychogene” Schmerz generell.

Es scheint einen Zusammenhang zwischen chronischen, “psychogenen” Schmerzen und Depression zu geben. Doch:

“Diagnosing depression in the chronic pain population can be a tricky task because the two syndromes share many common features. Fatigue, sleep disturbances, and deficits in memory and attention are characteristics of both disorders. The overlap in symptomatology may lead to falsely elevated rates of depression reported in pain clinics.” (1)

Da die ”Symptome” der psychogenen Schmerzen einerseits und der Depression andererseits in den medizinischen Diagnose-Schemata teilweise übereinstimmen, ist eine “Komorbidität” nicht überraschend. Sie ist ein Artefakt der Diagnostik. Überdies beweisen Korrelationen keine Kausalität. Ruft die “Depression” die Schmerzen hervor oder sind vielmehr die mit der “Depression” assoziierten Phänomene die Folge der chronischen Schmerzen ohne erkennbare körperliche Ursache?

Trotz dieser ungeklärten Situation werden gern Antidepressiva zur Behandlung chronischer Schmerzen angepriesen. Die meisten Patienten, so heißt es auf einer Website der Mayo Clinic, spürten eine moderate Wirkung, selbst wenn sie keine Anzeichen einer Depression zeigten. Wenn dies stimmen sollte (ich traue den einschlägigen Studien nicht (4)) – aber, gesetzt den Fall, es stimmte, so handeln sich die Schmerzpatienten für diese moderate Wirkung schlimme Nebenwirkungen ein: sexuelle Störungen beispielsweise, die laut einer Studie aus dem Jahr 2001 in 59 % aller Fälle während einer Behandlung mit Antidepressiva auftreten (2).

Ganz zu schweigen von der durch Antidepressiva erhöhten Suizidalität, die auf der Mayo-Website als gering angegeben wird. Dabei muss man aber bedenken, dass dieses Thema von Psychiatrie und Pharma-Industrie notorisch verleugnet oder verharmlost wird, wie Peter C. Gøtzsche nachgewiesen hat (3). Die von ihm  angegebenen Studien beziehen sich allerdings auf die Antidepressiva-Behandlung generell; wie diese Medikamente sich insbesondere auf die Selbsttötungsneigung von chronischen Schmerzpatienten auswirken, muss meines Wissens noch genauer untersucht werden.

In einen Artikel von Richard Lawhern, der auf DxSummit.org erschien, wird allerdings deutlich, dass die Diagnose “psychogner Schmerzen” höchst fragwürdig ist und zu Tausenden iatrogener Suizide führen kann. “Like much of psychosomatic medicine, the diagnosis lacks medical evidence of validity”, beklagt der Autor darüber hinaus.

Wir sehen also, dass die Psychiatrisierung aus Patienten mit Schmerzen ungeklärter Ursache sehr leicht “psychisch Kranke” macht, ohne dass dieser Umdeutung ein Nutzen gegenüberstünde, der die offensichtlichen Nachteile zweifelsfrei überwiegen würde.

Ein leidgeprüfter Angehöriger schreibt im Blog “Mad in America”:

“That was it: take these pills and talk to other patients who have your kind of pain.
I have since discovered that this sort of response is not uncommon for patients who have relatively rare or subtle medical disorders. There are over 3,000 such disorders, and others seem to be emerging all the time. Many medical doctors hate chronic medical problems which soak up their time and resources but which don’t get better. This may be particularly true of chronic pain conditions, and is even more broadly true of the medical issues of women.”

Was dieser Mann in Amerika beobachtete, dürfte ein weltweites Problem sein. Leute mit chronischen Schmerzen ungeklärter Herkunft gehen den Medizinern auf die Nerven, weil sie Ressourcen binden, ohne dass es ihnen besser geht, und darum ist man geneigt, sie zu psychiatrischen Fällen abzustempeln und mit Psycho-Pillen abzuspeisen.

Es wurden bisher mehr als 3000 seltene Krankheiten beschrieben, die schwer zu diagnostizieren sind, weil den meisten Ärzten naturgemäß die einschlägigen Erfahrungen fehlen, ganz zu schweigen von empirischen Untersuchungen oder gar spezifischen Medikamenten. Also Psyche, alles klar?

Wir sehen auch hier wieder die Lückenbüßerfunktion der Psychiatrie. Sie soll sich um Leute kümmern, deren Befindlichkeiten rätselhaft sind und die anderen Leuten damit auf die Nerven gehen. Es gibt zahllose Menschen mit chronischen Schmerzen, allein angeblich 100 Millionen in den USA. Das ist ein gewaltiger Markt für Psychiatrie und Pharma-Wirtschaft. Die Psychiatrisierung der Schmerzen hat also gleichermaßen eine politische und eine ökonomische Funktion. Ob sie allerdings den Patienten dient, bleibt dahingestellt.

Es ist inzwischen modern geworden, für alle erdenklichen angeblichen psychischen Störungen einschließlich des “psychogenen Schmerzes” Traumatisierungen in der Kindheit verantwortlich zu machen. Eine prospektive Studie aus dem Jahr 2001 lässt daran allerdings Zweifel aufkommen. Hier zeigte sich, dass physisch und sexuell missbrauchte Kinder kein größeres Risiko hatten als andere, im späteren Leben Schmerz-Syndrome zu entwickeln (5).

Wir sehen hier also, wie sich psychiatrische Moden aller erdenklichen, lukrativen Arbeitsfelder bemächtigen, auch wenn die empirische Forschung dazu keinen Anlass gibt. Wie so oft versucht die Psychiatrie zu helfen, ohne dass klar wäre, ob die Betroffenen psychiatrischer Hilfe tatsächlich bedürfen.

Anmerkungen

(1) Sharp, J. & Keefe, B. (2006).Psychiatry in Chronic Pain: A Review and Update. FOCUS 2006;4:573-580
(2) Mentejo, A. et al. (2001). Incidence of sexuel disfunction associated with antidepressant agents: a prospective multicenter study of 1022 outpatients. Spanish Working Group for the study of pschotropc related sexual disfunction. Journal od Clinical Psychiatry, 62 (Suppl. 3): 10-21
(3) Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe
(4) Diesen Studien traue ich nicht, weil bei ihnen die Gefahr bestand, dass sie entblindet wurden. Es wurden nämlich keine aktiven Placebos eingesetzt, die zwar nicht die angestrebten pharmakologischen Wirkungen besitzen, wohl aber die Nebenwirkungen der Antidepressiva simulieren.
(5) Raphael, KG; Widom, CS; Lange, G. (2001).Childhood victimization and pain in adulthood: a prospective investigation. Pain. 2001 May;92(1-2):283-93.

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Psychiatrische Gutachten

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In seinem Blog setzt sich der Anwalt Oliver García kritisch mit Gutachten im Fall Mollath auseinander. Vorab legt er die Messlatte fest, mit der aus seiner Sicht derartige Expertisen zu bewerten sind; er schreibt:

“Die Macht der Psychiater, zwischen ‘krank’ und ‘gesund’ zu unterscheiden, beruht nicht auf einer ihnen natürlich zukommenden Autorität. Sie haben die volle “Darlegungs- und Beweislast”, die sie durch ein gründlich ausgearbeitetes Gutachten, das schlüssig und überzeugend ist, erfüllen müssen. Gelingt es ihnen nicht, ihre Meinung kommunikativ ausreichend darzulegen, ist sie belanglos. Auch wenn manche Gerichte dies verkennen (etwa die Strafvollstreckungskammer des LG Bayreuth): Nicht, daß der Gutachter ‘bekannt und bewährt’ ist, erlaubt es dem Gericht, sich ihm anzuschließen, sondern allein seine Überzeugungskraft im konkreten Fall, die durch das Gutachten selbst dokumentiert ist. Die psychiatrischen Gutachten sind in Strafverfahren wie dem Mollaths also nur tauglich, wenn sie der “Gegenprobe” des Verständnisses durch ihre nicht psychiatrisch geschulten Adressaten, die Richter (Berufsrichter und Schöffen), standhalten.”

Es genügt also nicht nur, ein wissenschaftlich einwandfreies Gutachten auszufertigen. Damit es juristisch verwertbar ist, muss es auch für den “Laien” nachvollziehbar sein. Dies setzt voraus, dass es wissenschaftlich einwandfreie Gutachten geben könnte, denn sonst hieße die bestandene “Gegenprobe” ja nur, dass es dem Gutachter dank seiner “Überzeugungskraft” gelungen ist, seine Vorurteile denen seines Publikums anzugleichen.

Das wissenschaftliche Fundament psychiatrischer Gutachten, gleich welcher Art und Qualität, wird durch folgende grundsätzliche Sachverhalte in Frage gestellt:

  1. Die psychiatrische Diagnostik ist nicht valide. Eine valide Diagnostik beruht auf einer tragfähigen Lehre von den Krankheitsursachen. Es muss keineswegs gefordert werden, dass diese Fragen abschließend geklärt sind. Aber es muss ein solider Körper des Wissens existieren, auf dem weiter aufgebaut werden kann. Dies ist in der Psychiatrie allerdings nicht der Fall. So schreibt beispielsweise der namhafte dänische Mediziner Peter Gøtzsche, es sei bisher noch nicht dokumentiert worden, dass irgendeine der so genannten psychischen Krankheiten durch einen biochemischen Defekt verursacht wird; es gebe auch keinen biologischen Test, der uns verraten könnte, ob jemand eine solche Krankheit hat (1). Gøtzsche ist Leiter des “Nordic Cochrane Center” und Mitbegründer der Cochrane Collaboration, die weltweit zu den wichtigsten gemeinnützigen Organisationen zur medizinischen Qualitätssicherung zählt.
  2. Die psychiatrische Prognostik ist nicht valide. Die Psychiatrie ist nicht in der Lage, mit einer halbwegs vertretbaren Fehlerquote vorherzusagen, ob ein Mensch Selbstmord verüben wird (2). Sie kann auch nicht mit einer akzeptablen Irrtumswahrscheinlichkeit prognostizieren, ob jemand eine Gewalttat begehen wird (3). Es kann sich also kein Gutachter auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufen, wenn er einem Probanden eine “psychische Krankheit” und Gefährlichkeit für sich bzw. andere unterstellt.
  3. Auch das sogenannte “klinische Urteil” des erfahrenen Gutachters ist nicht valide. Es ist sogar schlechter als Prognosen, die ausschließlich auf statistischen Berechnungen beruhen (4). Der Star-Gutachter, um den sich die Gerichte und die Medien reißen, verdankt seinen Ruhm keineswegs einer besonderen Fähigkeit, das zukünftige Verhalten von Menschen einzuschätzen. Für den Star-Ruhm sind vielmehr andere Faktoren verantwortlich, von denen einige wohl dem Bereich des Selbstmarketings angehören.

So also sieht die wissenschaftliche Basis aus, auf die sich psychiatrische Gutachter beziehen können. In einer Auseinandersetzung mit dem Fall Mollath schreibt Sacha Pommrenke:

“Die menschliche Psyche ist eben kein Objekt, das sich in seine Bestandteile zerlegen lässt. Vielmehr müssen die menschlichen Psychen verstanden und gedeutet werden. Und da bestehen selbstverständlich unterschiedliche Zugangsweisen, unterschiedliche theoretische Ansätze, die die Interpretation, die Analyse bedingen.”

Pommrenke fordert dementsprechend eine theoretische Fundierung von Gutachten. Was aber sollte denn eine theoretische Fundierung nützen, wenn die entsprechenden Theorien empirisch nicht erhärtet wären? An welchem Maßstab sollten wir solche Theorien messen: An ihrem Wohlklang? An ihrer Plausibilität? Die “Psyche” ist selbstredend ein Konstrukt und sie wird selbstredend in einzelne Bereiche und Funktionszusammenhänge unterteilt. Beim Verstehen und Deuten menschlicher “Psychen” werden diese selbstredend wie ein Objekt behandelt und in ihre Bestandteile zerlegt. Etwas anderes ist auch gar nicht möglich, sobald man darauf verzichtet, über die Psyche weihevoll zu schwafeln.

Es mag schon sein, dass Gutachter, die den Einzelfall in seiner Eigenart würdigen und ihre Erkenntnisse in der Zusammenschau mit einer theoretischen Basis würdigen, den gebildeten Laien zu beeindrucken vermögen. Elegante Herleitungen von Taten aus “psychischen Krankheiten” mögen plausibel erscheinen. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass psychiatrische Diagnosen nicht valide und psychiatrische Prognosen unzulänglich sind.

Viele gebildete Laien sind auf dem Niveau eines flachen Verständnisses der Freudschen Psychoanalyse stehengeblieben, obgleich diese selbst in ihren fortschrittlichsten Formen in der Psychologie und Psychiatrie weltweit keine nennenswerte Rolle mehr spielt. Und das ist auch gut so, weil sie im Lichte entwickelter empirischer Forschungsmethoden keinen Bestand hat. Die Thesen dieser Theorie sind entweder nicht falsifizierbar oder sie ließen sich nicht eindeutig bestätigen. John F. Kihlstroms Verdikt “Is Freud Still Alive? No, Not Really“ kann man uneingeschränkt zustimmen. Dies bedeutet nicht, dass Freuds Werke keine anregende Lektüre sein könnten; dies können sie durchaus, solange man von ihnen keine Erkenntnisse zur Arbeitsweise des “psychischen Apparates” erwartet.

Andere gebildete Laien gehen mit der Zeit und favorisieren die modernen Neurowissenschaften. Deren Befunde kennen sie aber nur aus Zeitungen und Zeitschriften. Sie wissen nichts von den methodischen Schwierigkeiten und der Vorläufigkeit der Ergebnisse dieses jungen Wissenschaftszweiges. Ganz gleich also, ob der gebildete Laie psychoanalytisch, neurowissenschaftlich oder – doppelt hält besser – neuropsychoanalytisch orientiert ist, er wird Gutachten dann für nachvollziehbar halten, wenn sie in sein psychologisches Schema passen. Die Kunst des psychiatrischen Gutachters besteht darin, es entsprechend zu formulieren.

Im Allgemeinen wird auch ein Gutachten, das diesen Ansprüchen genügt, grottenfalsch sein oder nur durch Zufall mit den Tatsachen übereinstimmen. Der gebildete Laie wird dies aber nicht zu würdigen wissen, solange er sich nicht mit der empirischen Literatur zur psychiatrischen Prognostik und Diagnostik methodenkritisch auseinandersetzt. Falls er sich weigert, dies zu tun, weil die menschliche Psyche schließlich kein Objekt sei, wird dies nie der Fall sein.

Das Zusammenspiel zwischen Psychiatrie und Justiz ist eine Grauzone, die nur selten vom Licht empirischer Forschung erhellt wird. Beide Seiten eint weitgehend der Aberglaube, man könne die “Psyche” eines Menschen aufgrund des persönlichen Eindrucks und in Würdigung dessen, was man über seine Lebensgeschichte zu wissen wähnt, angemessen erfassen. Es ist nicht hinzunehmen, wenn Gerichtsurteile auf Spekulationen beruhen; sie sollten, so weit wie möglich, auf Fakten fußen oder auf Überlegungen, die sich aus Fakten nach menschlichem Ermessen zwingend ergeben.

Ob also, wie Oliver García fordert, die psychiatrischen Gutachten der Gegenprobe des Verständnisses durch ihre nicht psychiatrisch geschulten Adressaten, die Richter (Berufsrichter und Schöffen) standhalten, ist keineswegs ein Garant dafür, dass diese Gutachten etwas taugen. Richter und Schöffen nehmen diese Gutachten im Allgemeinen nicht unbeeinflusst von der psychologischen Folklore wahr, die durch die Medien verbreitet wird und die einer kritischen Überprüfung anhand aktueller empirischer Erkenntnisse natürlich nicht gewachsen ist.

Ein cleverer Gutachter passt sich diesem Mischmasch aus psychoanalytischen Versatzstücken, neurowissenschaftlichen “Highlights” aus den Postillen und den Resten des gesunden Menschenverstandes in den Köpfen seiner Rezipienten an und beweist dann nachvollziehbar und einleuchtend, was er beweisen möchte, und zur Not auch das krasse Gegenteil. Gert Postel hat eindrucksvoll gezeigt, wie leicht man Leute täuschen kann, wenn man dieses Spiel beherrscht.

Es ist sicher kein psychiatriekritischer Fundamentalismus zu fordern, dass Psychiater und einschlägig tätige Psychologen aus den Gerichtssälen verschwinden sollen, es sei denn, sie stünden selbst wegen einer Straftat oder als nicht gutachterlich tätige Zeugen vor Gericht. Es ist in Prozessen grundsätzlich  alles zu vermeiden, was ein Urteil durch falsche Sicherheitsgefühle verzerren kann.

Anmerkungen

(1) Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel: “The chemical imbalance hoax”
(2) Paris J. (2006). Predicting and preventing suicide: do we know enough to do either? Harv Rev Psychiatry. 2006 Sep-Oct;14(5):233-40
(3) Buchanan, A. (2008).  Risk of Violence by Psychiatric Patients: Beyond the “Actuarial Versus Clinical” Assessment Debate, Psychiatric Services 2008; doi: 10.1176/appi.ps.59.2.184)
(4) Gresch, H. U. (2013). Gutachten in der Psychiatrie. Pflasterritzenflora

 

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Krankheitseinsicht revisited

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Das National Institute of Mental Health (NIMH) ist die größte Forschungseinrichtung für “psychische Krankheiten”, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern weltweit. Es ist Teil der “National Institutes of Health” (NIH), einer US-amerikanischen Behörde, die dem Gesundheitsministerium untersteht.

Seit 2002 ist Thomas R. Insel der Direktor des NIMH. Er ist Neurowissenschaftler und Psychiater. Seine Krawatte sitzt stets tadellos. Er ist ein Karriere-Wissenschaftler, der mit Preisen überhäuft wurde.

1971 enthüllte der amerikanische Journalist (National Geographic Magazine) Robert C. O’Brien, dass eine Gruppe von Ratten mit menschenähnlicher Intelligenz aus den Forschungslaboren des NIMH entkommen konnte. Diese Tiere haben sich inzwischen weltweit verbreitet und sie gelangten als blinde Passagiere mit Schiffen und Flugzeugen auch nach Deutschland.

Als kluge Ratten integrieren sie sich sofort in ihre Gastländer und lernen die Sprache der Einheimischen, die sie dann auch zur Verständigung untereinander benutzen, um nicht aufzufallen. Obwohl sie schon lange aus der Gefangenschaft entkommen sind, geben sie ihre feindselige Einstellung gegenüber dem NIMH im Besonderen und der Psychiatrie im Allgemeinen von Generation zu Generation weiter.

Unlängst wurde ich, als ich eine Portion Sauerkraut aus dem Fass im Keller holte, unfreiwillig Ohrenzeuge eines Gesprächs unter NIMH-Ratten, das mit zarten Untertönen einer milden Ironie begann und sich im weiteren Verlauf über diverse Zwischenstufen immer gröberen Spotts zu schrillem Hohn steigerte.

Wieder in meiner Wohnung angelangt, führte mich mein erster Weg nicht in die Küche, wo ich eigentlich hingehört hätte, sondern in mein Arbeitszimmer an den Computer. Ich gab einige der Schlüsselwörter, die ich aufgeschnappt hatte, ins Suchfeld bei Google ein.

An erster Stelle ihrer Liste präsentierte mir die Suchmaschine ein Dokument mit dem Titel “Mental Illness Defined as Disruption in Neural Circuits“. Der Autor war jener Mensch, bei dem die dissidenten NIMH-Ratten stets am lautesten gekichert hatten, wenn sie seinen Namen erwähnten: Thomas R. Insel.

Kurz zusammengefasst schreibt Insel in diesem Artikel Folgendes:

  1. Es wurde zu einem NIMH-Mantra, psychische Störungen als Gehirnstörungen zu beschreiben.
  2. Psychische Störungen unterscheiden sich aber von den klassischen neurologischen Störungen. Neurologische Störungen beruhen auf fokalen Läsionen (Schädigungen, die von einem bestimmten Zielpunkt ausgehen).
  3. Psychische Krankheiten sind scheinbar Störungen von Schaltkreisen im Gehirn.
  4. Die Störungen der Schaltkreise entstehen im Lauf der Hirnentwicklung eines Menschen.
  5. Die moderne Hirnforschung macht es möglich, diese gestörten Schaltkreise zu identifizieren.
  6. Trotz ihrer atemberaubenden, explosionsartigen Entwicklung steht die neurowissenschaftliche Forschung allerdings noch ganz am Anfang.
  7. Wir wissen noch nicht einmal, was ein Schaltkreis ist. Wo beginnt er? Wo endet er? Wie hängt das Muster der Aktivität, das wir auf den Brainscans sehen, mit dem zusammen, was tatsächlich im Gehirn geschieht? In welche Richtung fließt die Information?
  8. Die Metapher “Schaltkreis” könnte sogar völlig unzulänglich sein, um zu beschreiben, wie mentale Vorgänge aus neuronalen Abläufen hervorgehen.
  9. “While the neuroscience discoveries are coming fast and furious, one thing we can say already is that earlier notions of mental disorders as chemical imbalances or as social constructs are beginning to look antiquated. Much of what we are learning about the neural basis of mental illness is not yet ready for the clinic, but there can be little doubt that clinical neuroscience will soon be helping people with mental disorders to recover.”

Die Sichtweisen, dass psychische Störungen chemische Ungleichgewichtszustände im Gehirn oder soziale Konstrukte seien, beginnen,  antiquiert zu erscheinen. Sonst ist nichts sicher, dies aber ist gewiss, sagt der Direktor des NIMH.

Erst jetzt, nachdem ich dies gelesen hatte, steckte mich die Heiterkeit der Ratten, die mich zuvor befremdet hatte, mit unwiderstehlicher Virulenz an. Ich brauchte mehrere Papiertaschentücher, um den Bildschirm wieder klar zu bekommen.

So ist das also: Die bisherigen biologischen Theorien psychischer Störungen sind tot, sagt der Chef des NIMH. Die “psychischen Störungen” sind auch keine sozialen Konstrukte. Nein. Die Schaltkreise sind schuld. Wir wissen zwar nicht, was die Schaltkreise sind. Aber schon bald wird die klinische Neurowissenschaft Menschen mit “psychischen Störungen” helfen zu genesen.

Schon bald? Kenner der Psychiatriegeschichte wissen, dass dieses “Schon bald!” seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wie Bierschaum auf einem Gebräu aus schierer Unwissenheit schwimmt.

Ach ja, ich vergaß: Was sagt der Direktor denn zur Genetik? Wir hören doch immer wieder von Psychiatern, dass die meisten “psychischen Störungen” auf einer genetischen Grundlage beruhten. Die NIMH-Einschätzung lautet:

With new insights come new challenges. It is becoming increasingly clear that the genetic underpinnings of mental disorders are highly complex, likely involving the interaction between many risk genes. An enormous variety of experiences and environmental factors may influence development, and the ability of these factors to confer risk may change across the lifespan. It is challenging to demonstrate how interactions between genes, environment, experiences, and development contribute to the formation and function of neural circuits. We still know little about how information is stored in neural circuits. In addition, the very definition of mental disorders as complex clusters of behaviors makes it difficult to deconstruct behavioral components and link them to underlying neural circuitry.

Das Zusammenwirken zwischen Genen und Umwelt und Erfahrungen ist hoch komplex und wir wissen so gut wie gar nichts darüber. Die Schaltkreise sind zwar für psychische Störungen verantwortlich, aber wie dort Informationen gespeichert werden, ist unbekannt. “Zudem macht es allein die Definition von psychischen Störungen als komplexen Mustern von Verhalten schwierig, Verhaltenskomponenten zu dekonstruieren und sie mit den zugrunde liegenden Schaltkreisen zu verbinden.”

Und so rate ich jedem Menschen, der Gefahr läuft, als psychisch gestört diagnostiziert zu werden, seinem Psychiater Folgendes mitzuteilen: “Die Vorstellung, dass psychische Störungen auf chemischen Ungleichgewichten im Gehirn beruhten, die eine genetische Grundlage hätten, ist antiquiert. Über Versuche, nun alternativ “gestörte Schaltkreise” ins Spiel zu bringen, machten sich bereits weltweit menschenähnlich intelligente Ratten lustig.” Dies wird den Psychiater fraglos beeindrucken. Wer meinem Rat folgen will, sollte zuvor aber eine Patientenverfügung ausfertigen. Es könnte sein, dass der Psychiater diese Art des Humors nicht versteht.

Psychiater fordern von ihren Patienten Krankheitseinsicht und beklagen sich darüber, wenn diese nicht vorliegt. Sie meinen dann meistens, dass mangelnde Krankheitseinsicht ein Symptom der Krankheit sei. Sie spekulieren sogar darüber, welche Hirndefekte dafür verantwortlich seien (demnächst kommen die entwicklungsbedingt gestörten Schaltkreise dran).

Einsicht bedeutet, Eigenschaften und Beziehungen in einem Ausschnitt der Wirklichkeit hinreichend genau erkannt, geistig erfasst und sachlich richtig begriffen zu haben (laut Wikipedia). Psychiater fordern also von ihren Patienten etwas, was sie sich selbst nicht zuschreiben können.

Der Chef der weltweit wichtigsten und einflussreichsten psychiatrischen Forschungseinrichtung jedenfalls bekennt freimütig, dass die Psychiatrie die entscheidende Frage dieser Zunft, wie nämlich Prozesse im Nervensystem mit den so genannten psychischen Störungen zusammenhängen, nicht zu beantworten vermag.

“Much of what we are learning about the neural basis of mental illness is not yet ready for the clinic”, beklagt Thomas Insel. Womöglich wäre er besser beraten, sich zunächst mit der “neural basis of free will” auseinanderzusetzen. Hierzu könnte man ihm das gleichnamige Buch des Neurowissenschaftlers Peter Ulric Tse empfehlen. Die neuronale Basis des freiwilligen Entschlusses zur Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken” scheint mir jedenfalls nicht weniger interessant zu sein als die neuronale Basis dieses Rollenspiels. Doch all dies ist Zukunftsmusik. Die Neurowissenschaften sind eine verhältnismäßig junge Wissenschaft, die allerdings bereits die Grundlage für weit schweifende Spekulationen auszuarbeiten vermochte. Bis sie Wissen zu begründen vermag, werden allerdings noch einige Jahre ins Land gehen.

Viele Psychiater machen mangelnde Krankheitseinsicht dafür verantwortlich, dass Patienten sich weigern, psychiatrische Medikamente einzunehmen. Auf die Idee, die Verweigerer könnten berechtigterweise erkannt haben, dass diese Medikamente mehr schaden als nutzen, kommen sie nicht. Dabei ist dies nachweisbar nachzulesen – beispielsweise in Robert Whitakers Buch “Anatomy of an Epidemic” und in Peter Gøtzsches Arbeit “Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare”.

Psychiater haben also definitiv keine Krankheitseinsicht. Daher können sie auch gar nicht beurteilen, ob eine solche bei ihren Patienten vorliegt. Manche Psychiater wissen, dass sie keine Krankheitseinsicht haben. Viele aber nicht. Manches von dem, was die vielen tun oder nicht tun, wird so verständlich.

Nun, das war’s für heute. Ich habe noch im Keller zu tun.

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Die psychiatrische Diagnostik

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Etiketten

Kritiker meinen, psychiatrische Diagnosen seien soziale Etiketten unter dem Tarnmäntelchen medizinischer Befunde. Besonders scharfe Kritiker behaupten sogar, sie seien Instrumente zur Ausgrenzung der Missliebigen. Die schärfsten Kritiker vergleichen sie mit dem Juden-Stern. 1969 gab der amerikanische Psychiatrieprofessor Thomas Szasz der Zeitschrift „The New Physician“ ein Interview. Ein kurzer Abschnitt daraus wurde seither unzählige Male zitiert; er wurde zu einem Motto der psychiatriekritischen Bewegung der Psychiatrieerfahrenen.

„‘Schizophrenie‘ ist ein strategisches Etikett, wie es ‚Jude‘ in Nazi-Deutschland war. Wenn man Menschen aus der sozialen Ordnung ausgrenzen will, muss man dies vor anderen, aber insbesondere vor einem selbst rechtfertigen. Also entwirft man eine rechtfertigende Redewendung. Dies ist der Punkt, um den es bei all den hässlichen psychiatrischen Vokabeln geht: Sie sind rechtfertigende Redewendungen, eine etikettierende Verpackung für ‚Müll‘; sie bedeuten ‚nimm ihn weg‘, ‚schaff ihn mir aus den Augen‘ etc. Dies bedeutete das Wort ‘Jude’ in Nazi-Deutschland, gemeint war keine Person mit einer bestimmten religiösen Überzeugung. Es bedeutete ‚Ungeziefer‘, ‚vergas es‘. Ich fürchte, dass ‚schizophren‘ und ‚sozial kranke Persönlichkeit‘ und viele andere psychiatrisch diagnostische Fachbegriffe genau den gleichen Sachverhalt bezeichnen; sie bedeuten ‚menschlicher Abfall‘, ‚nimm ihn weg‘, ‚schaff ihn mir aus den Augen‘” (9)

Dies ist Klartext. Szasz charakterisiert eine reale pragmatische Dimension der psychiatrischen Diagnosen, die nämlich auch Markierungen auf einer Skala des Ausmaßes von Ausgrenzung sind. Krass formuliert: Der angeblich gefährliche Irre landet hinter psychiatrischen Gittern, wohingegen die durch Missbrauch Traumatisierten „nur“ in einem psychotherapeutischen „Schonraum“ entsorgt werden. Es geht um Macht. Genauer: um Definitionsmacht, die Gewalt legitimiert und mit ethischer Blindheit verbunden ist.

Man mag den Nazi-Vergleich für unpassend, übertrieben, ja geschmacklos halten; unbestreitbar ist, dass psychiatrische Diagnosen auch die Funktion strategischer Etiketten haben. Sie können sich verhängnisvoll auswirken, denn sie können einen Menschen sozial stigmatisieren, seine Existenz gefährden und sein Selbstwertgefühl zerstören. Ist dies eine unvermeidliche Gefahr, weil psychiatrische Diagnosen für die Behandlung unbedingt erforderlich sind? Man mag darüber streiten, ob eine Diagnose für eine Erfolg versprechende Behandlung notwendig sei; sie könnte es allenfalls sein, wenn sie valide wäre. Caplan & Cosgrove schreiben (10):

“… any professional who applies a label that has not been validated and then bases treatment on that label is, in essence, submitting the patient to an experimental treatment without their knowledge and consent.”

Wenn eine Therapie auf einer nicht validierten Diagnose fußt, dann wird der Patient ohne sein Wissen und Einverständnis mit einem experimentellen Verfahren behandelt. Wie noch zu zeigen sein wird, ist keine der psychiatrischen Diagnosen valide, was den Patienten allerdings in aller Regel verschwiegen wird. Experimentell ist das Verfahren in diesen Fällen, weil die Wirkfaktoren von Therapien logischerweise ohne validierte Diagnostik nicht bereits erforscht worden sein können. Schließlich weiß man ja nicht, wodurch das Leiden der Patienten tatsächlich hervorgerufen wurde, auf was also die Therapie, sofern sie überhaupt effektiv ist, einwirkt.

Es kann sich also bei dieser Therapie nicht um ein erprobtes Verfahren handeln. Es ist experimentell sogar in der primitivsten Form; es handelt sich um de facto eine explorative Maßnahme zum Generieren und Sammeln von Hypothesen. Psychodiagnostik ist, wie der Name schon sagt, eine Diagnostik der Psyche (was auch immer das sein mag). Die Psyche ist offenbar störanfällig und für jede Störung gibt es eine Schublade mit einem Etikett. Um zu erfahren, was sich hinter diesen Etiketten verbirgt, muss man in die gängigen psychiatrischen Diagnose-Handbücher schauen. Diese sind Produkte psychiatrischer Wissenschaft und so sollte man auch wissenschaftliche Kriterien erwarten. Ein Leser mit dieser Erwartung sieht sich jedoch rasch enttäuscht. Die so genannten Syndrome beruhen weitgehend auf wertenden Beobachtungen des Verhaltens (zu dem auch die verbalen Äußerungen zählen). Aus diesen wertenden Beobachtungen wird auf eine zugrunde liegende psychische Störung bzw. psychische Krankheit geschlossen.

In die Störungstheorie fließen zahllose Zusatzannahmen ein, die weder durch die empirische Forschung, noch durch die wertenden Beobachtungen des Verhaltens der Diagnostizierten abgesichert sind. Es handelt sich um Unterstellungen. Diese sind – pragmatisch betrachtet – für das weitere Vorgehen unerheblich. Sie dienen vor allem der Rechtfertigung zukünftiger Maßnahmen. Zu diesen Unterstellungen zählen Spekulationen über die “biologische” Basis der “Krankheiten”. Das einzige, was praktisch zählt, sind die Verhaltensbeobachtungen. Verändert sich das Verhalten in die gewünschte Richtung? Fühlt sich der Betroffene z. B. noch von Außerirdischen bedroht und traut er sich deswegen nicht aus dem Haus? Leidet er immer noch so stark unter abgrundtiefer, verzweifelter Traurigkeit, deren Ursprung er nicht versteht – oder kann er nun hin und wieder auch einmal lachen?

Dies sind die Fragen, an denen sich der Therapeut orientieren muss, und, wichtiger noch, dies sind die Fragen, die den Klienten oder Patienten interessieren und betreffen. Ob ihn die Psychiater oder Psychotherapeuten als depressiv oder schizophren oder sonstwie diagnostizieren, könnte ihm im Prinzip gleichgültig sein, also am Arsch vorbeigehen, wenn diese Diagnosen nicht schwerwiegende Konsequenzen für ihn haben könnten, nämlich

  • soziale Stigmatisierung,
  • Existenzgefährdung und
  • Zerstörung des Selbstwertgefühls.

Psychiatrische Diagnosen sind somit nicht nur entbehrlich, sie sind sogar kontraproduktiv, weil kränkend und mitunter tödlich.

Validität

Kritische Stimmen

Der Direktor des “National Institute of Mental Health” (NIMH), Thomas Insel bezeichnete unlängst in seinem “Director’s Blog” das DSM als nicht valide. Dies schlug in den USA wie eine Bombe ein; das NIMH untersteht dem US-Gesundheitsministerium und ist, mit einem jährlichen Etat von rund 1,5 Milliarden Dollar, das größte psychiatrische Forschungszentrum der Welt. “Nicht valide” bedeutet: Das DSM diagnostiziert nicht, was es zu diagnostizieren vorgibt, nämlich “psychische Krankheiten”. Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), die so genannte Psychiater-Bibel, ist das offizielle Diagnose-Schema der American Psychiatric Association (APA).

In einem Interview vertraute Insel dem Autor und Psychotherapeuten Gary Greenberg an, dass psychiatrische Diagnosen nicht auf reale Phänomene verweisen. Es handele sich vielmehr um Konstrukte. Schizophrenie und Depression besäßen keine Realität. “… we might have to stop using terms like depression and schizophrenia, because they are getting in our way, confusing things (5).”

Der Pharma-Manager und Neurowissenschaftler H. Christian Fibiger betonte bereits im letzten Jahr in einer Fachzeitschrift (2), dass sich die Pharmaindustrie weitgehend aus der Psychopharmakaforschung zurückgezogen habe, weil die auf das DSM gestützte psychiatrische Forschung keine Anhaltspunkte zur Entwicklung zulassungsfähiger Medikamente mit eigenständigem Wirkmechanismus biete. Die “Division of Clinical Psychology” der “British Psychological Society”, die 50.000 Psychologen vertritt, plädiert nunmehr dafür, das DSM sowie den psychiatrischen Teil der ICD zu verwerfen (Position Statement on Classification of Behaviour in Relation to Functional Psychological Diagnoses).

Begründung: Das diesen Systemen zugrunde liegende medizinische Krankheitsmodell sei ungeeignet. Die Daten zeigten vielmehr, dass psycho-soziale Faktoren für seelische Probleme wesentlich bedeutsamer seien. Der heftige Streit um das DSM-5 – die neueste Variante dieses Handbuchs (14) – offenbart eine tiefe Krise der Psychiatrie, denn die Validität der Diagnosen ist keine rein akademische Frage. Wie kann man von einem Patienten “Krankheitseinsicht” erwarten, wenn man nicht in der Lage ist, diese Krankheiten valide zu diagnostizieren?

Mit welchen Recht werden eigentlich Menschen zwangsbehandelt, wenn das Gesetz dies nur bei “psychisch Kranken” mit Neigung zur Selbst- bzw. Fremdgefährdung zulässt, die Psychiatrie aber die Validität der entsprechenden Diagnosen nicht zu gewährleisten vermag? Das sind keine theoretischen, das sind eminent praktische und ethische Fragen.

Stand der Wissenschaft

Hier ist zu beachten, dass Insels oben erwähntes Statement keineswegs eine Meinung unter Meinungen darstellt, sondern dass sich sein Urteil auf den Stand der empirischen Forschung zu dieser Frage stützen kann. Trotz jahrzehntelanger Bemühungen scheiterte die psychiatrische Wissenschaft bisher bei ihrem Versuch, einen Zusammenhang zwischen psychiatrischen Diagnosen, Hirnprozessen und / oder Erbanlagen nachzuweisen. Wissenschaftler des psychiatrischen Instituts der Universität Basel und des Instituts für Psychose-Studien des King’s College in London stellen beispielsweise unmissverständlich fest:

“More than three decades after Johnstone’s first computerised axial tomography of the brain of individuals with schizophrenia, no consistent or reliable anatomical or functional alterations have been univocally associated with any mental disorder and no neurobiological alterations have been ultimately confirmed in psychiatric neuroimaging.” (1)

Nach mehr als drei Jahrzehnten der Forschung mit bildgebenden Verfahren konnten in den Gehirnen der so genannten psychisch Kranken keine konsistenten oder reliablen, funktionellen oder anatomischen Abweichungen vom Normalen entdeckt werden. Auch der namhafte dänische Mediziner Peter Gøtzsche schreibt, es sei bisher noch nicht dokumentiert worden, dass irgendeine der so genannten psychischen Krankheiten durch einen biochemischen Defekt verursacht werde; es gebe auch keinen biologischen Test, der uns verraten könnte, ob jemand eine solche Krankheit habe oder nicht (11). Gøtzsche ist Leiter des “Nordic Cochrane Center” und Mitbegründer der Cochrane Collaboration, die weltweit zu den wichtigsten gemeinnützigen Organisationen zur medizinischen Qualitätssicherung zählt. Genauso wie im Falle Insels, kann man das Urteil dieses Mannes nicht so leicht vom Tisch wischen.

Der Psychologe und Psychotherapeut Jay Joseph zeigt in einer Dokumentation des Forschungsstandes zur Erblichkeit der so genannten psychischen Krankheiten, dass bisher noch bei keiner dieser Störungen eine genetische Grundlage methodisch einwandfrei nachgewiesen werden konnte (3, 14).

Die psychiatrische Diagnostik beruht also definitiv nicht auf einer soliden naturwissenschaftlichen Grundlage und nicht auf nachprüfbaren Fakten, sondern einzig und allein auf dem subjektiven Urteil des jeweiligen Diagnostikers. Diese Diagnosen sind also nicht wissenschaftlich fundiert, sondern Meinungen und sonst nichts. Kein Patient und auch kein Angehöriger eines Patienten sollte ihnen ein größeres Gewicht beimessen. Dies gilt natürlich auch für Richter, die darüber zu entscheiden haben, ob ein Mensch wegen einer angeblichen psychischen Krankheit und Fremd- bzw. Selbstgefährdung seiner Freiheit beraubt und zwangsbehandelt werden soll.

1973 veröffentlichte der Psychologe David Rosenhan einen Aufsatz zu einem bemerkenswerten Experiment: Er schleuste Pseudopatienten in psychiatrische Kliniken ein. Die Ärzte durchschauten den Schwindel nicht. Später gab er bekannt, dass er Pseudopatienten in psychiatrische Anstalten einschleusen werde, schickte in Wirklichkeit aber keine. Dennoch glaubten viele Ärzte, Pseudopatienten entlarvt zu haben (4). Rosenhan wurde von der psychiatrischen Zunft heftig kritisiert, seiner Studie wurden methodische Mängel vorgeworfen. Beim gegenwärtigen Stand der Erkenntnis können die Ergebnisse des Rosenhan-Experiments allerdings kaum erstaunen: Psychiatrische Diagnosen sind willkürlich. Was sonst also hätte bei so einem Experiment herauskommen können?

Garbage in – garbage out

NIMH-Direktor Insel möchte das auf Konsens beruhende psychiatrische Klassifikationssystem DSM durch einen hirnphysiologisch und humangenetisch fundierten Katalog psychischer Störungen ersetzen. Dessen ungeachtet räumt er in seinem, bereits erwähnten, Blog-Eintrag auch ein, dass die entsprechenden Daten noch nicht vorliegen. Es gibt keine verlässlichen Biomarker für die so genannten psychischen Krankheiten. Keine dieser angeblichen Krankheiten korreliert signifikant und replizierbar mit Hirnprozessen. Assoziationen zwischen Genen und Störungen ließen sich bisher empirisch noch nicht erhärten.

Aus meiner Sicht ist es überaus fraglich, ob dem ehrgeizigen Projekt Insels Erfolg beschieden sein wird. Immerhin kann man mit den Mitteln der Hypnose auch bei Menschen mit intakten Gehirnen sämtliche “Symptome” psychischer Krankheiten hervorrufen: Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Zwangshandlungen, Hyperaktivität; nur die Fantasie setzt da die Grenzen. Man braucht also kein krankes Hirn, um verrückt zu sein. Mir will scheinen, dass “psychische Störungen” nach dem “Garbage-in-garbage-out-Prinzip” entstehen.

Wir kennen dieses Prinzip aus der Welt der Computer. Wenn man einen Rechner, der an sich völlig in Ordnung und mit hervorragenden Programmen ausgerüstet ist, mit Datenmüll füttert, dann wird der Output trotzdem irre sein. Dies dürfte bei Menschen nicht anders funktionieren. Wer in einer verwirrenden und überfordernden Lebenssituation steckt, handelt mitunter auf den ersten Blick in rational nicht nachvollziehbarer Weise. Schaut man aber genauer hin, so drängt sich häufig der Verdacht auf, dass dieses angeblich irrationale Verhalten – aus der subjektiven Sicht des Betroffenen – die beste der Alternativen ist, die sich dem angeblich “psychisch Kranken” unter den jeweils gegebenen Bedingungen bieten. Das Hirn arbeitet also einwandfrei; dass “Garbage” dabei herauskommt,  liegt an den Verhältnissen.

Zwar könnte sich der betroffene Mensch auch dagegen entscheiden, die verlockende Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Doch warum sollte er, wenn ihm dies die beste aller real vorhandenen Wahlmöglichkeiten zu sein scheint? Die meisten Menschen gehen den Weg des geringsten Widerstandes.

Das ist also ganz normal. Die Zahl der Experten, die dies erkennen und Konsequenzen ziehen wollen, steigt beständig. Das medizinische Modell der “psychischen Krankheiten” wird heute in einschlägigen Blogs und Foren des Internets weltweit heftig diskutiert und immer häufiger fällt das Urteil vernichtend aus.

Selbstverständlich leiden nicht alle Menschen, die als “psychisch krank” diagnostiziert werden, unter ernsthaften Lebensproblemen, mit denen sie nicht anders zurechtkommen, als sich die Rolle des “psychisch Kranken” anzuverwandeln. Viele sind einfach nur Opfer von Willkür, Denunziation und schierer Niedertracht. Sie wurden angeschwärzt von Leuten mit gutem Draht zu willigen Psychiatern und Richtern.

Aber es gibt natürlich auch Leute in schwierigen Lebenssituationen, die sie aus eigener Kraft nicht zu meistern vermögen, warum auch immer. Wenn sie Hilfe benötigen und wollen, dann sollte man sie ihnen auch gewähren. Dennoch gibt es keinen Grund, sie als Voraussetzung dafür mit einer psychiatrischen Diagnose fürs Leben zu zeichnen. Der eigentliche Skandal besteht darin, dass Menschen mit seelischen Problemen, die staatlich oder von den Kassen finanzierte Hilfe brauchen, sich als psychisch krank stigmatisieren lassen müssen.

Psychiatrische Diagnosen als Waffen

Rosenkrieg

Psychodiagnosen werden nicht selten als Munition im Rosenkrieg eingesetzt. Zwei Partner waren einige Zeit glücklich miteinander, sie freuten sich, den passenden Lebensgefährten gefunden zu haben – doch dann kriselt es, dann kracht es, dann kommt es zu Zerwürfnissen und schließlich sind die Risse nicht mehr zu kitten. Ihren Freundinnen und ihren Freunden, aber noch häufiger sich selbst hatten sie Geschichten erzählt, wie toll sie mit ihrem Partner harmonierten, welche schönen Erlebnisse sie zusammen hatten und wie gut sie es doch getroffen hätten. Nun stimmen diese Geschichten plötzlich nicht mehr. Sie widersprechen den tatsächlichen Ereignissen, dem eigenen Verhalten und dem des Partners.

In einem Internet-Forum beschreibt eine Diskussionsteilnehmerin einen Mann, der beständig auf der Jagd nach Frauen sei. Immer wieder aufs Neue versuche er, seine Auserwählten zu erobern und sie glauben zu machen, sie seien die Einzigen für ihn. Er habe aber stets mehrere Partnerschaften zur gleichen Zeit. Er suche gezielt nach den Schwachstellen dieser Frauen, nutze ihre Einsamkeit aus. Für ihn bestünde das größte Glück in der Gewissheit, dass ihn diese Frauen auch nach einer Trennung für immer in ihren Herzen tragen würden. Nach dieser Schilderung schreibt sie:

„Mein Therapeut hat gesagt, ich soll mal im Netz suchen, denn ein Krankheitsbild gibt es noch nicht dafür.“

Im Verlauf der Diskussion, die sich nun entspinnt, wird deutlich, dass die Ratsuchende ebenfalls ein „Opfer“ des Schürzenjägers war, den sie beschrieben hatte. Sie sagt, dass sie geheilt werden wolle; jeder weitere Kontakt mit diesem Mann sei ihr Untergang. „Vielleicht könnte ich leichter damit umgehen, wenn ich es als Krankheit abstempele“, räumt sie in Bezug auf das Verhalten des vergötterten und zugleich gehassten Mannes schließlich ein. Sie würde gerne wissen, was in einem solchen Menschen vor sich gehe, um es besser verarbeiten zu können. „Es gäbe nichts Schöneres“, seufzt sie, „als ihn an meiner Seite zu haben.“ Die psychiatrische Diagnose hat hier also zwei Funktionen für diese Frau:

  1. Sie soll als Muster dienen, um eine Lebens- und Liebesgeschichte, die nicht mehr stimmig ist, neu zu formulieren.
  2. Und sie soll als Grundlage für eine neue, erfolgreichere Strategie der Bewältigung von Partnerschaftsproblemen fungieren. Die Diskutanten bezweifeln allerdings, dass es eine gute Idee sei, sich mit diesem Problem mittels einer Psychodiagnose auseinanderzusetzen. Der Moderator der Gruppe schreibt:

    “Wenn man jemanden wegen einer Krankheit verlässt, dann kann man sich sagen, dass man für das Scheitern der Beziehung nicht verantwortlich war. Schließlich hat der Partner aufgrund krankhafter Motive die Beziehung zerstört und nicht etwa aus Gründen, die man eventuell selbst provoziert hat.”

    Die „Psychodiagnose“ erfüllt hier also offenbar noch eine dritte Funktion:

  3. Sie schützt das Selbstwertgefühl bei einem etwaigen Scheitern der Bewältigungsstrategie von Beziehungsproblemen.

Heimliche Ziele

Diese Ziele von psychiatrischen Diagnosen sind natürlich nur die „heimlichen“, die manche ihrer “Konsumenten” damit verbinden, denn die offiziellen Aufgaben psychiatrischer Diagnostik werden anders bestimmt. In den Lehrbüchern der Psychiatrie werden u. a. folgende Funktionen genannt:

  • Verringerung der Komplexität der klinischen Phänomene
  • Erleichterung der Kommunikation zwischen Ärzten und Behandlern und Patienten
  • Hilfe bei der Prognose von Störungen
  • Einleitung einer angemessenen Behandlung
  • Unterstützung bei der Suche nach Ursachen.

Meine These hierzu lautet, dass die heimlichen Funktionen der Psychodiagnostik eine ebenso große, wenn nicht eine noch größere Bedeutung für das Leben der Betroffenen haben als die offiziellen. Dabei beschränken sich die heimlichen keineswegs auf die drei genannten. Ein weitere Funktion kann beispielsweise darin bestehen, einen Menschen, der uns gekränkt hat, hinter einer Fassade von Mitleid und Verständnis abzuwerten. Schließlich ist ein „psychisch Kranker“ ja nicht nur ein „ gewöhnlicher Kranker“, der Mitleid verdient, sondern auch ein Normverletzer, der moralischen Kriterien nicht genügt und dessen Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist – also ein Gestörter, Verrückter, Durchgeknallter, ein armes Würstchen.

„Heimliche Ziele“ verfolgen, oft unbewusst oder unreflektiert, nicht nur „Laien-Diagnostiker”, sondern auch Profis. Diagnosen eignen sich schließlich hervorragend, um beispielsweise das Scheitern einer „Therapie“ mit der „schlechten Prognose“ eines Patienten zu erklären, um so das eigene professionelle Selbstwertgefühl zu schützen. Man kann auch Patienten, denen recht eigentlich nichts fehlt, sondern die nur mit ihrem Dasein unzufrieden sind, mit einer Diagnose etikettieren, damit deren “Behandlung” von der Kasse bezahlt wird. Neben den individuellen “heimlichen Zielen” der psychiatrischen Diagnostik finden sich natürlich auch politische. Im Zusammenspiel mit einer angeblichen Fremd- oder Selbstgefährdung können Psychodiagnosen beispielsweise als Rechtfertigung dafür dienen, Menschen einer Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung zu unterwerfen.

Derartige Maßnahmen, die durch die Gesetze für psychisch Kranke gedeckt sind, wären ohne psychiatrische Diagnosen nicht rechtmäßig, sondern müssten als Freiheitsberaubung, Folter und Gehirnwäsche bezeichnet werden. Indem man Menschen, die von gesellschaftlichen Normen und den Erwartungen ihrer Mitmenschen abweichen, als psychisch krank diagnostiziert, kann man sie ganz legal ihrer elementarsten Menschenrechte berauben. Psychodiagnosen können also als Waffen benutzt werden – und das besonders Heimtückische daran ist, dass ihr Einsatz nur zu leicht als Hilfe getarnt werden kann.

Zwangsbehandlung

Die habituelle Abweichung von gesellschaftlichen Normen oder den Erwartungen der Mitmenschen ist jedoch keine Krankheit, sondern ein u. U. riskanter Lebensstil. Diese Sichtweise drängt sich zumindest auf, da es trotz unermüdlicher Bemühungen der Psychiatrie bisher noch nicht gelungen ist, das Krankhafte der angeblichen “psychischen Krankheiten” mit objektiven Methoden nachzuweisen. Es ist eine Schande, wenn in einer freien, demokratischen Gesellschaft Lebensstile pathologisiert und Menschen womöglich deswegen zwangsweise einer Behandlung unterworfen werden, die u. a. darin besteht, sie mit Ledergurten an Betten zu fesseln, sie mit Psychopharmaka vollzupumpen, sie gar mit Elektroschocks zu traktieren.

Natürlich sind die so genannten psychisch Kranken mitunter gefährlich für sich selbst und andere. Dadurch unterscheiden sie sich aber nicht von den so genannten Normalen. Wenn ein angeblich psychisch Kranker droht, seinen Nachbarn umzubringen, dann läuft er Gefahr, gegen seinen Willen in ein psychiatrisches Krankenhaus gesperrt zu werden. Wenn aber beispielsweise ein so genannter Normaler besoffen Auto fährt und dadurch sich und andere erheblich gefährdet, dann verliert er allenfalls den Führerschein. Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Wo die Logik?

Nun wird immer wieder einmal von Leuten, die von der Sache nichts verstehen, vorgetragen, dass manche Patienten ja nicht krankheitseinsichtig seien und dass man mit solchen Menschen auch keine therapeutischen Ziele vereinbaren könne. Man müsse daher eine Diagnose stellen und aus dieser ableiten, wie mit diesen “psychisch Kranken” zu verfahren sei. Dazu ist allerdings erstens anzumerken, dass die so genannten psychischen Krankheiten beim gegenwärtigen Stand der Forschung den Status von hypothetischen Konstrukten besitzen. Und eigentlich kann man doch von niemandem erwarten, dass er die Hypothesen anderer Leute für richtig hält. Ist die Veränderungsbereitschaft des Patienten jedoch nicht vorhanden, dann ist jede Therapie ohnehin verlorene Liebesmühe.

Die Seele kann man nämlich nicht reparieren wie der Mechaniker ein Auto. Eine Seele mag sich zwar in heilloser Verwirrung befinden, aber dies ist keine Krankheit, und der Weg zum Seelenheil ist auch keine medizinische Maßnahme. Die Heilung der Seele ist immer Selbstheilung und jede sinnvolle “Therapie” ist immer Förderung und Begleitung des Selbstheilungsprozesses, Hilfe zur Selbsthilfe. Die Alternative dazu besteht in einem Verzicht auf Behandlung oder in einer Zwangsbehandlung. Aus rechtlichen Gründen braucht man zur Zwangsbehandlung eine besondere Form der Diagnose, nämlich eine solche, die eine behandlungsbedürftige schwere psychische Krankheit und überdies noch eine Gefährlichkeit des Betroffenen für sich und / oder andere feststellt.

Etwa 10 Prozent der Psychiatriepatienten werden während einer Behandlungseinheit mindestens einer Zwangsmaßnahme unterworfen. Die Rechtfertigung dieses Zwangs beruht auf allerlei Mythen und vor allem auf  jenem Mythos, der Psychodiagnostiker sei in der Lage, die Gefährlichkeit eines Menschen für sich und andere zu prognostizieren. Ausnahmsweise werden in diesem Bereich die Skandalmeldungen der Medien über als geheilt entlassene und erneut gewalttätige “psychisch kranke” Straftäter durch zahllose empirische Studien bestätigt: Zu solchen Vorhersagen sind Psychodiagnostiker definitiv nicht in der Lage (12-13).

Es handelt sich bei diesen Zwangsbehandlungen im Übrigen nicht um Therapie im medizinischen Sinne, weder um Psychotherapie, noch um Psychopharmaka-Therapie, sondern schlicht und ergreifend um Gehirnwäsche, und zwar um Gehirnwäsche in ihrer schwersten Form. Und dies ist hier kein Schimpfwort, sondern die nüchterne Beschreibung eines Sachverhalts. Denn die harten Methoden der Gehirnwäsche beinhalten stets die folgenden vier Komponenten (6-8):

  • Die Erzeugung von extremem, traumatisierendem Stress
  • die Beeinflussung des Nervensystems durch physische Mittel (chemische Substanzen, Elektroschocks, sensorische Deprivation, soziale Isolierung, Drehstühle, Fixierungen u. v. m.)
  • die Beeinflussung des Denkens und der Gefühle durch Suggestionen, die eine Veränderung des Verhaltens und Erlebens bewirken sollen
  • die Anwendung von Zwang (physische Gewalt, Drohungen u. ä.)

Die übliche psychiatrische Zwangsbehandlung beinhaltet genau diese vier Komponenten. Der amerikanische Psychiater Donald Ewen Cameron bezeichnete die von ihm entwickelte Therapiemethode – die Elektroschockbehandlung, Psychopharmaka und systematischen Reizentzug sowie Suggestionen – miteinander kombinierte, als wohltätige Gehirnwäsche”.

Dieser Mann war u. a. Präsident des Weltverbandes der Psychiatrie (WPA). Er galt als einer der führenden Psychiater seiner Zeit. Nach seinem Tod stellte sich heraus, dass seine Forschungen teilweise vom amerikanischen Geheimdienst CIA finanziert wurden. Sie waren eine wichtige Grundlage der Gehirnwäscheprojekte dieser US-amerikanischen Behörde. Wenn ich mich nicht irre, sind Zwangsbehandlungen so genannter psychisch Kranker in allen Staaten dieser Erde legal. Dies erzürnt mich. Dass dies auch in Deutschland, in meinem Heimatland, in diesem Land mit schrecklicher jüngerer Vergangenheit, auch erlaubt ist – das erfüllt mich – als Patriot – mit unbeschreiblicher Scham.

Schlachtfeld Seele

Wenn so genannte Laien aus niedrigen Beweggründen ihre Opfer mit Psychodiagnosen verleumden, dann können sie u. U. schweren Schaden anrichten; aber die Diskriminierung eines Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose durch einen so genannten Experten kann tödlich sein: Sie kann den Betroffenen sozial und wirtschaftlich vernichten und ihn schlussendlich in den Selbstmord treiben. Die so genannten Psycho-Wissenschaften haben das Schlachtfeld, auf dem sie mit dieser Waffe wüten können, sehr gut vorbereitet. Sie haben dem Volk eine pseudo-wissenschaftliche Ideologie eingehämmert. Diese besagt, dass es psychische Krankheiten gäbe und dass diese, wenngleich meist unheilbar, so doch lindernd behandelbar seien und behandelt werden müssten, falls erforderlich, mit Gewalt. Damit ist die psychiatrische Diagnose durch einen Psycho-Experten eine implizite, doppelte Zuständigkeitszuschreibung. Sie lautet:

“Du bist krank; ich bin für deine Behandlung und die Krankenkasse ist für die Bezahlung zuständig.”

So ist die psychiatrische Diagnose also auch eine Waffe in einem Wirtschaftskrieg, der um das Geld der Versicherten und der Steuerzahler geführt wird. Auf der Strecke bleibt der “Patient”, der durch eine psychiatrische Diagnose stigmatisiert wird. Es trifft zwar zu, dass eine nicht geringe Zahl von Menschen eine psychiatrische Diagnose anstrebt, um sich beispielsweise verrenten zu lassen oder weil sie aufrichtig davon überzeugt ist, “psychisch krank” zu sein.

Es kann durchaus zutreffen, dass die Diagnose einer “psychischen Krankheit” – eventuell sogar objektiv – die beste aller Möglichkeiten ist, die einem Betroffenen zur Verfügung stehen. Dennoch ist dies ein Nullsummenspiel, bei dem der “Patient” verliert, was andere gewinnen. Es wird Zeit, die Gesellschaft so zu verändern, dass sich niemand mehr auf ein solches Nullsummenspiel einlassen muss, wenn er über die Runden kommen will. Gäbe es beispielsweise ein bedingungsloses Grundeinkommen, dann könnten mittellose Leute mit außergewöhnlichen, als “psychisch krank” gedeuteten Lebensstilen finanziell überleben, ohne sich psychiatrisieren lassen zu müssen.

Alternative psychiatrische Diagnostik

Die psychiatrische Diagnostik ruht, wie gezeigt, nicht auf einem wissenschaftlichen Fundament, sie ist politisch motivierte Willkür. Daher sei es mir erlaubt, eine ebenso spekulative alternative psychiatrische Diagnostik vorzuschlagen: Die Bevölkerungsgruppe der “psychisch Kranken” zerfällt in folgende Untergruppen:

  1. Die Abgestempelten: Diese Patienten empfinden sich nicht als psychisch krank. Sie sind also krankheitsuneinsichtig. Sie werden vielmehr von anderen (Psychiatern, psychologischen Psychotherapeuten, Angehörigen, Arbeitgebern, Vermietern etc.) als psychisch krank eingestuft.
  2. Die Bekenner: Diese Patienten haben (warum auch immer) einen psychisch kranken Lebensstil gewählt und bestehen darauf, psychisch krank zu sein. Sie lassen sich diese Selbstdiagnose von Experten bestätigen.
  3. Die Hereingerutschten: Diese Patienten werden nicht aus eigenem Antrieb als psychisch krank diagnostiziert, sondern von Ärzten, die sie wegen eines Krankheitsgefühls aufsuchen und deren Diagnose sie gutgläubig hinnehmen.
  4. Die Fehldiagnostizierten. Diese Patienten leiden unter körperlichen Erkrankungen mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben, die aber nicht erkannt und als “psychische Krankheiten” fehlgedeutet werden.
  5. Die Simulanten. Diese Patienten unterscheiden sich von den Bekennern dadurch, dass sie eine psychische Erkrankung bewusst vortäuschen, wohingegen sich die Bekenner in aller Regel selbst belügen.

Bei diesen Teilgruppen handelt es sich nicht um selbständige Einheiten, sondern um Elemente der Obergruppe “psychisch Kranker”, weil sie eine Reihe gemeinsamer Merkmale aufweisen. Alle Patienten dieser fünf Gruppen

  1. benehmen sich schlecht (verstoßen gegen gesellschaftliche Normen und Moralvorstellungen und / oder die Erwartungen einflussreicher Mitmenschen
  2. verhalten sich rätselhaft, die Gründe ihres Verhaltens sind also ihren Mitmenschen (teilweise) unverständlich.

Die Verteilung der psychisch Kranken auf diese fünf Untergruppen erfolgt nicht zufällig.

  • Die Abgestempelten stammen in der Regel aus der Unterschicht und haben niemanden, der sie liebt. Sie haben Feinde, die, mit möglichst geringem Aufwand, die Abgestempelten aus dem Weg haben wollen. Die Menschen dieser Teilgruppe stehen zu sich selbst und es fällt ihnen schwer, sich zu verstellen.
  • Die Bekenner leiden meist an starken Minderwertigkeitsgefühlen und wenn ihnen etwas im Leben misslingt, neigen sie zum Schutz ihrer ohnehin ramponierten Selbstachtung dazu, die Verantwortung dafür von sich abzuweisen. Mit der angeblichen psychischen Krankheit sollen die (vermeintlichen) Fehler gerechtfertigt werden. Überdies ist damit die Aufforderung an die Mitmenschen verbunden, ihre Anforderungen an den Patienten zu reduzieren.
  • Die Hereingerutschten sind zumeist autoritätsgläubige Menschen mit einer passiven Lebenseinstellung. Sie bemühen sich, die Rollen auszufüllen, die man ihnen zuweist. Dies gilt natürlich auch für die Rolle des “psychisch Kranken”.
  • Die Fehldiagnostizierten sind fast immer Hereingerutschte, die das Pech hatten, tatsächlich krank und an einen Arzt geraten zu sein, der dazu neigt, Phänomene, die er nicht begreift, als “psychisch” einzuordnen.
  • Die Simulanten sind Tiefstapler, denen das Hochstapeln zu riskant ist. Sie wissen, dass man ins Gefängnis kommen kann, wenn man beispielsweise vortäuscht, ein Psychiater zu sein, wohingegen die Simulation einer “psychischen Krankheit” sich nicht zwingend nachweisen lässt und daher mit weitaus geringerer Gefahr verbunden ist, dafür belangt zu werden.

Die alternativ-psychiatrische führt selbstverständlich zu anderen Behandlungsempfehlungen als die konventionelle psychiatrische Diagnostik:

  • Durch Abschaffung der Sondergesetze für angeblich selbst- bzw. fremdgefährdende psychisch Kranke kann eine wesentliche Linderung des Leidens der abgestempelten Patienten erreicht werden. Flankierende Maßnahmen wären sozialarbeiterische und sozialpädagogische Hilfen sowie eine der Menschenwürde entsprechende Anhebung der Hartz-4-Sätze.
  • Der Bekenner bedarf keiner Therapie. Derartige Angebote rufen seine psychische Krankheit ja erst hervor. Philosophische Reflexionen über den wahren Wert des Menschen helfen mitunter, auch kalte Umschläge.
  • Den Hereingerutschten muss man den Rücken stärken.
  • Den Fehldiagnostizierten ist zu raten, eine zweite, dritte, vierte Meinung einzuholen. Dabei ist darauf zu achten, dass nicht die “Psyche”, sondern der Körper untersucht wird.
  • Den Simulanten ist nicht zu helfen. Selbst wenn man ihnen gehörig in den Arsch treten würde, dann wären sie hinterher schwer körperlich und seelisch traumatisiert und müssten frühverrentet werden. Damit wäre niemandem gedient, außer den Simulanten, vielleicht.

Es gilt aber zu bedenken, dass alle individuellen Behandlungsansätze nur mit überaus mäßigen Erfolgsaussichten verbunden sind. Hier wird ja offensichtlich stets in einer Atmosphäre aus Lug und Trug mit falschen Karten gespielt – und daran wird sich nichts Einschneidendes ändern, solange die gesellschaftlichen Wurzeln menschlichen Verhaltens und Erlebens, die sozialen und ökonomischen Schieflagen nicht offen angesprochen und korrigiert werden. Die Heilung der “psychisch Kranken” ist meist keine Aufgabe der Medizin, sondern der Politik auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Allein die Behandlung der Fehldiagnostizierten bleibt den Ärzten vorbehalten. Und da es sich, außer bei den Fehldiagnostizierten, um eine politische Aufgabe handelt, kann in einer demokratischen Gesellschaft niemand die Verantwortung delegieren.

Wir alle sind als Staatsbürger dazu aufgerufen, zur Lösung dieses Problems beizutragen – in der Familie, in der Schule, an den Universitäten, in den Unternehmen, in den Parlamenten, an der Wahlurne. Es gibt keine psychischen Krankheiten, wohl aber existieren die Probleme, auf die sich diese Diagnosen beziehen. Nur werden bisher diese Probleme von den Falschen behandelt – mit unangemessenen Methoden. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ist mit diesem Zustand jedoch zufrieden, auch wenn die Ergebnisse höchst unbefriedigend sind. Es passt den Leuten mehrheitlich ganz gut in den Kram, dass man die Verantwortung für Problemfälle  auf Psychiater und Psychologen abwälzen kann.

Unter diesen Bedingungen muss Psychiatriekritik als öffentliche Ruhestörung aufgefasst werden. Die öffentliche Ruhe zu bewahren, liegt, so meint man, im berechtigten Interesse des Bürgers. Hier sind also Psychiatrie und Psychologie gefragt, um die Ruhestörer zur Räson zu bringen. Da sie die Ruhe durch Argumente stören, gilt es, diese zu entkräften. Die effektivste Methode zu diesem Zweck besteht darin, die mutwilligen Ruhestörer persönlich anzugreifen und herabzusetzen. Hierzu empfiehlt es sich,

  • sie als Scientologen zu diffamieren
  • ihnen ein antipsychiatrisches Wahnsystem zu unterstellen
  • sie sonstwie als “psychisch krank” abzustempeln.

Die Faustformel der psychiatrie-affinen Kritiker der Psychiatriekritik lautet: entweder Scientologe oder verrückt (wenn nicht beides).

Anmerkungen

(1) Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46

(2) Fibiger, H. C. (2012). Psychiatry, The Pharmaceutical Industry, and The Road to Better Therapeutics. Schizophrenia Bulletin, vol. 38 no. 4 pp. 649–650

(3) Joseph, J. (2012). The “Missing Heritability” of Psychiatric Disorders: Elusive Genes or Non-Existent Genes? Applied Developmental Science, 16, 65-83.

(4) Rosenhan, D. (1973): On Being Sane in Insane Places. In: Science, 179, 250-8

(5) Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York N.Y.: blue rider press, Penguin Group, Seite 340

(6) Collins, A. (1988). In the Sleep Room. The Story of the CIA Brainwashing Experiments in Canada. Toronto, Lester & Orpen Dennys Ltd.

(7) Marks, J. (1979, 1991). The Search for the Manchurian Candidate. The CIA and Mind Control. New York, Times Book

(8)Thomas, G. (1989). The Journey into Madness. The True Story of CIA Mind Control and Medical Abuse. New York, Bantam Books

(9) Szasz, T. (1969). Interview with Thomas Szasz. The New Physician, June, 453 – 476

(10) Caplan, P. J. & Cosgrove, L. (2004). Is This Really Necessary. In: Caplan, P. J. & Cosgrove, L. (eds.). Bias in Psychiatric Diagnosis. Lanham: Jason Aronson

(11) Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel: “The chemical imbalance hoax”

(12) Buchanan, A. (2008).  Risk of Violence by Psychiatric Patients: Beyond the “Actuarial Versus Clinical” Assessment Debate, Psychiatric Services 2008; doi: 10.1176/appi.ps.59.2.184)

(13) Paris J. (2006). Predicting and preventing suicide: do we know enough to do either? Harv Rev Psychiatry. 2006 Sep-Oct;14(5):233-40 (14) vgl. z. B. Tschischka, A.: Heiß diskutiert: DSM-V. In: report psychologie 38, Nr. 5, 2013, S. 214

(14) Joseph, J. (2013). “Schizophrenia” and heredity. Why the emperor still has no genes. In: Read, J. & Dillon, J. (Eds.). Models of Madness: Psychological, Social, and Biological Approaches to Madness. London: Routledge

 

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Noch einmal Diagnostik: Der Blei-Standard

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Alle Versuche, die psychiatrischen Diagnosen durch Identifikation ursächlicher Hirn- oder sonstiger körperlicher Prozesse zu validieren, sind bisher gescheitert. Nun könnte man natürlich einwenden, dass ein rein biologischer Krankheitsbegriff für psychische Störungen unangemessen sei; würde man einen umfassenden, bio-psycho-sozialen verwenden, dann könnte man die psychiatrischen Diagnosen auch validieren. Bisher ist auch dies allerdings noch nicht überzeugend gelungen.

Es ist fraglos nicht einfach, nicht-physiologische Validitätskriterien für „psychische Krankheiten“ zu bestimmen. Kriterien dieser Art müssten ja das Krankhafte der Krankheit repräsentieren und sie müssten sich deutlich von den Merkmalen unterscheiden, die mit dem diagnostischen Verfahren registriert werden.

Mit diesem Problem müssen sich nicht nur die Konstrukteure psychiatrischer Diagnose-Manuale herumschlagen; es zeigt sich überall da, wo das Verhalten und Erleben des Menschen systematisch erfasst werden soll.

Nehmen wir als Beispiel einen Intelligenztest. Die Frage lautet: Wie genau stimmen die Intelligenztestwerte mit der tatsächlichen Intelligenz der Getesteten überein? Welche Kriterien kommen in Frage? Die Schulnoten? Der Erfolg im Beruf? Das Bankkonto? Welchen quantifizierbaren Aspekt des Lebens wir auch immer wählen, wir werden feststellen, dass diese Größen neben der Intelligenz auch noch von vielen anderen Faktoren beeinflusst werden. Die Schulnoten beispielsweise hängen zudem vom Fleiß, vom sozio-ökonomischen Status der Eltern, von der Sympathie des Lehrers etc. ab. Daher sind die Korrelationen zwischen dem Intelligenzquotienten und den genannten Variablen nur schwach bis mittelmäßig ausgeprägt. Daher sagen die Intelligenztestwerte im Grunde nur aus, wie gut oder schlecht jemand die jeweiligen Intelligenztestaufgaben zu lösen vermochte. Inwieweit, inwiefern und ob überhaupt sie die “tatsächliche” Intelligenz eines Menschen widerspiegeln, ist fraglich.

Das Kriterium, das die Realität, auf die sich Konstrukte wie „Intelligenz“, „Schizophrenie“, „Diabetes“ oder „AIDS“ beziehen, am besten repräsentiert, wird als „Goldstandard“ bezeichnet. Die Medizin kennt viele gute Goldstandards. So gilt beispielsweise als Goldstandard in der Diagnostik eines manifesten Diabetes der orale Glucose-Toleranztest.

Was, wenn nicht physiologische Messgrößen, könnte der Gold-Standard in der psychiatrischen Diagnostik sein? Kann es überhaupt einen Goldstandard geben, der sich nicht auf objektiv messbare Parameter des Nervensystems bezieht? Viele der führenden Psychiater, die sich mit Klassifikationssystemen beschäftigen, sind sich der Peinlichkeit durchaus bewusst, die darin besteht, mangels Daten auf einen „nicht-medizinischen“ Goldstandard angewiesen zu sein. Und manch einer mag da mit einer uralten Lösung liebäugeln: „Aus den Augen, aus dem Sinn.“

Doch nur wenige sprechen dies so unverblümt aus wie Harold A. Pincus. Er schreibt, dass sein Ansatz die Idee der Validität an sich aufgebe. Entscheidend sei es, eine effektive Kommunikation unter Klinikern zu gewährleisten. Zu diesem Zwecke müsse ein Klassifikationssystem reliabel, nützlich, leicht zu verstehen und einzusetzen sein. Man könne nicht erwarten, dass diagnostische Systeme gleichzeitig diese praktischen Erfordernisse erfüllten und an der Front wissenschaftlicher Forschung stünden (1).

Pincus hatte führende Funktionen in der APA bei der vierten Revision des DSM inne. Robert Spitzer, der für die dritte Revision federführend verantwortlich war, plädierte als Gold-Standard für ein Verfahren, das er als „best estimate diagnosis“ bezeichnete. Er schlug eine Operationalisierung dieses Verfahrens vor, der er den Namen LEAD gab. Doch damit ist nicht „Blei“ gemeint, wie man angesichts einer englischen Bedeutung dieses Wort anzunehmen geneigt sein könnte, sondern es handelt sich hier um eine Abkürzung, die für folgende Sachverhalte steht:

  • L: Longitudinal Assessment (langfristige Einschätzung)
  • E: Beurteilung durch Experten für psychiatrische Diagnostik
  • AD: Einbeziehung aller Daten, die über eine Person zur Verfügung stehen (Informationen von Familienmitgliedern, medizinische Akten, Beobachtungen von medizinischem Hilfspersonal etc.) (2)

Spitzers Blei-Standard wird als Gold-Standard-Ersatz in der psychiatrischen Forschung weitgehend anerkannt, allerdings, weil sehr aufwändig, nur selten angewandt. Weil LEAD konzeptionell durchaus ansprechend sei, müssten die Schwierigkeiten bei der Umsetzung für die begrenzte Anwendung verantwortlich gemacht werden, heißt es in einem einschlägigen Lehrbuch (3).

Selbst bei wohlwollender Würdigung dieses Standards wird man sich wohl kaum der Erkenntnis verschließen können, dass es sich hier um eine Zusammenschau von subjektiven Eindrücken handelt – und dass somit eine Kumulation von Vorurteilen nicht auszuschließen ist. Von Validitätskriterien in strengem Sinne kann wohl nicht gesprochen werden, weil sie erstens von Meinungen nicht unabhängig sind und weil sie daher zweitens keine guten Repräsentanten von etwas Krankhaftem sind, das unabhängig von Meinungen in der realen Welt existiert.

Spitzer zählt zu den Heroen in der Geschichte des DSM, weil es ihm gelang, durch die dritte Revision dieses Manuals das Reliabilitätsproblem zwar nicht zu lösen, aber deutlich abzuschwächen. Die Vorgängerversion, das DSM-II, war hochgradig unreliabel. Dies lag daran, dass es sehr stark psychoanalytisch orientiert war. Psychoanalytiker haben kein besonders ausgeprägtes Interesse an einer systematischen, akribischen Einordnung ihrer Patienten in ein Schubladensystem von den Ausmaßen eines Apothekerschrankes. Die Reliabilität ist ein Maß der Übereinstimmung zwischen Diagnostikern hinsichtlich desselben Patienten.

Die Uneinigkeit von Psychiatern war in jenen Tagen ein Füllhorn von Witzen. Dies galt es zu verstopfen, und Spitzer verstopfte es, mehr schlecht als recht, aber immerhin. Der Erfolg verdankte sich vor allem der Tatsache, dass die Patienten in den Reliabilitätsstudien handverlesen wurden, sie passten also von vornherein besonders gut zu den Beschreibungen der „Krankheitsbilder“. Außerdem wurden die Diagnostiker systematisch trainiert, beim Diagnostizieren einem idealtypischen Procedere zu folgen. Die Validität gehörte nicht zu Spitzers vordringlichen Interessen. Sein Augenmerk galt vielmehr dem Machbaren (4).

Kenner der Materie werden bemerkt haben, dass ich mich bisher nur auf eine Form der Validität bezogen habe. Diese wird durch die Korrelation zwischen dem Ergebnis des diagnostischen Verfahrens und einer Variable geschätzt, die als Repräsentant der Krankheit in der, vom diagnostischen Prozess unabhängigen, Realität aufgefasst werden kann, beispielsweise ein Biomarker. Verteidiger der psychiatrischen Diagnostik berufen sich verständlicherweise darauf, dass unter dem Konstrukt der Validität auch noch andere Validitätsformen zusammengefasst werden.

Eine weitere Form der Validität ist das Ausmaß, in dem ein diagnostisches Verfahren tatsächlich das zu diagnostizierende Konstrukt widerspiegelt. In der psychiatrischen Diagnostik darf als inhaltsvalide ein Verfahren gelten, das die relevanten Merkmale des jeweiligen „Krankheitsbildes“ abfragt. Dies dürfte beim DSM und beim psychiatrischen Teil der ICD durchaus der Fall sein. Diese Form der Validität sagt aber nichts darüber aus, ob dieses „Krankheitsbild“ Realität oder Fantasie ist.

Eine weitere Form der Validität entspricht dem Ausmaß der Übereinstimmung der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Maßen einer Diagnose und den theoretisch vorhergesagten. Wenn beispielsweise bei einer Krankheit, der Theorie entsprechend, die Merkmale x, y und z sehr häufig gemeinsam bestehen, dann sollten sie auch durch das diagnostische Verfahren sehr häufig als gemeinsam bestehend erkannt werden. Und wenn ein Merkmal k theoretisch ein Abgrenzungskriterium zwischen zwei benachbarten „Krankheitsbildern“ ist, dann sollte sich dies auch in den diagnostischen Befunden zeigen.

Dass auch diese Form der Validität in der psychiatrischen Diagnostik zu wünschen übrig lässt, demonstrieren Carlo Faravelli und seine Mitarbeiter (5) am Beispiel der „Generalisierten Angststörung“. Dieses Konzept sei gekennzeichnet durch instabile diagnostische Kriterien (6), eine hohe Rate der Komorbidität (7) und unsichere Grenzen (8).

Robert Kendell und Assen Yablensky gelangen nach einer Analyse der einschlägigen Literatur zu dem Schluss, dass die psychiatrische Diagnostik nicht als valide aufgefasst werden kann, sofern eine valide Diagnostik Krankheitsbilder voraussetzt, die nachweislich diskrete Entitäten mit natürlichen Grenzen darstellen (9).

Die psychiatrische Diagnostik beruht auf einem kategorialen Ansatz;  jemand hat ein Syndrom oder er hat es nicht. Dies setzt diskrete Entitäten mit natürlichen Grenzen voraus. Entitäten mit natürlichen Grenzen können psychiatrische Diagnosen nur dann darstellen, wenn den „Krankheitsbildern“ gemeinsame physiologische oder zumindest “bio-psycho-soziale” Mechanismen zugrunde liegen, die für die „Symptome“ der jeweiligen „Syndrome“ verantwortlich sind. Der Mechanismus, der eine „Krankheit“ hervorbringt, müsste sich zudem eindeutig von den für andere „Krankheiten“ zuständigen Mechanismen unterscheiden. Trotz intensiver Suche wurden solche Mechanismen bisher noch nicht identifiziert.

Eine große Zahl von „Patienten“ fällt zwischen 2 oder gar mehrere diagnostische Kategorien; d. h., die Patienten haben Symptome zweier oder mehrerer Krankheitsbilder, gehören aber keinem eindeutig zu (10).

Es ist aber auch denkbar, dass zwei Patienten eindeutig zu einer Klasse gehören, aber keinerlei „Symptome“ gemeinsam haben. Ein Beispiel dafür findet sich in einem Aufsatz von Ian A. Cook. Patient A hat hier die Merkmale:

  • Depressive Stimmung
  • Schlaflosigkeit
  • Gewichtsverlust
  • Agitation
  • Konzentrationsstörungen
  • Ermüdung

Patient B weist demgegenüber die folgenden „Symptome“ auf:

  • Anhedonie (Unfähigkeit, Freude und Lust zu empfinden)
  • Schlafsucht
  • Gewichtszunahme
  • psychomotorische Verlangsamung
  • Gefühle der Wertlosigkeit und Schuld
  • Selbstmordgedanken

Obwohl diese beiden „Patienten“ keinerlei gemeinsame „Symptome“ aufweisen, qualifizieren sie sich nach DSM gleichermaßen für die Diagnose „Major Depressive Disorder“ (11).

Es bleibt völlig schleierhaft, wieso diese beiden „Patienten“ das gleiche „Krankheitsbild“ teilen sollten, denn ein gemeinsamer, physiologischer oder psychologischer Mechanismus, der entweder die eine oder die andere Verteilung von „Symptomen“ hervorbringt, ist ja nicht bekannt.

Es zeigt sich also, dass die psychiatrische Diagnostik auch mit einem umfassenden Validitätsbegriff, der neben biologischen zudem soziale und psychologische Faktoren beinhaltet, bisher nicht empirisch abgesichert werden konnte. Die so genannten Krankheitsbilder stellen offenbar keine natürlichen Entitäten mit klaren Grenzen dar. Die entsprechend etikettierten Menschen lassen sich weder durch biologische, noch durch objektiv messbare psychologische und soziale Faktoren eindeutig von den so genannten Normalen abgrenzen.

Dies liegt vermutlich daran, dass die Phänomene, die als Symptome “psychischer Krankheiten” gedeutet werden, nur scheinbar ausschließlich individuelle Merkmale sind. Sie sind vielmehr Ausdruck sozialer Beziehungen, die an Individuen in Erscheinung treten. Gleichermaßen ist die Zuschreibung von “psychischen Krankheiten”, also die psychiatrische Diagnostik, durch den sozialen Kontext geprägt. Der Diagnostiker wird beispielsweise in Abhängigkeit von den Lebensverhältnissen des Betroffenen dieses oder jenes Phänomen stärker oder schwächer gewichten bzw. unter den Tisch fallen lassen oder hinzufantasieren.

Die Patientin Ilse Mustermann erschiene dann beispielsweise mit einem anderen Partner nicht als “depressiv” und wäre Ilses Vater  kein Alkoholiker gewesen, dann würde die Psychiaterin diese Depressivität nicht als Symptom einer Borderline-Persönlichkeitsstörung deuten.

Die auf das Individuum bezogene und subjektive psychiatrische Diagnostik kann allein deswegen nicht valide sein, weil sie als Steuerungsinstrument zutiefst in soziale Prozesse involviert und demgemäß “befangen” ist. Sie ist daher auch nicht fähig, den Einfluss sozialer Abläufe von der Wirkung individueller Mechanismen zu trennen.

Die Diagnose sagt eigentlich nur, was nach Ansicht des Diagnostikers, die von seiner subjektiven Einschätzung einer komplexen sozialen Situation abhängt, mit dem Diagnostizierten weiterhin geschehen solle. Diese Ansicht wird durch ein Etikett, die Diagnose ausgedrückt, die ein “Psychogramm” des Betroffenen zu sein vorgibt, mit seiner tatsächlichen Individualität aber allenfalls nur sehr vermittelt zusammenhängt. Dass so etwas, wenn überhaupt, nur sehr schwach mit Indikatoren, die sich objektiv messen lassen, korrelieren kann, liegt auf der Hand.

Anmerkungen

(1) Phillips, J. et al. (2012). The six most essential questions in psychiatric diagnosis: a pluralogue, part 1-4 Philosophy, Ethics, and Humanities in Medicine, 7:3, 13. Jan.; 7:8, 18. Apr.; 7:9, 23 Mai; 7:14, 18. Dez.
(2) 
Spitzer R. L. (1983). Psychiatric diagnosis: are clinicians still necessary? Compr Psychiatry. Sep-Oct;24(5):399-411
(3) 
First, M. B. et al. (1997). User‘s Guide for the Structured Clinical Interview for DSM-IV Axis I Disorders. Clinical Version. SCID-I. Washington DC: American Psychiatric Press
(4) 
Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York N.Y.: blue rider press, Penguin Group, Seite 340
(5) 
Faravellia, C. et al. (2012). Are Psychiatric Diagnoses an Obstacle for Research and Practice? Reliability, Validity and the Problem of Psychiatric Diagnoses. The Case of GAD. Clinical Practice & Epidemiology in Mental Health, 8, 12-15
(6) “Krankheitsbild” verändert sich von Version zu Version des DSM.
(7) Mehrfachdiagnosen; es gibt häufig auch Fälle, bei denen kein “Krankheitsbild” vollständig, aber mehrere teilweise zutreffen.
(8) Eine klare Abgrenzung zu anderen “Krankheitsbildern ist nicht möglich.
(9) 
Kendell, R. & Jablensky, A. (2003). Distinguishing Between the Validity and Utility of Psychiatric Diagnoses, Am J Psychiatry; 160:4–12
(10) 
Strauss, J. (1979). Do psychiatric patients fit their diagnosis? Journal of Nervous and Mental Disease. 167:105-113
(11) 
Cook, I. A. (2008). Biomarkers in Psychiatry: Potentials, Pitfalls, and Pragmatics. Primary Psychiatry, 2008;15(3):54-59

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Ist die Ausgrenzung “psychisch Kranker” gerechtfertigt?

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Heinz Kümmerlein ist ein mittelständischer Unternehmer. Er erfährt, dass ein aussichtsreicher Bewerber ein Borderline-Persönlichkeitsgestörter sei. Kümmerlein bricht nicht so leicht den Stab über Menschen. Er will wissen, was dahinter steckt. Heute kann sich jeder mühelos über “psychische Krankheiten” informieren. Wikipedia macht’s möglich.

Also schlägt Kümmerlein im Internet nach, was unter einer Borderline-Persönlichkeit zu verstehen sei. Er erfährt, dass es sich dabei um einen Menschen handele, der zu heftiger Impulsivität, Wut und paranoiden Ideen neige, dessen zwischenmenschliche Beziehungen instabil und durch ein Wechselspiel von Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet seien, der selbstmordgefährdet sei usw. Soll Heinz Kümmerlein einen solchen Menschen einstellen?

Frauke Hollerich erfährt, dass ihr Verlobter, den sie zu heiraten gedenkt, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung habe, die er ihr bisher verschwieg. Sie hat ihn wirklich gern, dennoch liest sie, von Neugier getrieben, in Wikipedia nach. Dort erfährt sie, dass es sich bei den Narzissten um Menschen handele, die sich durch ein gesteigertes Verlangen nach Anerkennung, Antriebslosigkeit und Überschätzung der eigenen Fähigkeiten auszeichneten. Plötzlich sieht sie gewisse Eigenschaften ihres Zukünftigen in einem anderen Licht. Bisher hatte sie geglaubt, dass sie ihn mit viel Liebe schon ändern werde. Aber wenn es eine Krankheit ist, etwas Bleibendes? Soll sie ihn wirklich heiraten?

Franz Kastelmann ist selbständiger Journalist und erwägt, mit einem Kollegen ein Buch über ein Thema zu schreiben, für das dieser Kollege ein ausgewiesener Experte ist. Nun erfährt er, dass der Mann depressiv sei. Wikipedia verrät ihm, dass Depressive von der Sinnlosigkeit des Daseins durchdrungen seien, unter starken Minderwertigkeitsgefühlen litten und zu Selbstmordversuchen neigten. Soll sich Franz Kastelmann auf das Abenteuer eines solchen Buchprojekts einlassen?

Wenig später treffen Kümmerlein, Hollerich und Kastelmann in einem Zugabteil aufeinander und beginnen einen Small-Talk. Da allen dreien ihre “Psychos” nicht aus dem Kopf gehen wollen, beginnen sie alsbald, sich über diese Problematik auszutauschen. Sie haben durchaus unterschiedliche Meinungen hinsichtlich der Frage, welche Haltung gegenüber “psychisch Kranken” angemessen sei, sind sich aber einig, dass man nicht alles glauben dürfe, was im Internet stehe.

Nach einer Weile tritt ein älterer Herr ins Abteil, der dem Gespräch zunächst nur zuhört, sich dann aber als pensionierter Psychologe zu erkennen gibt. Er sagt, dass nicht nur die genannten, sondern alle “Krankheitsbilder” in den psychiatrischen Diagnose-Manualen Ansammlungen überwiegend eher negativer Merkmale seien.  Wenn also die genannten Personen tatsächlich das für diese “Syndrome” charakteristische Verhalten zeigten, dann sei bei diesen Menschen durchaus Vorsicht geboten.

Wer also davon überzeugt ist, dass die psychiatrische Diagnostik Hand und Fuß hat, der hat guten Grund, die so genannten psychisch Kranken auszugrenzen. Unter dieser Bedingung wird Heinz Kümmerlein den Bewerber zu recht nicht einstellen, Frauke Hollerich wird ihrem Verlobten aus gutem Grund den Laufpass geben und Franz Kastelmann wird sich für sein Buch vernünftigerweise einen anderen Ko-Autor suchen.

Denn auch wenn die so genannten psychischen Kranken im Prinzip erfolgreich behandelbar wären, so kann doch niemand wissen, ob dies auch im Einzelfall so sein wird. Man kann von niemandem erwarten, dass er ein solches Wagnis eingeht. Vorausgesetzt wird bei diesem Gedankenspiel allerdings die Validität psychiatrischer Diagnosen. Nur wenn die beschriebenen Phänomene tatsächlich durch innere Mechanismen in den genannten Individuen hervorgerufen werden, wenn sie also tatsächlich krank sind, taugt die psychiatrische Diagnose zur Prognose ihres zukünftigen Verhaltens.

Dies ist die gute Nachricht für alle als “psychisch krank” verunglimpften Menschen: Bisher war die Psychiatrie noch nicht in der Lage, empirisch zu erhärten, dass es sich bei den so genannten psychischen Krankheiten auch tatsächlich um Krankheiten handelt. Die psychiatrischen Diagnosen sind willkürlich, schiere Meinungen, nichts weiter. Sie haben keine wissenschaftliche Grundlage. So gesehen wären Kümmerlein, Hollerich und Kastelmann also gut beraten, sich von ihren eigenen Eindrücken leiten zu lassen und den psychiatrischen Gerüchten keine Beachtung zu schenken.

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Postpsychiatrie?

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Pat Bracken ist Psychiater, Philosoph, Ire und Direktor der “Mental Health Services” im westlichen Teil der Grafschaft Cork. Zusammen mit der beachtlichen Zahl von 28 weiteren Kollegen verfasste er einen Artikel, der unter der Überschrift “Psychiatry beyond the current paradigm” im “British Journal of Psychiatry” erschien (1).

Die Autoren widersprechen der Auffassung, es sei möglich, die gegenwärtige Psychiatrie-Krise dadurch zu überwinden, dass man die Identität dieser Disziplin als “angewandte Neurowissenschaft” stärke.

Dies jedoch ist die Position des internationalen psychiatrischen Mainstreams. Sie wird u. a. vehement von der weltweit größten psychiatrischen Forschungsinstitution, dem tonangebenden “National Institute of Mental Health” (USA) vertreten.

Demgegenüber sind Bracken und seine Mitstreiter davon überzeugt, dass die entscheidenden Dimensionen psychiatrischer Arbeit nicht im technischen Bereich zu suchen seien, sondern auf dem Gebiet der Beziehungen, Bedeutungen und Werte.

Heute herrsche in der Psychiatrie das “technologische Paradigma” vor, das durch folgende Grundannahmen gekennzeichnet sei:

  • Psychische Probleme entstehen aus fehlerhaften Mechanismen oder Prozessen irgendeiner Art, die physiologische oder psychologische Ereignisse einschließen und die im Individuum auftreten
  • Diese Mechanismen oder Prozesse können durch Kausalbegriffe modellhaft erfasst werden; sie sind nicht kontextabhängig
  • Technische Interventionen sind hilfreich und können entworfen und untersucht werden, ohne Beziehungen und Werte zu berücksichtigen.

Soziale Bezüge würden, so schreiben die Autoren, zwar nicht völlig ignoriert, aber als sekundär aufgefasst. Dieses Paradigma habe der Psychiatrie keinen Nutzen gebracht. Fundamentale erkenntnistheoretische Probleme des Faches zu ignorieren, bedeute ja keineswegs, dass sie verschwänden. Die Autoren gehen nicht näher auf diese Probleme ein; sie lassen sich aus meiner Sicht auf folgende einfache Formel bringen: Wie kann der Widerspruch zwischen dem Menschen als Objekt (Körper einschließlich Nervensystem) und als Subjekt (Wesen, das sich über die Gründe seines Handelns Rechenschaft abzulegen vermag) überbrückt werden.

Die Autoren skizzieren nunmehr eine Reihe empirisch erhärteter Sachverhalte, die aus ihrer Sicht nahelegen, das herrschende Paradigma zu hinterfragen (2):

  • Bei der medikamentösen Behandlung von Depressionen sind die Wirkungsunterschiede zwischen Psychopharmaka und Placebos minimal
  • Bei Vergleichen zwischen realer und vorgetäuschter Elektroschockbehandlung ließ sich eine Überlegenheit der realen Schockbehandlung nicht nachweisen
  • Die “Kognitiv Behaviorale Therapie” ist bei Depressiven nicht weniger wirksam, wenn man theoretisch zentrale Elemente einfach weglässt
  • Generell, also nicht nur bei Depressionen, sind die Belege dafür überwältigend, dass die Effektivität von Psychotherapie unabhängig von den eingesetzten Methoden ist
  • Entscheidend sind vielmehr Selbstachtung und das Gefühl, die Störung aus eigener Kraft meistern zu können
  • Die Hoffnung, dass die so genannten atypischen Neuroleptika besser seien als die traditionellen, hat sich als trügerisch herausgestellt
  • Die übertriebene Betonung der Bedeutung von Psychopharmaka führte zu einer Blindheit gegenüber ihren erheblichen Nebenwirkungen und zu einer Abhängigkeit von den Vermarktungsinteressen der Pharmaindustrie
  • Diese Substanzen haben vermutlich nur unechte (spurious) Vorzüge
  • Es wird mit guten Gründen vermutet, dass Psychopharmaka zu der nachgewiesenen, erheblich verkürzten Lebenserwartung von “psychisch Kranken” beitragen.

Nach dieser Bankrotterklärung plädieren die Autoren nicht etwa dafür, die Psychiatrie in ihrer gegenwärtigen Form zu Hölle zu schicken, sondern sie möchten nur der Ethik und Hermeneutik einen größeren Stellenwert einräumen. Dies wird sehr eindrucksvoll in folgender Passage deutlich, die auch aus einem Poesiealbum stammen könnte:

“Reductionist models fail to grasp what is most important in terms of recovery. The evidence base is telling us that we need a radical shift in our understanding of what is at the heart (and perhaps soul) of mental health practice. If we are to operate in an evidence-based manner, and work collaboratively with all sections of the service user movement, we need a psychiatry that is intellectually and ethically adequate to deal with the sort of problems that present to it. As well as the addition of more social science and humanities to the curriculum of our trainees we need to develop a different sensibility towards mental illness itself and a different understanding of our role as doctors. We are not seeking to replace one paradigm with another. A post-technological psychiatry will not abandon the tools of empirical science or reject medical and psychotherapeutic techniques but will start to position the ethical and hermeneutic aspects of our work as primary, thereby highlighting the importance of examining values, relationships, politics and the ethical basis of care and caring.”

Eine veränderte Sensibilität für psychische Krankheiten und ein verändertes Rollenverständnis des Arztes, heißt es, müssten entwickelt werden, dann werde alles wieder gut. Dies wird, so fürchte ich, nicht reichen. Denn das psychiatrische System krankt aus meiner Sicht an Widersprüchen, die sich im Rahmen dieses Systems nicht überwinden lassen. Zu diesen Widersprüchen zählen: der Widerspruch zwischen dem Anspruch,

  • medizinische Heilbehandlungen zu bieten und der Realität, Maßnahmen zur sozialen Kontrolle abweichenden Verhaltens zu ergreifen
  • eine biologisch fundierte Wissenschaft zu sein und der Realität, überwiegend auf Grundlage gesellschaftlicher Moralvorstellungen, Normen und Erwartungen zu agieren
  • krankheitsbedingtes Verhalten zu korrigieren und der Realität, schlechtes Benehmen zu bestrafen
  • dem Patienten die Kontrolle über sein Verhalten zurückzugeben und der Realität des (mehr oder weniger bewussten) Self-handicappings der angeblich Kranken (Krankheitsgewinn)
  • im Interesse der Patienten mit fürsorglichen Angehörigen zusammenzuarbeiten und der Realität, ihnen dabei zu helfen, Störer und Familienmitglieder, die lästig geworden sind, ruhigzustellen und auszugrenzen.

Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, vermittelt aber immerhin einen Eindruck davon, mit welchem gigantischen Ausmaß von Betrug und Selbstbetrug das psychiatrische System verbunden sein kann. Diese Widersprüche sind die unausweichliche Folge eines Missverständnisses: Verhalten und Erleben, das störend, befremdlich und rätselhaft ist, das gegen gesellschaftliche Normen, Moralvorstellungen und die Erwartungen des Umfelds verstößt, wird als Krankheit aufgefasst. Auf Basis dieser Fehlinterpretation lassen sich dann u. U. auch Maßnahmen legitimieren, die ansonsten eindeutig und offensichtlich gegen bürgerliche Rechte, ja, gegen das Grundgesetz und die Menschenrechte verstoßen würden.

Es ist daher nicht damit zu rechnen, dass sich Bracken und andere wohlmeinende, philosophierende Reformer der Psychiatrie mit ihren Vorstellungen durchsetzen werden. Der Jargon und die Rhetorik der so genannten biologischen Psychiatrie und der ihr dienstbaren Neurowissenschaften eignen sich hervorragend dazu, den sozialen, ökonomischen und politischen Sprengstoff, der dem psychiatrischen System innewohnt, aus öffentlichen Diskursen auszublenden.

Psychoanalytisch betrachtet, handelt es sich hier um den Prozess einer kollektiven Verdrängung, und die so genannten Psychiatrie-Skandale, die hin und wieder das öffentliche Bewusstsein aufstören, können als Wiederkehr des Verdrängten aufgefasst werden. Erwartungsgemäß setzt aber sofort wieder die Verdrängungsarbeit ein, sobald ein solcher Skandal ruchbar wird. Man sieht dies zur Zeit sehr schön am Fall “Gustl Mollath“, der vor allem als Justiz- bzw. Politik-Skandal aufgefasst wird, obwohl er im Kern ein Psychiatrie-Skandal ist.

Denn gesetzt den Fall, Politik und Justiz hätten tatsächlich versucht, Schwarzgeldgeschäfte zu vertuschen (niemals würde ich so etwas ohne handfeste Beweise glauben!), so wäre ihnen dies, auf diese elegante und schwer greifbare, schwer korrigierbare Weise, gar nicht möglich gewesen ohne die freundliche Unterstützung des psychiatrischen Systems, das für derartige Verwendungen nachgerade maßgeschneidert zu sein scheint.

In einem Beitrag für die “World Psychiatry” (3) – das Zentralblatt der “World Psychiatric Association” - fragt sich der österreichische Psychiater Heinz Katschnig: Sind Psychiater eine gefährdete Art? Er identifiziert folgende Gefahrenquellen, denen sich diese Art ausgesetzt sieht:

  • Sie ist von Selbstzweifeln hinsichtlich ihrer diagnostischen Systeme geplagt
  • Desgleichen ist sie immer weniger von ihren Behandlungsmethoden überzeugt
  • Sie leidet unter dem Mangel an einer kohärenten theoretischen Basis
  • Die Unzufriedenheit der Patienten nimmt beständig zu
  • Sie sieht sich zunehmend der Konkurrenz durch andere Professionen ausgesetzt
  • Ihr Image war schon immer schlecht und daran will sich partout auch nichts ändern.

Es gibt Arten, die auch unter ungünstigen Lebensbedingungen überleben können, weil sie zäh und ruchlos sind. Andere überleben, weil es ihnen gelingt, Weinerlichkeit zu einem scharfen Schwert der Berufspolitik zu machen und erfolgreich einzusetzen, bevor es wirklich bedrohlich wird. Hinsichtlich der Liste Katschnigs ist anzumerken, dass die Psychiatrie tragfähige diagnostische Systeme, effektive Behandlungsmethoden, eine kohärente Theorie, ausreichend zufriedene Patienten und ein gutes Image gar nicht benötigt, um zu überleben; denn all dies hatte sie nie und sie ist dennoch nicht ausgestorben.

Allein die leidige Konkurrenz könnte ihr zu schaffen machen. Doch da sollten sich die Psychiater – Weinerlichkeit als Waffe hin oder her – keine allzu großen Sorgen machen. Denn damit eine Berufsgruppe die tatsächlichen gesellschaftlichen Aufgaben der Psychiatrie erfüllen kann, braucht sie eine möglichst weitgehende Autorität. Und da kann die Psychiatrie, trotz aller Kritik und Geringschätzung, mit dem Nimbus der Medizin eindrucksvoll und Erfolg versprechend wuchern. Dem haben außermedizinische Professionen nichts entgegenzusetzen, auch nicht auf lange Sicht.

Dass die Vorreiter der gegenwärtigen “kritischen Psychiatrie” diese Autorität nicht aufs Spiel setzen möchten, beweist nicht zuletzt Pat Bracken, der sich in Abgrenzung zur Antipsychiatrie als Vertreter einer Postpsychiatrie positioniert (4). Die Postpsychiatrie will die alte Dichotomie zwischen kritischen Psychiatrieerfahrenen und einer bevormundenden Psychiatrie durch neue, partizipative Formen der Kommunikation und Kooperation überwinden. Dies bedeutet natürlich auch, dass die generelle Zuständigkeit der medizinischen Zunft für Leute mit Lebensproblemen, für die so genannten psychisch Kranken, nicht in Frage gestellt wird.

Das Problem ist nach Auffassung der “Postpsychiater” nicht so sehr die Psychiatrie, sondern die Suche des Mainstreams dieser Disziplin nach Lösungen im Rahmen des “technologischen Paradigmas”. Wie so oft bei Leuten, die dem Klartext ausweichen möchten, ergeben sich enge Bezüge zwischen dem postpsychiatrischen Denken und der postmodernen Philosophie (deren besonderer Vorzug für diesen Zweck in gewollter Schwerverständlichkeit besteht). Doch keine Sprachakrobatik kann letztlich die Tatsache aus der Welt schaffen, dass die so genannten psychisch Kranken nicht wirklich an Krankheiten leiden und dass sie deswegen auch nicht des Arztes bedürfen.

Da mag man noch so sehr mit Querverweisen auf Heidegger, Merleau-Ponty, Foucault und Wittgenstein glänzen (6), der “Postpsychiater” kommt dennoch nicht an der Tatsache vorbei, dass es keine medizinische Aufgabe ist, Menschen mit Problemen zu “behandeln”, deren Wurzeln im sozialen, ökonomischen, kulturellen, spirituellen und existenziellen Bereich liegen. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war die mit der Theologie verschwisterte Medizin durchaus für das ganze Spektrum menschlicher Lebenslagen und Befindlichkeiten zuständig; heute ist sie dazu aber weder fachlich gerüstet, noch passt eine solche umfassende Daseinsfürsorge zur Konstitution einer modernen, freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Immerhin räumt Bracken ein, dass die Psychiatrie gar nicht jene diagnostischen, prognostischen und therapeutischen Fähigkeiten besäße, die sie zur Rechtfertigung psychiatrischen Zwangs beanspruche (5). Er schreibt:

“ At present, psychiatry continues to be feared. In spite of all the anti-stigma campaigns, as long as the profession is bestowed with powers to incarcerate and to treat on an involuntary basis, this fear will continue. The forthcoming review of the Mental Health Act provides an opportunity for psychiatrists to shed some of these powers and to engage with service-users in a positive debate about how and when force should be used in mental health crises.”

Es ist allerdings ein Trugschluss zu glauben, dass die Furcht vor der Psychiatrie allein auf dem Damoklesschwert der Zwangsbehandlung beruhe, das über uns allen schwebt. Aus meiner Sicht fußt die Furcht in einem tiefen, oft unreflektierten Zwiespalt: Einerseits empfindet man es vielleicht sogar als Entlastung, als “psychisch Kranker” für nicht verantwortlich erachtet zu werden; andererseits aber ahnt man zumindest, dass die Verantwortlichkeit zum Personsein dazugehört und dass man ohne Verantwortung zur Unperson wird.

Diese Furcht speist sich aus der Autorität des Arztes und sie hängt nicht davon ab, ob er ein technologisches Paradigma oder ein postmodernes vertritt. Der menschlich zugewandte Arzt kann die Furcht sogar verstärken, weil diese humane Haltung als eventueller Täuschungsversuch erfahren wird. Selbst wer dies nicht bewusst reflektiert, wird ein Unbehagen verspüren, angesichts von Ärzten, die vorschützen, die eigene Psyche besser zu kennen als man selbst.

Ein Arzt, der erkannt hat, dass die angeblichen psychischen Krankheiten keine sind, ist Dr. Nelson Borelli. Er hat daraus den einzig rational und moralisch einwandfreien Schluss gezogen und nach mehr als fünfzig Jahren seine medizinische Praxis aufgegeben. Entsprechend hat er seine Tätigkeit neu verortet:

“As a life coach, Nelson Borelli will assist people seeking help in managing their personal lives. Rather than diagnosing and treating medical conditions, he will try to help people to identify the blind spots in their assessment and management of their lives. However he will not tell people how to live their lives.”

Dies ist klare Kante. Kein Wunder, dass sich Borelli in seiner Website ausdrücklich zu Thomas Szasz bekennt, der mit seinen Schriften den Mythos der psychischen Krankheiten entlarvte. Der Postpsychiater webt weiter an dem Schleier, den er zu zerreißen vorgibt. Es bleibt eine offene Frage, ob er damit seinen Patienten weniger schadet als der Mainstream-Psychiater, der angesichts der offenkundigen Krise der Psychiatrie den Kopf in den Sand steckt.

Anmerkungen

(1) The British Journal of Psychiatry (2012) 201, 430–434. doi: 10.1192/bjp.bp.112.109447

(2) Regelmäßige Leser meines Tagebuchs werden feststellen, dass auch ich diese Fakten bereits wiederholt vorgetragen habe.

(3) Are psychiatrists an endangered species? Observations on internal and external challenges to the profession, World Psychiatry 2010;9:21-28

(4) Bracken P & Thomas P (2001) Postpsychiatry: A new direction for mental health British Medical Journal, 322: 724-7

(5) Bracken, P: Psychiatric power: A personal view. The Irish Journal of Psychological Medicine 2012; 29 (1): 55-58

(6) Bracken, P. & Thomas, P. (). Postpsychiatry. Mental Health in a Postmodern World. Oxford: Oxford University Press

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Extremer Stress

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Am Stammtisch

Extremen Stress muss man in Gaststätten  eher selten erdulden, es sei denn, bei einer Kneipenschlägerei. Unlängst wurde ich zufällig Ohrenzeuge eines Stammtischgesprächs. Es ging um den Krieg, um Schlachten, Helden und Siege. Ältere Herren bestärkten sich gegenseitig in der Ansicht, dass nur Feiglinge oder Schwächlinge an der Front zusammenbrächen. Wer in einer Schlacht die Nerven verliere, so hieß es, der habe schon vorher einen Knacks gehabt. Richtige Männer seien schon in der Lage, den inneren Schweinehund zu besiegen, wenn die Not und das Vaterland dies geböten. Mit geröteten Gesichtern und funkelnden Augen schwadronierte man und prostete einander zu, bis die Handys musizierten und Ehefrauen den Heimweg befahlen.

Vermutlich hatten diese Männer nie einen Krieg erlebt – von Kampferfahrung ganz zu schweigen. Doch auch Kriegsteilnehmer neigen nicht selten zu solchen Ansichten. Dies liegt nicht allein daran, dass nur eine Minderheit der Soldaten an der Front eingesetzt wird. Der Grund dafür ist auch die sattsam bekannte Neigung des Menschen zum Selbstbetrug und zur Verlogenheit. Wer im warmen Schankraum vorm Bier hockt, der ist vielleicht auch nicht in der rechten Stimmung, um sich in die Innenwelt eines Soldaten im Stahlgewitter hineinzuversetzen.

An der Front

Der Mythos vom Kriegshelden hält den Tatsachen zweifellos nicht stand. In seinem Buch „The Painful Field“ hat der amerikanische Historiker Richard A. Gabriel Fakten zusammengetragen, die eindeutig belegen, dass es keine Kriegshelden gibt, sofern man unter einem Kriegshelden eine moralisch tadellose Person versteht, die ihr Leben für die Kameraden und fürs Vaterland aufs Spiel gesetzt und dem Feind erfolgreich Paroli geboten hat.

Heroen dieses Zuschnitts sind schlicht Fantasie und Wunschdenken. Einer der berühmtesten “Kriegshelden” aller Zeiten, der amerikanische Schauspieler John Wayne, war nur auf der Leinwand als furchtloser Kämpfer aktiv. Wegen einer leichten Schulterverletzung, die er sich beim Sport zugezogen hatte, wurde er während des 2. Weltkriegs nicht zum Militär eingezogen und er verzichtete darauf, sich freiwillig zu melden, anders als viele seiner Kollegen mit vergleichbaren medizinischen Einschränkungen.

John Wayne hilft uns, das wahre Gesicht des Krieges zu verdrängen; doch das Verdrängte kehrt zurück: in Form von Soldaten mit psychiatrischen Diagnosen. Ich referiere die wichtigsten Einsichten aus Gabriels lesenswertem Buch:

  • Während des 2. Weltkriegs feuerten gerade einmal 15 Prozent der amerikanischen Frontsoldaten ihre Waffen ab – unabhängig davon, ob sie angriffen oder angegriffen wurden. Die meisten Soldaten hatten einfach zu viel Skrupel oder zu viel Angst. Sie zogen es vor, sich in ihre Schützenlöcher zu ducken.
  • Bei Elite-Soldaten, zu deren Auswahlkriterien und Ausbildungszielen Aggressivität zählte, lag diese Quote mit 25 Prozent nicht wesentlich höher.
  • Dasselbe Bild ergab sich bei den Piloten. Auf nur 1 % entfielen mehr als 40 % der Abschüsse.
  • Nahezu alle Soldaten, die mehr als einen Monat dem Stress der Front ausgesetzt sind, entwickeln Phänomene, die von Psychiatern als “Symptome von psychischen Krankheiten” eingestuft werden. Die Vorstellung, dass nur Feiglinge zusammenbrechen, ist ein Mythos, der durch militärpsychologische und militärpsychiatrische Studien eindeutig widerlegt wird. Und diese Erfahrungen wurden vor allem in Kriegen gesammelt, die erheblich weniger intensiv waren als ein moderner Krieg.
  • In jedem Krieg sind Furcht und Erschöpfung ständige Begleiter. Das Erlebnis der Schlacht ist eine der bedrohlichsten Erfahrungen, mit denen Menschen konfrontiert werden können. Unkontrollierbare emotionale Reaktionen an der Front sind weder seltene, noch isolierte Ereignisse.
  • Obwohl die amerikanische Armee während des ersten und zweiten Weltkriegs durch gründliche psychiatrische Untersuchungen die Schwachen auszusondern versuchte und nur die angeblich Starken an die Front geschickt wurden, gelang es ihr nicht, die Häufigkeit psychiatrischer Zusammenbrüche infolge des Kampferlebnisses zu vermindern.
  • “Psychiatrische Krankheiten” waren die größte Einzelkategorie bei den Behindertenrenten, die nach dem II. Weltkrieg von der amerikanischen Regierung gewährt wurden.
  • Während des 1. Weltkriegs wurden 27,7 Prozent der Frontkämpfer wegen eines psychischen Zusammenbruchs dauerhaft aus der Kampfzone evakuiert. Weitere 16,6 Prozent wurden vorübergehend in psychiatrische Einrichtungen eingewiesen.
  • Während des 2. Weltkriegs litten 1.393.000 amerikanische Soldaten an Phänomenen, die als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet wurden und die sie zumindest vorübergehend dienstunfähig machten.
  • 37,5 Prozent der amerikanischen Frontsoldaten wurden während des 2. Weltkriegs wegen psychiatrischer Diagnosen entlassen.
  • In Korea erlitten 24,4 Prozent der amerikanischen Frontsoldaten so schwerwiegende psychische Zusammenbrüche, dass sie zumindest vorübergehend kampfunfähig waren.
  • Vietnam: 12,5 Prozent der Frontsoldaten wurden “psychiatrische Fälle”. Der Vietnamkrieg war kein sehr intensiver Krieg, so erklärt sich die vergleichsweise niedrige Zahl.
  • Allerdings litten nach dem Vietnam-Krieg relativ mehr Veteranen am “Posttraumatischen Belastungssyndrom” (PTBS) als an vergleichbaren Störungen (PTBS gab es vorher ja nicht) nach jedem anderen Krieg zuvor.
  • Untersuchungen zeigen, dass nur etwa 2 Prozent der Soldaten auch nach wochenlangem Fronteinsatz nicht zusammenbrechen. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um Menschen, die bereits vor dem Soldatenleben als psychopathische Persönlichkeiten eingestuft, also durch einen eklatanten Mangel an Gewissensregungen aufgefallen waren.
  • Psychische Zusammenbrüche an der Front können durch eine ausgeprägt patriotische Einstellung nicht vermieden werden. Auch Männer, die freiwillig zu den Waffen streben, um sich auf dem Feld der Ehre zu bewähren, sind davor nicht gefeit (1).

“Im Kampfe, im Kriege, der alle Übereinkunft vom Menschen reißt wie die zusammengeflickten Lumpen eines Bettelmannes, steigt das Tier als geheimnisvolles Ungeheuer vom Grunde der Seele auf. Da schießt es hoch als verzehrende Flamme, als unwiderstehlicher Taumel, der die Massen berauscht, eine Gottheit über den Heeren thronend. Wo alles Denken und alle Tat sich auf eine Formel zurückführt, müssen auch die Gefühle zurückschmelzen und sich anpassen der fürchterlichen Einfachheit des Zieles, der Vernichtung des Gegners. Das wird bleiben. Solange Menschen Kriege führen und Kriege werden geführt, solange es noch Menschen gibt.”

Dies kündet der deutsche Schriftsteller Ernst Jünger in seinem Buch: “Der Kampf als inneres Erlebnis“, in dem er auf recht eigentümliche Weise hoch tönend seine Erfahrungen aus dem 1. Weltkrieg verarbeitete. Im Licht des Buchs von Gabriel betrachtet, bestand allerdings die fürchterliche Einfachheit des Zieles für die überwältigende Mehrzahl der Frontsoldaten darin, die eigene Haut zu retten.

Bei Jünger erscheint der Krieg, trotz aller Grausamkeit, positiv als charakterbildende Erfahrung. Mag dieses innere Erlebnis auch charakterbildend sein – wie es allerdings den Charakter tatsächlich bildet, davon ist an Stammtischen und bei einschlägigen Weiheveranstaltungen nur selten die Rede. Auch im Krieg nämlich wählen die Menschen in aller Regel unter den ihnen zu Gebote stehenden Alternativen jene aus, die ihnen die beste zu sein scheint. Der Maßstab dafür sind selten die heeren Ideale der Vaterlandsliebe und des Opfermutes. Es geht den meisten dann doch wohl eher darum, sich unter Gesichtswahrung aus der Affäre zu ziehen.

In seinem Buch “In Stahlgewittern“ schreibt Jünger:

“Bei solchen Gelegenheiten vermied ich, mich vom Draufgängertum fortreißen zu lassen. Es wäre wenig taktvoll gewesen, den Leuten, die zum Teil mit der Angst um Frau und Kind zur Vernichtung zogen, zu zeigen, dass man der Schlacht mit einer gewissen Lust entgegensah. Auch war es mein Grundsatz, nicht durch große Worte zum Mute anzuspornen oder den Feigling zu bedrohen. Ich suggerierte: Ich weiß genau, dass mich niemand im Stiche lässt. Wir haben alle Angst, aber wir müssen dagegen kämpfen. Es ist menschlich, wenn jemand von seiner Schwäche übermannt wird. Er muss dann auf seinen Führer und die Kameraden sehen. Schon beim Sprechen fühlte ich, dass solche Worte den Leuten verständlich waren. Die Erfolge rechtfertigten diese psychologische Vorbereitung in glänzender Weise.”

Mag es auch Ernst Jünger gelungen sein, seinen Kameraden Mut einzuflößen, im Allgemeinen herrscht auf dem Schlachtfeld ein anderer Geist. Und das ist auch nicht verwunderlich, weil das Lazarett den “psychisch Kranken” als beste aller Möglichkeiten lockt. Auch und gerade im Krieg gilt, dass man nicht “psychisch krank” wird, sondern diese Rolle wählt, aus Gründen, die bei nüchterner Betrachtung ins Auge springen und die letztlich als “normal” gedeutet werden müssen.

Posttraumatische Belastungsstörung

Wenn sich die Bundeswehr weiterhin an internationalen Kampfeinsätzen beteiligt, dann ist entsprechend natürlich mit einer steigenden Zahl von Menschen in unserer Mitte zu rechnen, die durch Kriegserfahrungen schwer traumatisiert wurden. In vielen Fällen werden die Traumata diese Veteranen ein Leben lang begleiten. Veteranen und ihre Ärzte werden sie als Ursache mitunter irreversibler psychischer Störungen betrachten.

Die Diagnose “Posttraumatische Belastungsstörung” (PTBS) wurde 1980 in die dritte Revision des „Diagnostisch Statistischen Manuals“ (DSM) aufgenommen. Das DSM ist die amerikanische “Psychiater-Bibel” zur Psychodiagnose. Die Aufnahme der PTBS erfolgte auf Druck der Verbände von Vietnam-Veteranen (3). Obwohl dadurch ein bisher noch nicht vorhandenes “Krankheitsbild”, ein neues „Syndrom“ kreiert wurde, sind die Phänomene, auf die sich diese Diagnose bezieht, natürlich so alt wie der Krieg. Zuvor hatte man andere Namen für diese Phänomene, beispielsweise Kriegsneurose oder Kriegshysterie.

Wie viele seiner Zeit- und Zunftgenossen, führte der Psychiater Wilhelm Neutra 1920 in seiner Schrift “Seelenmechanik und Hysterie“ die kriegsbedingte “Hysterie” auf einen unterbewussten Konflikt zwischen Selbsterhaltungstrieb und Kampfmoral (Patriotismus, soldatische Ehre) zurück. Die “hysterischen Symptome” stellten aus dieser Sicht also einen Kompromiss dar, seien eine Flucht in die Krankheit, durch die der Erkrankte das Gesicht wahren und gleichermaßen auch strafrechtliche Konsequenzen (Standgericht) vermeiden könne. Es handele sich bei der Kriegsneurose nicht um eine Simulation, da der Patient diese Konfliktlösung nicht mit bewusstem Willen anstrebe.

Heute neigt die Psychiatrie eher dazu, den Betroffenen zu unterstellen, sie litten unter einer angeborenen “Vulnerabilität” für dysfunktionale Reaktionen auf extremen Stress. Aus meiner Sicht handelt sich bei der so genannten Posttraumatischen Belastungsstörung (und bei allen anderen kriegsbedingten psychischen Phänomenen) nicht um eine Krankheit im medizinischen, sondern allenfalls um eine Erkrankung im metaphorischen Sinn.

Die Verhaltensmuster, aufgrund derer die betroffenen Soldaten derartige Diagnosen erhalten, sind die ganz normalen Reaktionen normaler Leute auf eine verrückte Situation. Die menschliche Natur hält im Allgemeinen dem extremen Stress eines Kampfeinsatzes über einen längeren Zeitraum nicht stand. Fast jeder hat seinen Bruchpunkt. Ist dieser Bruchpunkt erreicht, dann ordnen sich die hohen ideologischen Werte den tatsächlichen Interessen des Individuums unter. Wer diesen Bruchpunkt nicht innerhalb weniger Wochen an der Front erreicht, der ist nicht “normal”, also kein Kriegsheld, sondern in aller Regel ein Mensch, dessen Sensibilität für Grausamkeit, gemessen am Maßstab des zivilen Alltagslebens, unzulänglich entwickelt ist.

Eine Frage des Staates und die Antwort der Soldaten

Aus meiner Sicht sind die sog. psychischen Störungen grundsätzlich keine Krankheiten, sondern Strategien zur Daseinsbewältigung. Diese Strategien können sich zum Lebensstil ausformen. Auch die „Posttraumatische Belastungsstörung“ eines Soldaten macht hier keine Ausnahme. Sie ist eine Strategie, den Wahnsinn des Krieges zu bewältigen und dabei ein normaler Mensch zu bleiben, sich also nicht in ein Monster zu verwandeln. Und natürlich geht es auch darum, sein Gesicht zu wahren und vor sich selbst zu bestehen. Krankheit ist, moralisch betrachtet, nun einmal weniger verwerflich als Feigheit.

Selbstverständlich entwickelt nicht jeder Soldat, der in einem Kriegsgebiet eingesetzt wird, ein „posttraumatisches Belastungssyndrom“. Die psychischen Auswirkungen hängen natürlich von der Intensität und Dauer des Kampfeinsatzes ab, vom Ausmaß der Stresserfahrung also.

Je brutaler der Krieg, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Soldat jene Strategie der Daseinsbewältigung wählt, die unter dem Begriff „PTBS“ medikalisiert wurde. Durch diese Medikalisierung wird eine gesunde Reaktion zur Krankheit erklärt. Sie wird individualisiert und pathologisiert.

Natürlich könnte man den betroffenen Soldaten in die Röhre eines Computer-Tomographen schicken und unter Umständen feststellen, dass sich sein Hirn strukturell verändert hat (2). Oberflächlich betrachtet, ist das dann in etwa so, als hätte er ein Bein verloren. Doch er hat kein Bein verloren, ihm fehlt nichts. Der Brainscan zeigt nur, dass sein Gehirn normal auf eine wahnsinnige Erfahrung reagiert. Ihm fehlt nichts, im Gegenteil: Er hat nur die Schnauze voll. Sein Gehirn hat sich in einer Weise verändert, die es dem betroffenen Soldaten angesichts der Barbarei des Krieges erlaubt, sein Gesicht zu wahren: “Ich bin kein Feigling”, lautet die Botschaft seiner grauen Zellen und seines Unbewussten, “sondern krank.”

Was darf der Staat von seinen Bürgern verlangen, die er zu den Fahnen ruft? Diese Frage wird auf unterschiedliche Weise beantwortet – in Abhängigkeit von der Weltanschauung, vom Menschenbild, von der Einstellung zum Krieg und von der persönlichen Erfahrung.

Soldaten, die im Krieg ausrasten, durchdrehen, geben damit ebenfalls eine Antwort auf diese Frage. Sie ist vielstimmig; man kann sie in den einschlägigen diagnostischen Handbüchern nachlesen:

  • Physische Erschöpfung, später mentales Auslaugen
  • jede Bewegung erschöpft, ist quälend
  • Schwitzen, Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen etc.
  • Herzstörungen; exzessives Zittern etc.
  • unsoziales Verhalten, Irritabilität, Verantwortungsscheu, Verweigerungshaltung
  • emotionale Krisen
  • Suchtmittelmissbrauch
  • Dissoziation von der Realität, Wahnideen
  • extreme Stimmungsschwankungen
  • läppisches Verhalten
  • Amnesien; Fugue;
  • konvulsive Attacken, Lähmungserscheinungen
  • Schlafstörungen, Alpträume
  • fixe Ideen, Phobien, generalisierte Ängste,
  • Kurzatmigkeit, Schwächegefühle, Nervosität
  • Zittern, Krämpfe, Tics, Stammeln
  • Längerfristige Persönlichkeitsveränderungen durch wiederholten traumatischen Stress an der Front

Obige Liste enthält keine “Krankheitssymptome”, sondern Antworten. Die Landsleute daheim sollten lernen, ihren Sinn zu verstehen. Die Medikalisierung kaschiert den Sinn, verhindert eine profunde Reflexion. Das kann niemanden kaltlassen. Keine der hier relevanten Problemlösungen wird durch diese Verdrängung erleichtert. Auch Militärs, die Kriege für notwendig halten und gern führen möchten, müssen begreifen, dass es sich hier nicht um “psychiatrische Zwischenfälle” und “individuelle Schwächen” handelt, sondern um die Normalität des Krieges.

Die Botschaft dieser “Symptome” lautet: “Ich will nie wieder in den Krieg und erst recht nicht an die Front!” Selbstachtung und Patriotismus verbieten es den betroffenen Soldaten, diesen Klartext offen auszusprechen. Stattdessen quälen sie sich mit einer “Krankheit”.

Warum aber sind die meisten Menschen ungeeignet für die Front und warum taugen überwiegend Psychopathen zum “Kriegshelden”?

Eine Antwort gibt Sigmund Freud in einem Schreiben an Albert Einstein. Wir finden diesen Brief in dem Büchlein: “Albert Einstein, Sigmund Freud: Warum Krieg?”

“Von den psychologischen Charakteren der Kultur scheinen zwei die wichtigsten: die Erstarkung des Intellekts, der das Triebleben zu beherrschen beginnt, und die Verinnerlichung der Aggressionsneigung mit all ihren vorteilhaften und gefährlichen Folgen. Den psychischen Einstellungen, die uns der Kulturprozess aufnötigt, widerspricht nun der Krieg in der grellsten Weise, darum müssen wir uns gegen ihn empören, wir vertragen ihn einfach nicht mehr, es ist nicht bloß eine intellektuelle und affektive Ablehnung, es ist, bei uns Pazifisten eine konstitutionelle Intoleranz, eine Idiosynkrasie gleichsam in äußerster Vergrößerung. Und zwar scheint es, dass die ästhetischen Erniedrigungen des Krieges nicht viel weniger Anteil an unserer Auflehnung haben als seine Grausamkeiten.”

Mit anderen Worten: Je weiter der Prozess der Zivilisation in einem Individuum vorangeschritten, je stärker also auch seine Gewaltbereitschaft eingeschränkt ist, desto weniger kriegstauglich ist es. Das ist fraglos ein Dilemma für Nationen mit einem hohen Niveau der Kulturentwicklung.

“Ja, der Soldat in seinem Verhältnis zum Tode, in der Aufgabe der Persönlichkeit für eine Idee, weiß wenig von den Philosophen und ihren Werten. Aber in ihm und seiner Tat äußert sich das Leben ergreifender und tiefer, als je ein Buch es vermöchte. Und immer wieder, trotz allem Widersinn und Wahnsinn des äußeren Geschehens, bleibt ihm eine strahlende Wahrheit: Der Tod für eine Überzeugung ist das höchste Vollbringen. Er ist Bekenntnis, Tat, Erfüllung, Glaube, Liebe, Hoffnung und Ziel; er ist auf dieser unvollkommenen Welt ein Vollkommenes und die Vollendung schlechthin. Dabei ist die Sache nichts und die Überzeugung alles. Mag einer sterben, in einen zweifellosen Irrtum verbohrt; er hat sein Größtes geleistet.  Mag der Flieger des Barbusse tief unter sich zwei gerüstete Heere zu einem Gott um den Sieg ihrer gerechten Sache beten sehen, so heftet sicher eins, wahrscheinlich beide einen Irrtum an seine Fahnen; und doch wird Gott beide zugleich in seinem Wesen umfassen. Der Wahn und die Welt sind eins, und wer für einen Irrtum starb, bleibt doch ein Held.”

Zum Abschluss, also, noch einmal Jünger. Soldaten, deren Leitstern diese “strahlende Wahrheit” ist, jene Angehörigen einer sehr seltenen Art also, können den Prozess der Zivilisation in modernen Gesellschaften nicht aufhalten. Was ihn jedoch aufhalten könnte, sind Leute, die irgendwo an einem sicheren Ort, frei von extremem Stress, mit dem Joystick, der Kriegsroboter steuert, Tod und Vernichtung in ferne Länder tragen und die daher vom Grauen des Krieges mental abgekoppelt sind, weil sie seine Präsenz nicht leibhaftig spüren.

Anmerkungen

(1) Gabriel, R. A. (1988). The Painful Field. The Psychiatric Dimension of Modern War. New York, Westport, Con., London: Greenwood Press
(2) Strukturelle Schädigungen des Hirns infolge von Stress an der Front zeigten sich z. B. in der Untersuchung Bremners: Bremner JD (1999). Does stress damage the brain? Biol Psychiatry. 1999 Apr 1;45(7):797-805
(3) Linder, M. (2004). Creating Post-traumatic Stress Disorder: A Case Study of the History, Sociology, and Politics of Psychiatric Classification. In: Cpalan, P. J. & Cosgrove, L.: Bias in Psychiatric Diagnosis. Lanham: Jason Aronson

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Das leidige Selbstwertgefühl

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Wer mit dem Erreichten zufrieden oder wer sich gar mit einer gewissen Verschlechterung der Lage abzufinden bereit ist, kann kein guter Arbeiter und auch kein guter Konsument sein. Ihm fehlt die Motivation, sich in der Hoffnung auf Lohnsteigerung und Beförderung zu verausgaben oder durch den Erwerb von Luxusgütern hervorzutun. In unserer “Arbeitsgesellschaft” bzw. “Konsumgesellschaft” bemisst sich der Wert eines Menschen vor allem daran, wie viel Geld er mit seiner Arbeit erwirtschaftet (wobei es seltsamerweise auch als Arbeit aufgefasst wird, andere für sich arbeiten zu lassen) und wie viel er sich leisten kann. Selbst wer, ohne tätig zu sein, ostentativ konsumiert (Jetset), geht aus dieser Sicht einer “Arbeit” nach, die seinen Wert steigert.

Das war nicht immer so. Unsere Einstellung zur Arbeit hat sich im Lauf der Jahrhunderte erheblich gewandelt. Mit maximal 200 Arbeitstagen pro Jahr nahm die Arbeit im Mittelalter einen weitaus geringeren Raum in Leben des Menschen ein als in der Neuzeit. Arbeit und Leben bildeten eine untrennbare Einheit. Arbeitsintensität und -dauer waren wesentlich geringer als in späteren Jahrhunderten (6).

Als sich die Pioniere des Kapitalismus mit dem mittelalterlichen Schlendrian konfrontiert sahen, der in ihren frisch vom Lande rekrutierten Arbeitern noch nachwirkte, da rangen sie ihre Hände über ihren Köpfen und in diesen entstanden allerlei mehr oder weniger effektive, mehr oder weniger seltsame Ideen, um den Ehrgeiz des Volkes zu befördern.

Diese Erfindungsgabe war auch bitter notwendig, denn die arbeitenden Menschen wurden in der frühen Neuzeit nicht etwa durch steigenden Lebensstandard zur Steigerung ihrer Arbeitsleistung motiviert. Vielmehr sank ihr Einkommen und es erreichte erst wieder im 19. Jahrhundert den Stand des hohen Mittelalters (7).

Inzwischen waren die Bemühungen kapitalistischer Ideologen insofern recht erfolgreich, als es gelungen ist, bei den meisten, nicht allen, aber bei den meisten Menschen das Selbstwertgefühl an den Konsum zu koppeln – oder genauer: an die Anerkennung, die durch demonstrativen Konsum hervorgerufen wird. Diese Anerkennung kann, darf und soll sich mitunter sogar in Form des Neides ausdrücken.

Wenn wir nun von den wenigen Glücklichen absehen, die nicht arbeiten müssen, weil sie von ihrem Erbe oder erworbenem Vermögen leben können, dann hängt die Höhe des Konsums beim Rest der Menschheit vom Erfolg im Arbeitsleben ab (und dies auch in Form der Rente nach dem Ausscheiden aus diesem).

Ob der Erfolg nun immer auf eigener Leistung oder auf anderen Faktoren beruht, bleibt dahingestellt und ist im vorliegenden Zusammenhang auch unerheblich. Was zählt fürs Selbstwertgefühl, ist der Erfolg. Dabei ist “Erfolg” natürlich relativ und eine Frage der Bewertung und Zuschreibung. Als generelle Tendenz darf aber gelten, dass unser Selbstwertgefühl und das Gefühl, erfolgreich zu sein, sehr eng miteinander korrelieren. Zwar gibt es sehr erfolgreiche Menschen mit einem ausgesprochen niedrigen bekundeten Selbstwertgefühl, doch solche Leute sind wohl ebenso selten wie ausgesprochene Versager, die wähnen, ganz tolle Hechte zu sein.

Wer dauerhaft Misserfolg hat, kann weniger konsumieren und entsprechend leidet sein Selbstwertgefühl. Dies wird als unangenehm empfunden, als quälend – vor allem dann, wenn man im Vergleich mit einer Menschengruppe in ähnlicher Lebenslage schlecht abschneidet. Nun gibt es diverse Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken. Wenn es nicht gelingt, wieder erfolgreicher zu werden, kann man zumindest versuchen, den Misserfolg umzudeuten. Dies entlastet von Schuldgefühlen und hebt die Stimmung.

Man möge mich nicht falsch verstehen: Ein hohes Selbstwertgefühl ist keineswegs die Ursache von Erfolg. In einer Übersichtsarbeit zum Stand der Forschung fanden Baumeister und Mitarbeiter keinerlei Belege für diese These. Allerdings gibt es gute Gründe anzunehmen, dass ein hohes Selbstwertgefühl glücklich macht (8). Und dass der Erfolg geeignet ist, das Selbstwertgefühl zu steigern, muss wohl nicht eigens belegt werden.

In zahllosen Experimenten wurden die Versuche zur Selbstwertregulation durch zweckdienliche Interpretation von Erfolg und Misserfolg untersucht. In einem Experiment ließen die Versuchsleiter die Versuchspersonen in einem wettbewerbsorientierten Spiel Erfolg oder Misserfolg erleben (indem sie die Resultate entsprechend manipulierten). Dabei zeigte sich, dass die “Gewinner” ihren Erfolg eigenen Fähigkeiten zuschrieben, während die “Verlierer” für ihren Misserfolg eher unglückliche Umstände verantwortlich machten. Dabei standen Erfolg und Misserfolg natürlich, durch den Versuchsaufbau bedingt, in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Leistung (1).

Durch solche Kausalattributionen werden die eigenen Konsummöglichkeiten objektiv zwar nicht beeinflusst; dennoch wird dadurch die Verbindung zwischen den eigenen Konsummöglichkeiten und dem eigenen Verhalten bzw. dessen Konsequenzen in selbstwertdienlicher Weise moduliert. Wer Erfolg hat, kann dem Neid der anderen gelassen ins Auge sehen, denn er hat den Erfolg ja auch verdient. Wer versagt, der wurde durch ein böses Geschick um den Lohn gebracht, den er sich, unter günstigeren Sternen, sehr wohl verdient hätte.

Wir sind nun an einem Knoten der Argumentationskette angelangt, an dem wir zwanglos die so genannten psychischen Krankheiten ins Spiel bringen können, oder präziser: diese werden nunmehr, wenn die Entwicklung erst einmal so weit gediehen ist, von den Betroffenen selbst ins Spiel gebracht. Betroffene? Ja. Aber wovon? Von chronischem Misserfolg, natürlich.

Wer die Erfahrung gemacht hat, dass ihm nichts gelingen will, ganz gleich, wie er sich auch, im Rahmen seiner Kräfte, bemüht und was auch immer er anstellt, um die Verhältnisse zu seinen Gunsten zu formen, der ist geneigt, die Umstände zumindest so zu beeinflussen, dass sie eine möglichst selbstwertschonende Erklärung für das eigene Scheitern plausibel erscheinen lassen.

Dieses Verhalten wurde experimentell gründlich erforscht. Man nennt es “Self-handicapping”. So wurde Versuchspersonen beispielsweise erzählt, sie seien Teilnehmer an einer Medikamentenstudie. Sie hätten die Wahl zwischen einen leistungsfördernden und einem leistungshemmenden Medikament. Wenn Versuchspersonen sicher zu wissen glaubten, dass sie bei der sich anschließenden Aufgabe, unabhängig von der Art des Medikaments, scheitern würden, so bevorzugten sie das leistungshemmende Medikament (2).

Die Neigung, die Wirklichkeit umzudeuten oder gar vorauseilend zu manipulieren, um die Selbstachtung bei erwartetem Misserfolg zu schützen, ist menschlich-allzumenschlich. Sie war vermutlich auch schon in vorkapitalistischer Zeit vorhanden. Man darf aber annehmen, dass unser modernes Wirtschaftssystem diese Tendenz erheblich verstärkt.

Im Falle der so genannten Depression, so könnte man argumentieren, versage die Selbstwertregulation. Misserfolge werden von Depressiven in der Regel als selbstverursacht betrachtet, als Ausdruck einer allgemeinen Unfähigkeit gedeutet und als Bestätigung für dauerhaftes Versagen aufgefasst (9). Solche Einschätzungen führen naturgemäß zu einem geringen Selbstwertgefühl. Doch bei genauerem Hinschauen ergibt sich eine Interpretation, die eine durchaus erfolgreiche Selbstwertregulation auch in diesen Fällen nahelegt. Der Depressive sieht sich selbst negativer, um sich daran zu hindern, Pläne zu verwirklichen, bei denen er zu scheitern fürchtet.

Durch ein gesenktes Selbstwertgefühl will er also eine noch schlimmere Verringerung seiner Selbstachtung vermeiden, die sich in Folge eigener Aktivität einstellen könnte. Da zieht er sich lieber “depressiv” in sein Schneckenhaus zurück. Durch die Diagnose einer “psychischen Krankheit” hat er dann auch noch eine Entschuldigung dafür, hinter seinen Möglichkeiten zurückzubleiben. Weil er so furchtbar depressiv ist, kann er, so will er seine Mitwelt und meist auch sich selbst glauben machen, nicht das leisten, wozu er als Gesunder mühelos imstande wäre. Für die Depression könne er aber nichts, diese sei die Folge eines angeborenen Serotoninmangels bzw. einer schweren Traumatisierung in der Kindheit.

Zwar hat Rolf Degen anhand einschlägiger Forschungen gezeigt, das die Selbstachtung generell keinen Einfluss darauf hat, welches Geschick uns im Leben widerfahren wird (4); Richard Bentall zeichnet jedoch ein differenzierteres Bild: Bei Menschen, die als psychisch krank eingestuft wurden, spielt das Selbstwertgefühl durchaus eine bedeutsame Rolle (5). Dass die so genannten Depressiven häufig ein niedriges Selbstwertgefühl haben, ist ja offensichtlich, und Forschungen bestätigen, dass Wahnvorstellungen die Funktion haben können, ein quälend niedriges Selbstwertgefühl zu erhöhen (indem anderen, beispielsweise den Außerirdischen oder den Illuminaten, die Schuld am eigenen Scheitern gibt).

Während also der “Paranoide” sein Selbstwertgefühl auf Kosten einer tragfähigen Realitätsorientierung zu steigern versucht, senkt es der “Depressive”, um in der Realität durch Misserfolgsvermeidung noch schlimmere Selbstwerteinbußen zu verhindern. Es wurde oft beobachtet, dass sich “Depressive” durch eine unterdrückte, passive Feindseligkeit auszeichnen. Der amerikanische Psychiater William Glasser deutet die Depression als unterdrückte Wut (10). Der Betroffene entscheidet sich für die Depression, weil er sich vor den Konsequenzen ausgelebter Wut fürchtet. Diese Auffassung lässt sich mühelos in meine Interpretation der Rolle des Selbstwertgefühls im Ursachenbündel der “Depression” integrieren.

Eine “psychische Krankheit” ist ohne Zweifel ein Handicap. Dieses Handicap eignet sich hervorragend für das Self-handicapping. Erstens ist man als “Erkrankter” nämlich Opfer eines physischen Prozesses oder einer frühkindlichen Traumatisierung, also einer Krankheit bzw. Behinderung, die sich der eigenen Kontrolle (weitgehend) entzieht und zweitens muss man evtl. sogar Medikamente schlucken, deren Nebenwirkungen im Allgemeinen die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen.

Diese Strategie vermag aber nur dann das Selbstwertgefühl zu schützen, wenn man selbst daran glaubt, krank zu sein. Zwar beeinträchtigt eine “psychische Krankheit” ebenfalls das Selbstwertgefühl, aber wenn man gezwungen wäre, die Verantwortung für chronisches Scheitern auf die eigene Kappe zu nehmen, dann hätte dies noch viel desaströsere Folgen für die Selbstachtung.

Das Versagen ist leichter zu ertragen, wenn man es auf einen Schicksalsschlag, eine Krankheit zurückführen kann. Die Erklärungsalternativen wären ja beispielsweise Faulheit, mangelnde Cleverness, fehlendes Durchhaltevermögen und ähnliche, höchst abwertende Attribute.

Die generelle, zweifellos stark vereinfachte Formel, lautet also: Durch die Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken” versucht der “Erkrankte”, sich vor einer größeren Einbuße an Selbstachtung, die sich mutmaßlich ohne “Krankheit” einstellen würde, zu schützen. Er wählt also, wie jeder Mensch, unter den gebotenen Alternativen jene aus, die ihm die beste zu sein scheint. Er mag sich dabei natürlich täuschen, und vielleicht ist die Rolle des “psychisch Kranken” objektiv ja gar nicht die beste Möglichkeit zur Optimierung der Selbstwertregulation. Doch das spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass der Betroffene glaubt, durch seine “Erkrankung” weniger unglücklich zu sein als ohne diese.

  • Selbstverständlich nagt die Diskriminierung durch die Diagnose “Schizophrenie” an der Selbstachtung des “Paranoiden”, aber ohne seine Paranoia müsste er sich für sein Versagen im Leben selbst verantwortlich fühlen und könnte die Schuld nicht bösen Verfolgern in die Schuhe schieben.
  • Der “Depressive” zeigt aller Welt durch sein Verhalten, wie wenig er von sich selber hält, aber ohne seine Depression müsste hinaus ins Leben, mit der Gefahr des Versagens, verbunden mit einer noch größeren Senkung seines Selbstwertgefühls.
  • Ein Mensch mit einer “Borderline-Persönlichkeitsstörung” kann eine Beziehungskrise dadurch bewältigen, dass er den zuvor vergötterten Partner nunmehr verteufelt. Dies wird seine Selbstachtung zwar belasten, denn seine Mitwelt wird ihm wegen dieser willkürlichen Ungerechtigkeit zusetzen. Aber was wäre, wenn er ohne seine “Störung” dem eigenen Versagen in der Beziehung ins Auge blicken müsste?

Man kann diesen Gedanken anhand aller erdenklichen so genannten psychischen Krankheiten durchdeklinieren; man wird mühelos Strategien erkennen, wie der Betroffene versucht, so viel wie möglich von seinem Selbstwertgefühl zu retten, denn diese Rettung bedeutet Glück oder zumindest weniger Unglück. Es ist nicht erforderlich, dass der Betroffenen seine “Strategie” bewusst reflektiert und sie nach sorgsamer Erwägung aller Vor- und Nachteile anwendet. Im Gegenteil: Je weniger er davon weiß, je stärker er davon überzeugt ist, “psychisch krank” zu sein, desto effektiver ist die Strategie.

Der hier skizzierte Mechanismus ist im Übrigen nicht nur ein Erklärungsmodell für “psychische Krankheiten” bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern, denn der Leistungsdruck setzt heutzutage ja bereits im Kindergarten ein.

Es ist wohl nicht allzu weit hergeholt, wenn man die Psychiatrie als Komplizin des Self-handicapping begreift oder sogar als Anstifterin dazu. Denn die (empirisch haltlose, aber dennoch vehement verfochtene) Theorie der biologischen (oder alternativ dazu traumatischen) Ursachen “psychischer Krankheiten” trägt ebenso zur Selbstentlastung der “Patienten” bei wie alle wohlmeinenden Bemühungen der Psychiatrie, die Entstigmatisierung “psychischer Krankheiten” voranzutreiben. Entstigmatisierung bedeutet im Klartext ja, Bedrohungen des Selbstwertgefühls zu vermindern, die mit dem Spielen der Rolle des “psychisch Kranken” verbunden sind.

Forscher haben einen Fragebogen zur Messung der Tendenz zum Self-Handicapping entwickelt und siehe da: Diese Neigung korreliert hoch mit der Hypochondrie. (3) Wer hätte das gedacht?

Nun mag man einwenden, dass oben skizzierte Theorie zwar zu erklären vermag, warum Menschen “psychisch krank” werden, nicht aber, warum sie dieses oder jenes “Syndrom” entwickeln. Hier handelt es sich im Übrigen um einen Prüfstein für alle Theorien der Ursachen psychischer Krankheiten (mit Ausnahme derjenigen, die meinen, ein Mensch ziehe seine “psychische Krankheit” in einer Gen-Lotterie).

Die Fragen der “Krankheitswahl” wird sich vermutlich, wenn überhaupt, nur von Fall zu Fall beantworten lassen. Nicht immer sind die Zusammenhänge so deutlich wie bei einem Soldaten, der an der Front zum Kriegszitterer wird, weil er so vermeiden kann, beim nächsten Mal wieder zu versagen, wenn es gilt, auf Menschen zu schießen. Es ist durchaus denkbar, dass die “Symptome” einer “psychischen Krankheit” nicht in einer direkten Beziehung zu den Anforderungen stehen, die es zu vermeiden gilt (weil man Misserfolg fürchtet), sondern nur in einer indirekten oder gar symbolischen. Es kann auch sein, dass der Betroffene einen Menschen aus seinem Erfahrungskreis imitiert, der zuvor bereits erfolgreich mit einer bestimmten “psychischen Krankheit” einer Misserfolgserfahrung ausgewichen ist. Nicht selten dürften die Vorlieben des diagnostizierenden Psychiaters für die Art der “psychischen Krankheit” verantwortlich sein. Ganz zu schweigen von den Einflüssen der Mode. Ach, wie viele wurden doch “multiple Persönlichkeiten”, als dies gerade en vogue war. Nach meiner Theorie müsste es eine Tendenz zur Bevorzugung “psychischer Krankheiten” geben, die mit einer geringeren Stigmatisierung verbunden sind.

Falls meine Theorie zutreffen sollte, so ließe sich die Behandlung “psychischer Krankheiten” deutlich vereinfachen. Durch diese Behandlung würden zwar die gesellschaftlichen Ursachen nicht beseitigt: aber dennoch entfiele die Notwendigkeit zum Self-handicapping. Mein Behandlungsvorschlag kommt ohne Psychiater, Pillen und Psychotherapie aus. Er beruht auf Einsicht. Zur Einsicht gelangt man letztlich nur allein oder überhaupt nicht. Es handelt sich also um eine Selbstbehandlung.

Und die geht so:

  1. Schritt: Der Mensch tut, was er tut, weil er ist, was er ist.
  2. Schritt: Der Mensch ist nur insofern für das verantwortlich, was er tut, wie er das, was er ist, beeinflussen kann.
  3. Schritt: Was der Mensch ist, hängt von Erbanlagen, Umwelteinflüssen und Entscheidungen während seiner gesamten Lebensgeschichte ab.
  4. Schritt: Seine Erbanlagen kann niemand beeinflussen.
  5. Schritt: Unser Einfluss auf die Umwelt ist denkbar gering, vor allem dann, wenn wir nicht zu den Reichen und Mächtigen zählen. Außerdem kann man die Vergangenheit ohnehin nicht mehr ändern, ganz gleich, wie viel Geld und Macht man hat.
  6. Schritt: Erfolg und Misserfolg hängen also nur zu einen sehr, sehr kleinen Teil von Faktoren ab, die wir selbst in der Hand haben.
  7. Schritt: Während unser Einfluss auf unsere Umwelt gering ist, können wir uns selbst, also unsere Innenwelt, unter den objektiv gegebenen Bedingungen, maximal steuern. Wir können entscheiden, was wir als Ursache von Erfolg und Misserfolg betrachten und wie wichtig wir diese Dinge nehmen wollen.
  8. Schritt: Es ist also absurd, Misserfolge überwiegend auf schuldhaftes Versagen zurückzuführen, also auf Gründe, für die wir uns schämen und uns selbst bestrafen müssten. Ebenso absurd ist es, Erfolge als Bestätigung eigener Grandiosität aufzufassen.
  9. Schritt: Deswegen ist es auch nicht gerechtfertigt, unser Selbstwertgefühl von Erfolg und Misserfolg abhängig zu machen.
  10. Schritt: Und so ist es ebenfalls letztlich sinnlos, Self-handicapping zu betreiben, um Misserfolge selbstwertschonend erklären zu können.
  11. Schritt: Wenn man schon meint, man müsse sich mit einer “psychischen Krankheit” für Misserfolge im Leben rechtfertigen, dann gibt es jedenfalls keinen vernünftigen Grund dafür, selbst davon überzeugt zu sein. Damit kann man Leute täuschen, die blöd genug sind, diesen Quatsch zu glauben, aber man selbst weiß es schließlich, dank der Schritte 1 bis 10, nun wirklich besser.
  12. Schritt, Fazit: Wir selbst entscheiden, ob wir psychisch krank sein wollen oder nicht.

“Psychisch Kranke” sind irre. Klar. Sie befinden sich in einem Irrtum. Durch die Schritte 1 – 12 kann man den Irrtum überwinden und hat auch noch die Handhabe, um Blöde an der Nase herumzuführen, wenn einem danach ist.

Trotz aller objektiven Beschränkungen, können wir unsere Umwelt teilweise durchaus  ändern, zumindest ein bisschen, selbst wenn sich das Große und Ganze unserem Einfluss entzieht. Zumindest können wir es versuchen. Ich plädiere also nicht für Fatalismus, sondern für heroisches Scheitern.

In London lebt eine alte Dame, Dorothy Rowe, sie ist über 80. Eine Psychologin, aber eine der besonderen Sorte.

Sie sagt:

“We allow ourselves to be persuaded that we have some new medical or psychiatric illness, syndrome or disorder because thinking about ourselves in this way allows us to avoid taking responsibility for ourselves. If your scales tell you that for your weight you need to be five inches taller, instead of saying to yourself, ‘I’d better cut down the amount I eat,’ you can say, ‘It’s my metabolism. My body just doesn’t burn up the calories as it should.’ If you find that you’re getting increasingly afraid of attending social functions, instead of saying to yourself, ‘I must face up to this and do the commonsense things necessary to get over this,’ you can tell family and friends, ‘I can’t go to social functions. I have Social Phobia Disorder.’

Thus you play into the hands of those people who gain enormously from the medicalisation of our lives. Doctors are now experts on an immense range of new diseases. Psychiatrists create mental disorders out of the usual trials and tribulations of life. All these disorders are listed in the Diagnostic and Statistical Manual (DSM). You’re in it. Mourn the death of a loved one, and you have Bereavement Disorder. Worry about your exams, and you have Academic Disorder. In the list of Personality Disorders you’ll find everyone you know, including yourself, probably under ‘Personality Disorder Not Yet Specified’.” (Quelle)

Ja, in der Tat. Wenn wir irgendetwas nicht schaffen, was wir erreichen möchten, dann sollten wir die notwendigen “commonsense things” unternehmen, um die Sache in den Griff zu kriegen, und wenn das nicht gelingt, dann ist es eben Schicksal, und keine “psychische Krankheit”.

Menschen, die sich als “psychisch krank” empfinden, sind immer unglücklich. Noch nie in meinem schon recht langen Leben ist mir ein “psychisch Kranker” begegnet, der nicht unglücklich gewesen wäre. Man hat oft den Eindruck, als sei es die wichtigste Bestimmung dieser Menschen im Leben, unglücklich zu sein, ja, Unglück, tiefstes Unglück auszustrahlen. In dieser Ausprägung beobachtet man so etwas nicht bei körperlich Kranken, es sei denn bei solchen, die zusätzlich “psychisch krank” sind. Man ist instinktiv geneigt anzunehmen, dass sie dieses Unglück nicht wollen können, dass sie sich nicht dazu entschieden haben. Und doch, bei genauerem Hinsehen, scheint genau dies der Fall zu sein: Die Menschen entscheiden sich dazu, die Rolle des Unglücklichen, die Rolle des “psychisch Kranken” einzunehmen, um noch größeres Unglück zu vermeiden, das sie ohne ihre “Krankheit” zu erleiden befürchten.

Es geht aber auch andersherum: “Glück ist ein Entschluss!”, sagt René Descartes.

Anmerkungen

(1) Snyder, M. L. et al. (1976). Egotism and Attribution. Journal of Personality and Social Psychology, 33, 435-441
(2) Berglas, S. & Jones, E. E. (1978). Drug choice as a self-handicapping strategy in response to noncontingent success. Journal of Personality and Social Psychology, 36, 405 – 417
(3) Smith, T.W., Snyder, C.R., & Perkins, S.C. (1983). The self-serving function of hypochondriacal complaints: Physical symptoms as self-handicapping strategies. Journal of Personality and Social Psychology, 44, 787–797.
(4) Degen, R (2000). Lexikon der Psycho-Irrtümer. Warum der Mensch sich nicht therapieren, erziehen und beeinflussen lässt. Frankfurt/Main:  Eichborn Verlag
(5) Bentall, R. P. (2003) Madness Explained: Psychosis and Human Nature London: Penguin Books Ltd
(6) Baerwald, M. & Domack, K. (2004). Work-Life-Balance – eine kritische Betrachtung – Leben wir um zu arbeiten oder arbeiten wir um zu leben? Norderstedt: GRIN Verlag, Seite 89
(7) Kurz, R. (1999). Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft. Frankfurt a. M.: Eichborn Verlag’
(8) Baumeister, R. F. et al. (2003). Does high self-esteem cause better performance, interpersonal success, happiness or helthier lifestyles? Psychological Science in the Public Interest, (4), 1
(9) Peterson, C.; Maier, S. F.; Seligman, M. E. P. (1995). Learned Helplessness: A Theory for the Age of Personal Control. New York: Oxford University Press
(10) Glasser, W. (1999). Choice Theory. New York: Harper Perennial

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Ist der Mensch ein Produkt seiner Umwelt, seiner Gene oder ..?

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Umwelt

Vor etwa 3200 Jahren erreichten Angehörige einer Gruppe von Völkern, die auf dem Bismarck-Archipel nördlich Neu-Guineas lebten, die ihren Lebensunterhalt durch Landwirtschaft und Fischerei erwarben und die bereits die Seefahrt beherrschten, mit ihren Booten einige der Inseln Polynesiens und besiedelten sie.

Polynesien besteht aus Tausenden von Inseln, die über den pazifischen Ozean verstreut sind. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Größe, ihrer Isolation, ihrer Entwicklungsmöglichkeiten, ihres Klimas, ihrer Produktivität sowie ihrer geologischen und biologischen Ressourcen erheblich. Es gibt karge Eilande, die kaum menschliches Leben gestatten, und Inseln mit hervorragenden Bedingungen, die vielfältige wirtschaftliche Aktivitäten erlauben.

Ab etwa 1200 vor Christus also erfolgte die Besiedlung der meisten dieser Inseln, sofern bewohnbar, durch eine kleine Gruppe von Menschen mit verwandtem genetischen Hintergrund. Die Kolonisierung war 500 n. Chr. weitgehend abgeschlossen. In dieser, historisch betrachtet, kurzen Zeit entwickelten die Nachfahren dieser genetisch eng verwandten Pioniere die unterschiedlichsten Gesellschaftsformationen: von Jäger- und Sammlergesellschaften bis hin zu komplexen Monarchien auf vergleichsweise hohem technischen Niveau.

Welche Entwicklungslinie eine Gesellschaft nahm, hing eindeutig eng mit den bereits genannten Faktoren, also mit den Lebensbedingungen der Inseln zusammen, die diese Völker beheimateten (1, 1a).

Diese Entwicklung lässt sich aus Sicht des amerikanischen Universalgelehrten Jared Mason Diamond verallgemeinern. Die Völker unterscheiden sich hinsichtlich ihres Wohlstandes, ihrer Kultur und Gesellschaftsordnung nicht etwa wegen ihrer Erbanlagen, sondern aufgrund der unterschiedlichen Lebensbedingungen auf diesem Planeten.

Polynesien zeigt dies besonders deutlich, weil die Besiedlung über einen, historisch betrachtet, relativ kurzen Zeitraum erfolgte und weil sich der gemeinsame genetische Ursprung der Kolonisten nachweisen lässt. Die Kolonisten hatten auf den einzelnen Inseln teilweise höchst unterschiedliche Startbedingungen – und die hoch entwickelten Gesellschaften waren den primitiven nicht deswegen “überlegen”, weil sie, genetisch bedingt, aus klügeren und tüchtigeren Individuen bestanden, sondern weil sie bessere Startbedingungen hatten, auf deren Grundlage sie sich weiterentwickeln konnten.

Auf manchen Inseln waren die Lebensbedingungen so karg, dass die ursprünglichen Bauern und Fischer des Bismarck-Archipels sich dort zu Jägern und Sammlern zurückentwickeln mussten, wohingegen die natürlichen Gegebenheiten auf anderen Inseln so vorteilhaft waren, dass aufgrund der erwirtschafteten Überschüsse eine Kaste von Priestern und Adeligen ernährt werden konnte.

Die Besiedlung Polynesiens ist ein Paradebeispiel für die These, dass der Mensch ein Produkt seiner Umwelt sei. Hier zeigt sich, nachgerade wie in einem historischen Laboratorium, wie sich die Umweltbedingungen auf die Entwicklung von Ethnien auswirken. Doch Vergleichbares ereignete sich überall in der Welt, auch wenn es nicht überall in dieser Eindeutigkeit und Klarheit ans Licht trat.

Gene

Aus meiner Sicht sprechen gute Gründe dafür, dass die von Diamond herausgearbeitete Gesetzmäßigkeit nicht nur auf Unterschiede zwischen Ethnien, sondern auch auf Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Klassen bzw. Schichten und sogar auf Unterschiede zwischen Individuen zutrifft. Genetische Unterschiede zwischen Individuen, die sich auf das Verhalten und Erleben auswirken, will ich nicht bestreiten, allein, die sozialen und ökonomischen Determinanten können den genetischen Effekt annullieren.

So mag beispielsweise ein Kind aus einer Unterschichtsfamilie mit einem kleinkriminellen und alkoholabhängigen Vater und einer Mutter, die sich prostituiert, so klug und so fleißig sein, wie man es sich nur wünschen kann -: gegen einen durchschnittlichen Altersgenossen aus einer behütenden Mittelschichtsfamilie hat es in aller Regel keine Chancen. Dieses unter günstigen Bedingungen aufwachsende Kind hat auf der Karriereleiter einen sozial bedingten Vorsprung, der zumeist nicht mehr aufzuholen ist. Die Gegenbeispiele, von denen die Zeitungen gelegentlich berichten, sind die Ausnahme, und wären sie nicht die Ausnahme, dann würden die Zeitungen nicht über sie berichten.

Es gibt nicht die Spur eines Beweises dafür, dass die so genannten psychischen Störungen (also bestimmte Abweichungen von sozialen Normen oder den Erwartungen von Mitmenschen) angeboren oder durch genetische Faktoren mitbedingt sind. Diese Behauptung widerspricht zwar landläufiger Meinung; sie stimmt dennoch uneingeschränkt mit dem Stand der empirischen Forschung überein. Der amerikanische Psychologe, Psychotherapeut und Spezialist für Verhaltensgenetik Jay Joseph hat die bisherige Erfolglosigkeit dieses Forschungszweigs in einer umfassenden und repräsentativen Dokumentation einschlägiger empirischer Untersuchungen akribisch dokumentiert (4).

Dies bedeutet nicht, dass genetische Ursachen angesichts des Forschungsstandes ausgeschlossen sind, sondern nur, dass sie trotz jahrzehntelanger Forschung nicht gefunden wurden. Es handelt sich hier nicht nur um ein akademisches Problem, über das man achselzuckend hinweggehen könnte. Denn der psychiatrisch-pharmaindustrielle Komplex wird nicht müde, den Mythos genetischer Ursachen psychischer Störungen zu propagieren.

Die einschlägig tätigen Genetiker werden den desaströsen Zustand ihres Spezialgebietes nicht gern einräumen, da Forschungsgelder auf dem Spiel stehen. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Zwillingsforschung an erheblichen methodischen Mängeln krankt und dass sich die Resultate der “Genome-wide Association Studies” in aller Regel nicht replizieren lassen.

Die Auswirkungen dieses Mythos sind verheerend.

Wer an genetische Ursachen glaubt,

  • nimmt psychische Störungen als gravierender wahr
  • neigt zu der Auffassung, dass sie den Betroffenen vermutlich ein Leben lang begleiten werden
  • befürchtet, dass die Geschwister der Person ähnliche Probleme entwickeln
  • hält es für wahrscheinlich, dass die Kinder des “Erkrankten” ebenfalls an dieser Störung leiden (werden)
  • und hält tendenziell einen größeren sozialen Abstand zu den Betroffenen

als Menschen, die nicht von diesem Mythos infiziert sind (5).

Die Infektion mit diesem Mythos scheint offenbar vielfach auch das kritische Denken zu beeinträchtigen. Wie oft hört man doch, dass schließlich bestimmte “psychische Krankheiten” in Familien gehäuft auftreten würden. Dies spräche für genetische Ursachen. Wer kurz durchatmet und nachdenkt, müsste allerdings erkennen, dass eine andere Erklärung zumindest ebenso plausibel ist. Kinder neigen dazu, ihre Eltern zu imitieren; diese sind, im Guten wie im Schlechten, Vorbilder.

Aus sozialpsychologischen Experimenten wissen wir, dass Menschen dazu neigen, die persönliche Ursachen menschlichen Verhaltens gegenüber den situativen überzubewerten. Diese Tendenz ist besonders ausgeprägt, wenn es gilt, das Verhalten anderer Menschen zu beurteilen. Mitunter neigen wir sogar dann dazu, dem Handelnden die Schuld zu geben, wenn die situativen Einschränkungen seines Handelns offensichtlich sind (6).

Zu den persönlichen Ursachen, die menschlichem Verhalten zugeschrieben werden, zählen natürlich nicht nur genetische Faktoren, sondern auch soziale Einflussgrößen wie Erziehung oder auch Traumatisierung in Kindheit und Jugend. Wie auch immer: Ohne diesen “fundamental attribution error”, diese menschlich-allzumenschliche Neigung zur Fehlattribution, hätte das Konzept der “psychischen Krankheiten” vermutlich niemals eine Chance gehabt, sich in der Bevölkerung durchzusetzen.

Es ist natürlich kein fundamentaler Attribuierungsfehler, wenn wir persönliche Gründe für ein Verhalten annehmen; vielmehr besteht er darin, äußere Gründe als Einflussfaktoren auszuschließen oder gering zu schätzen. So ist es beispielsweise durchaus richtig anzunehmen, dass sich Menschen dazu entscheiden, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen; unzulässig aber wäre die These, dass die Umstände bei dieser Entscheidung keine Rolle spielen würden.

Es versteht sich von selbst, dass auf Ursachenzuschreibungen eine Vielzahl von Determinanten einwirken und dass sich deswegen der “fundamental attribution error” nicht immer in unverminderter Stärke auswirkt. Ein Faktor, der die Neigung zur Fehlattribution verstärkt, ist natürlich der Individualismus, der schlicht und eingängig durch den Slogan “Jeder ist seines Glückes Schmied” charakterisiert wird.

Das Zusammenwirken von Fehlattribuierung und Individualismus dürfte auch einer der Gründe dafür sein, dass mit dem Siegeszug des Neoliberalismus in den Industriestaaten auch die Häufigkeit der “psychischen Erkrankungen” zu steigen scheint. Die Betroffenen und vor allem deren Mitmenschen sind in immer stärkerem Maß geneigt, Problemen des Verhaltens und Erlebens persönliche Ursachen zuzuschreiben. Der Einfluss von Umweltfaktoren wird ignoriert, obwohl er offensichtlich ist.

Dabei spielt es keine Rolle, ob man nun die “psychischen Krankheiten” auf eine biologische Ursache oder auf Traumatisierung zurückführt. In beiden Fällen wird die Ursache in Prozessen gesehen, die im Individuum ablaufen. Ob man nun glaubt, diese Prozesse seien durch die Gene oder frühkindliche Erfahrungen hervorgerufen worden, spielt für das Grundsätzliche keine Rolle: Die Bedeutung der aktuellen Lebenssituation, die in gesellschaftlichen Verhältnissen wurzelt, für das Verhalten des Betroffenen wird verkannt oder heruntergespielt.

Mäuse wuselten wie wild in ihren Käfigen herum und soffen Zuckerwasser, als ob sie sich keine Sorgen um ihre Figur machen müssten. Sie gingen extreme Risiken ein und verhielten sich auch sonst so, wie die Versuchsleiter sich einen manischen Menschen vorstellten. Doch nicht nur dies qualifizierte sie zu Models. Diese Mäuse waren zudem so genannte Knockout-Mäuse. Man hatte an ihrem Genom herumgefummelt. Ein Gen war ausgeschaltet worden, das NCAN-Gen. Dieses Gen steht in Verdacht, beim der “bipolaren Störung” eine Rolle zu spielen, und zwar bei den manischen Phasen. Die Tiere waren also “Mouse-Models of Mental Illness”.

Die Wissenschaftler gaben den aufgeregten Mäusen nunmehr Lithium. Lithium ist ein Medikament, dass kurzfristig manische “Symptome” abwürgt, aber langfristig ineffektiv ist und mit vielen Folgeschäden verbunden sein kann (7). Und siehe da: Die Mäuse wurden ruhig, als ob sie Maniker wären und zum ersten Mal Lithium erhalten hätten. Wenn das nicht eine Pressemeldung wert ist! Und so geschah es auch. Die Forscher schickten ein Communiqué in die Welt hinaus. Darin stand, sie hätten herausgefunden, das NCAN-Gen korreliere mit manischen Symptomen bei Menschen und Mäusen.

Weltweit erscheinen nunmehr Zeitungsberichte, die diesen Durchbruch der Wissenschaft würdigen. So berichtete beispielsweise auch die “Welt” am 02. 09. 2012 unter dem Titel “Forscher entschlüsseln das Gen für Manie” darüber. Es genügt, diesen Bericht zu lesen, denn die Berichte in anderen Medien, die ich bisher zur Kenntnis genommen habe, entsprechen dem Artikel aus der “Welt” weitgehend. Eigene Recherchen sind heutzutage in den Mainstream-Medien nicht mehr üblich.

Manisches Verhalten kommt am häufigsten in Verbindung mit Depressionen vor. Man nennt diese Kombination “bipolare Störung”. Es gibt zwei Varianten, jene mit der ausgeprägteren Manie wird als “bipolare Störung I” bezeichnet.

Die Konkordanzrate der “bipolaren Störung I” bei eineiigen Zwillingen beträgt 0,43. (8) Die Konkordanzrate ist ein Maß der Übereinstimmung zwischen Zwillingen hinsichtlich eines Merkmals. Die Forschung zeigt, dass bei der “bipolaren Störung I” Umweltfaktoren einen erheblichen Einfluss haben. Sonst müsste ja, wenn ein Zwilling bipolar ist, auch der andere gestört sein. Davon ist eine Konkordanzrate von 0,43 aber weit entfernt.

Die Konkordanzrate wurde im Übrigen bei Zwillingspaaren ermittelt, die gemeinsam aufwuchsen. Daher könnte ein Teil der Übereinstimmung auch auf Umweltfaktoren zurückzuführen sein, da Eltern und andere Mitmenschen eineiige Zwillingen nun einmal gleichförmiger behandeln als zweieiige. Dies beschränkt sich nicht nur auf die Neigung, ihnen dieselben Kleidungsstücke anzuziehen, wenn sie klein sind.

Eine sinnvolle Schätzung der Erblichkeit ist nur möglich, wenn eineiige Zwillinge, die nach der Geburt getrennt wurden und in unterschiedlichen Milieus aufwuchsen, in die Untersuchung einbezogen wurden. Die Konkordanzrate von 0,43 verführt also vermutlich eine Überschätzung des Erbeinflusses.

Nehmen wir dennoch einmal an, es gäbe dieses Manie-Gen tatsächlich und dieses Manie-Gen hätte, wie die Autoren der Mäuse-Studie behaupten, einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung einer bipolaren Störung.

Wie ist es dann möglich, dass sich Leute nicht selten von ihrer Manie verabschieden, beispielsweise nach einer Psychotherapie, nach Einnahme eines Placebos, nachdem sie einen Ehepartner gefunden oder eine Scheidung hinter sich gebracht haben usw? All dies sind Umweltereignisse. Sind diese etwa in der Lage, defekte Erbanlagen zu korrigieren?

Wenn man nun annimmt, dass Erbeinflüsse durch Umweltfaktoren (wie beispielsweise eine Psychotherapie) ausgeschaltet werden können, dann wird man wohl auch einräumen müssen, dass sie durch Umweltfaktoren eingeschaltet werden können.

Wie auch immer: Was hier zur “bipolaren Störung” gesagt wurde, gilt für alle anderen “psychischen Störungen” gleichermaßen. Und darüber hinaus: Es trifft auf alle Formen des Verhaltens und Erlebens zu.

Interaktionen von Anlage und Umwelt

Nehmen wir einmal an, ein Mensch habe ein angeborenes Talent zum Klavierspielen. Ein solch begabter Zeitgenosse hat mit Sicherheit ein erhöhtes “Risiko”, eines Tages professioneller Pianist zu werden, um dann unter all den Unwägbarkeiten eines Künstlerlebens zu leiden, verbunden auch mit dem Zwang, viele Stunden am Tag zu üben, zu üben und nochmals zu üben.

Es ist aber keineswegs sicher, dass sich dieser Mensch der Musik verschreibt. Er könnte beispielsweise auch Rechtsanwalt, Arzt, Psychiater oder Drogenhändler werden. Für die Gene gilt, was die Astrologie fälschlicherweise über die Sterne behauptet: Was das Verhalten und Erleben betrifft, machen die Gene geneigt, aber sie zwingen nicht.

Menschen mit einem angeborenen Talent zur Manie, zum Wahn, zur Halluzination, zur Traurigkeit oder Ängstlichkeit müssen deswegen nicht zu Schauspielern werden, die sich – vorübergehend oder gar auf Dauer – als “psychisch Kranke” inszenieren.

Wir sehen also: Selbst wenn genetische Einflüsse bei den Phänomenen, die von der Psychiatrie als “Symptome psychischer Krankheiten” missdeutet werden, eine Rolle spielen sollten, so können sich diese Einflüsse nur unter entsprechenden Umweltbedingungen Geltung verschaffen.

Der Neurobiologe Steven P. Rose (Professor an der University of London) schreibt, dass Organismen und ihre Umwelten einander durchdringen. Umwelten wählen Organismen aus und Organismen wählen Umwelten aus. Organismen und Umwelten verändern sich und einander beständig. “Both ‘genomes’ and ‘enviromes’ are abstractions from this continuous dialectic.”

Daraus folge, dass wir die Zukunft des Menschen nicht vorherzusagen in der Lage wären. Wir könnten nur auf die jeweils herrschenden Bedingungen reagieren. Individuen und Kollektive könnten durchaus ihre eigene Zukunft konstruieren, wobei wir uns die Umstände, unter denen dies geschieht, allerdings nicht aussuchen könnten.

Zwar lägen alle Aspekte des Lebens in den Genen, aber dies bedeute zweierlei: Einerseits gebe es eine “Lebenslinie”, die relativ unbeeinflussbar sei durch Umwelteinflüsse, andererseits aber seien wir auch in der Lage, flexibel auf unvorhersehbare Umwelteinflüsse zu reagieren. Der Lebensprozess sei selbstorganisierend. Daher mache uns unsere Biologie frei. (9)

Dies sollten Menschen, die als “bipolar” oder “manisch” diagnostiziert wurden, sorgsam bedenken, bevor sie sich dazu entscheiden, Knockout-Mäuse als Modelle ihres Lebens zu betrachten. Bei Mäusen kann man zwar Rastlosigkeit und innere Unruhe beobachten, aber andere “Symptome” der menschlichen Manie wie Ideenflucht, Kritiklosigkeit, Realitätsverlust und Größenwahn doch wohl eher nicht.

Falls Menschen, die als bipolar oder manisch diagnostiziert wurden, sich dennoch für das Mäusemodell entscheiden, sollten sie zumindest versuchen, sich bei ihren Psychisch-krank-Inszenierungen in den Grenzen des Mäusemöglichen zu bewegen. Sie würden damit auch der Forschung helfen, die ja auf möglichst realitätsnahe Modelle angewiesen ist.

Wie bereits erwähnt, mag es genetisch bedingte Unterschiede der Intelligenz, des Fleißes oder anderer Aspekte des menschlichen Verhaltens und Erlebens geben; dies halte ich für durchaus wahrscheinlich; allein sie geben nicht den Ausschlag, weil die nackten, manchmal brutalen, mitunter wunderbaren Tatsachen des Lebens sich letztlich durchsetzen.

Und so ist es auch nicht erstaunlich, dass wir in den Chefetagen der großen Unternehmen überwiegend, ja, fast ausschließlich Führungskräfte finden, die der Oberschicht oder der gehobenen Mittelschicht entstammen, wie der Soziologe und Eliteforscher Michael Hartmann überzeugend nachwies.

Dass solche Einsichten vielen Leuten sauer aufstoßen, kann ich mir gut vorstellen – denn sie widersprechen den Ideologien fundamental, die den meisten von uns in der Familie, in der Schule und, sofern eine solche absolviert wurde, an der Universität eingeimpft wurden. Auch die Medien sind voll von solchen Märchen, nach denen jeder seines Glückes Schmied sei. Doch die allermeisten von uns besitzen gar nicht den Hammer, den Amboss und die Werkstatt für derlei Schmiedearbeiten. Dies zu erwähnen, vergessen die Ideologen nur zu gern.

Ich habe schon mit Rassisten gesprochen, die sich aufrichtig darüber wunderten, warum Neger mit ihrem (angeblichen) Durchschnitts-IQ von 70 in ihrem angestammten Kral so gut über die Runden kämen. Sie kommen nicht nur gut über die Runden, sondern sie nehmen ihre Umwelt sogar viel differenzierter und cleverer wahr als unser ideologisch vernagelter Rassist, der dem Neger intelligenzmäßig das Wasser nicht zu reichen vermag.

Dies liegt auch daran, dass unser Wohlstandsrassist abends vor dem verdummenden Fernsehgerät hockt oder die Blödzeitung studiert, von Kindesbeinen an, wohingegen der Neger in seinem Kral sich schon als Kind aktiv darüber Gedanken machen muss, wie er sich seine Lebensmittel verschaffen und dazu noch ein bisschen Spaß haben kann.

Kurz: Schwierige Lebensumstände zwingen, im Gegensatz zu verwöhnenden, dazu, seine Intelligenz beständig zu schärfen. Daran ändert auch die tendenzielle Überlegenheit von Menschen aus Industriestaaten beim Lösen von Problemen, die auf die Erfahrungswelt und die Motivation dieser Leute zugeschnitten sind, nicht das Allergeringste. Dies gilt selbstverständlich auch für den Intelligenztest, der sogar in seinen angeblich kulturunabhängigen (“culture-fair”) Varianten alles andere ist als dies. Man kann sich dies leicht klarmachen, wenn sich fragt, ob beispielsweise die Intelligenztestwerte von Leuten aus kompetitiven mit denen von Leuten aus nicht-kompetitiven Gesellschaften tatsächlich vergleichbar sind, selbst wenn sie, was die Aufgaben betrifft, “culture-fair” konstruiert wurden. Wer auf Konkurrenzkampf geeicht ist, wird einen Intelligenztest wesentlich motivierter bewältigen als ein Mensch, der sich gegenüber anderen nicht hervorheben möchte.

Eine amerikanische Studie untersuchte den Zusammenhang zwischen der Schichtzugehörigkeit und der Leistung von Studenten in Prüfungen. Es ging hier um den Einfluss der Furcht von Studenten aus der Unterschicht, sie könnten das negative Stereotyp bestätigen, das mit ihrer Schichtzugehörigkeit verbunden ist.

Es zeigte sich, dass Studenten aus der Unterschicht deutlich schlechtere Leistungen bei den Testaufgaben erbrachten,

  • wenn ihre Schichtzugehörigkeit vor der Prüfung bekanntgegeben wurde (a)
  • oder wenn man ihnen suggerierte, als handele sich um einen Intelligenztest (b),

als unter weniger belastenden Bedingungen.

Das niedrigste Niveau erreichten die Versuchspersonen aus der Unterschicht, wenn die beiden oben genannten Faktoren (a und b) gleichzeitig auf ihre Leistung einwirkten (2).

Diese Studie widerspricht also der Annahme, erbliche Intelligenzmängel führten dazu, dass sich eine Unterschicht bilde und dass ihre Mitglieder wegen ererbter niedriger Intelligenz dazu tendierten, in der Unterschicht zu verbleiben. Sie spricht eher dafür, dass unzulängliche Lebensbedingungen das Selbstvertrauen annagen und sich dann im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung leistungsmindernd auswirken.

Wir können die Betrachtungen zur Intelligenz natürlich auch mühelos auf die so genannten “psychischen Krankheiten” übertragen. “Garbage in – garbage out”, heißt es im Computerjargon. Wenn man einen Rechner mit unsinnigen Daten füttert, dann darf man nicht erwarten, dass er Weisheiten und tiefe Einsichten ausspuckt. Und dann darf man auch nicht ungeprüft behaupten, er sei defekt oder das Programm sei schlecht.

Und so ist das auch bei den so genannten psychischen Krankheiten. Wenn ein Mensch von Kindesbeinen an mit Lebensverhältnissen konfrontiert wird, die ihn verwirren, desorientieren, entmutigen, in seinen Entfaltungsmöglichkeiten beschränken, enormen emotionalen Belastungen aussetzen, traumatisieren, einengen und seelisch aushungern, dann darf man sich ebenso wenig wundern, wenn dieser Mensch früher oder später Muster des Verhaltens und Erlebens zeigt, die bei oberflächlicher und kenntnisloser Betrachtung mit den Merkmalen psychiatrischer Diagnosen übereinstimmen.

In einer amerikanischen Studie fand sich eine enge Assoziation zwischen der Bildung der Eltern und der Dauer und Schwere psychischer Störungen ihrer Kinder (3). Die Studie kann aus methodischen Gründen einen Aufschluss darüber geben, wie dieser Zusammenhang zu deuten ist.

Meine Interpretation lautet: Vorausgeschickt sei, dass in dieser Studie psychische Störungen von Psychiatern diagnostiziert, also nicht objektiv gemessen wurden. Es müssen also die sozialen Prozesse berücksichtigt werden, die zu diesen Diagnosen führten.

Man könnte vermuten, dass Eltern mit einem niedrigen Bildungsniveau kaum in der Lage sind, ihren Kindern ein differenziertes verbales Rüstzeug zur Beschreibung seelischer Zustände zu vermitteln und dass ihre Kinder deswegen eher geneigt sind, angesichts ihrer mangelhaften sprachlichen Möglichkeiten, psychiatrische Diagnosen und die damit verbundenen Rollenerwartungen für sich zu übernehmen, als die Kinder gebildeterer Eltern.

Während Menschen aus den “gehobenen Ständen” außergewöhnliche seelische Phänomene eher als “spirituelle” (z. B. Kundalini-Prozess) oder “existenzielle” (z. B. Lebenskrise) Erfahrungen  in ihr Weltbild einordnen können, zwingen den damit überforderten Angehörigen der Unterschicht dessen häufig geringe sprachliche Möglichkeiten in die psychiatrische Praxis, wo ihm der psychiatrische Marketing-Jargon (Diagnosen und Ursachentheorien) zur Beschreibung seiner Zustände angeboten wird.

Mancher mag obige Interpretation für weit hergeholt halten; dies ist sie aus meiner Sicht aber ganz und gar nicht. Denn es kommt noch ein weiterer Faktor hinzu, der diese Interpretation wahrscheinlich macht. Die Kinder von Eltern mit einem niederen Bildungsniveau lernen in ihrer Kindheit keinen so unbefangenen Umgang mit Akademikern wie Kindern aus den “höheren Gesellschaftsschichten”. Sie sind daher eher geneigt, “Experten” Glauben zu schenken oder ihnen sogar kritiklos gegenüberzustehen. Sie haben in ihrer Kindheit Akademiker ja nicht in der Unterhose gesehen oder beim Zähneputzen beobachtet, geschweige denn, sie bei kleinen oder großen Fehlern ertappt. Dies kann dazu führen, dass Menschen, deren Eltern ungebildet waren, eher geneigt sind, Psychiater aufzusuchen und psychiatrische Diagnosen (also Expertenurteile von Akademikern) in ihr Selbstbild zu integrieren und danach zu leben, als Kinder von Eltern mit Universitätsstudium.

Derartige Beobachtungen und Überlegungen sprechen dafür, dass die in vielen Studien bestätigte, überproportionale Häufung von so genannten “psychisch Kranken” in der Unterschicht nicht auf die direkten Einflüsse der sozialen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen (Milieu-Faktoren wie beispielsweise Armut, berufliche Perspektivlosigkeit, Gewalt, Missbrauch, Verwahrlosung) zurückzuführen ist. Wenn dies der Fall wäre, müssten ja auch alle Menschen aus der Unterschicht als mehr oder weniger psychisch krank eingestuft werden. Erst recht gibt es keinen Beweis dafür, dass genetische Faktoren hier ausschlaggebend sind.

Vielmehr scheinen die Auswirkungen von Sozialisationsprozessen auf das Selbstwertgefühl, das Selbstvertrauen und die Kritikfähigkeit eine wesentliche Rolle zu spielen. Diese Sozialisationsprozesse sind zwar typisch für die Unterschicht, aber nicht bei allen Angehörigen dieser Klasse gleichermaßen stark ausgeprägt. Hier beziehe ich mich vor allem auf die sprachliche Sozialisation und das Ausmaß, in dem diese den Sozialisierten befähigt, außergewöhnliche seelische Phänomene zu erfassen und personal zu integrieren.

Oder

Mein Argumentationsgang läuft, trotz der Berücksichtigung möglicher genetischer Einflüsse und der Interaktion von Anlage und Umwelt schlussendlich auf folgende These hinaus: Dass manche Menschen zu Insassen von Irrenanstalten werden, liegt ebenso wenig überwiegend an angeborenen Defekten oder Defiziten wie die Tatsache, dass manche Kolonisten der Inseln Polynesiens das Los von Jägern und Sammlern auf sich nehmen mussten, obwohl ihre Vorfahren bereits zivilisierte Bauern, Fischer und Handwerker waren. Die Launen von Wind und Wellen treiben manche Menschen halt auf karge Inseln und dort müssen dann sie und ihre Nachkommen schauen, wie sie unter diesen erschwerten Bedingungen mehr schlecht als recht überleben.

Obwohl sie plausibel zu sein scheint, überzeugt mich diese These dennoch nicht, nicht wirklich, auch wenn sie aus meiner Feder stammt. Es mag zwar sein, dass den Einzelnen widrige Lebensbedingungen stark einschränken oder dass ihm privilegierte Verhältnisse eine Fülle von Möglichkeiten bieten, aber ein Mechanismus, der diese Umstände automatisch mit bestimmten Formen des Verhaltens und Erlebens verbindet, wurde bisher noch nicht entdeckt.

Es verwandeln sich eben nicht alle Menschen, die unter katastrophalen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen aufwachsen, in Monster oder Jammergestalten; und nicht alle, die das Leben reich beschenkte, werden den Erwartungen gerecht, die man aufgrund ihrer Privilegien in sie setzte. Es mag zwar sein, dass Umstände uns drängen oder uns geneigt stimmen, dieses zu tun und jenes zu lassen und dass sie unseren Bemühungen Grenzen ziehen oder sie unterstützen, aber es widerspricht der Lebenserfahrung, dass wir deswegen Sklaven unserer Umwelt wären.

Der Mensch scheint über einen freien Willen zu gebieten, und dies nicht wegen einer Laune der Natur, sondern weil ihm dieser in der Evolution einen Vorteil brachte. Beim Stand der neurowissenschaftlichen Forschung ist es zwar noch nicht möglich, diese These empirisch zu erhärten; aber entgegen anders lautenden Gerüchte spricht auch kein bekanntes Faktum dagegen, dass das menschliche Gehirn zum freien Willen befähigt ist, wie Peter Ulric Tse in einem Buch zu diesem Thema nachwies (10).

Dabei ist der Wille natürlich nicht voraussetzungslos frei. Wenn ein junger Mensch – nennen wir ihn Paul – beispielsweise beobachtet, wie die Mutter unter Stress zur Pillenröhre und der Vater zur Flasche greift, dem werden ihm in Belastungssituationen natürlich zunächst Pille oder Flasche in den Sinn kommen. Insofern ist seine Entscheidung nicht unbedingt frei, weil sich ihm bestimmte Verhaltensalternativen aufdrängen. Dennoch kann ihm, durch Zufall, beispielsweise  an seinem Ausbildungsplatz ein anderer Auszubildender namens Leo begegnen, der mit Stress konstruktiver umgeht und Paul kann sich entscheiden, Leo zum Vorbild zu wählen. Auch Leo ist Teil von Pauls Umwelt; der von Umwelteinflüssen völlig freie Wille ist vermutlich eine Fiktion; dennoch kann nicht gesagt werden, dass Menschen grundsätzlich Opfer ihres Milieus, also Reaktionsautomaten wären.

Selbstverständlich werden wir mit den Handlungen, zu denen wir uns entscheiden, nicht immer auch Erfolg haben. Ob wir ans Ziel gelangen, hängt nicht nur von unseren Fähigkeiten, sondern auch von den äußeren Umständen ab. Manche Handlungsalternativen haben, durch objektive Faktoren bedingt, saumäßig schlechte Erfolgswahrscheinlichkeiten. Doch es gibt Leute, die lassen sich davon nicht abschrecken. Sie kommen zu Fall, sie stehen wieder auf, sie versuchen es erneut, immer wieder. Sie sind beharrlich. Manche kommen durch.

Anmerkungen

(1) Diamond, J. (1997) Guns, Germs, and Steel: The Fates of Human Societies. W.W. Norton & Co. (1a) Diamonds These ist nicht unumstritten; Einigkeit besteht aber hinsichtlich des hier Wesentlichen, nämlich der engen genetischen Verwandtschaft aller polynesischen Kolonisten und des Auseinanderdriftens der politischen Organisation und der Wirtschaftsweise.

(2) Spencer, B. & Castano, E. (2007) Social Class is Dead. Long Live Social Class! Stereotype Threat among Low Socioeconomic Status Individuals. Soc Just Res, 20:418–432

(3) McLaughlina, K. A. et al. (2011). Childhood socio-economic status and the onset, persistence, and severity of DSM-IV mental disorders in a US national sample. Social Science & Medicine Volume 73, Issue 7, October 2011, Pages 1088–1096

(4) Joseph, J. (2012). The “Missing Heritability” of Psychiatric Disorders: Elusive Genes or Non-Existent Genes? Applied Developmental Science, 16, 65-83.

(5) Phelan, JC. (2005). “Geneticization of deviant behavior and consequences for stigma: The case of mental illness.” Journal of Health and Social Behavior 46: 307-322

(6) Jones, E. E.; Harris, V. A. (1967). “The attribution of attitudes”. Journal of Experimental Social Psychology 3 (1): 1–24

(7) Moncrieff, J. (1997). Lithium: evidence reconsidered. British Journal of Psychiatry, 171, 113-119

(8) Tuula Kieseppä: A TWIN STUDY ON GENETIC AND ENVIRONMENTAL FACTORS IN BIPOLAR I DISORDER. Academic Dissertation, University of Helsinki, 2005

(9) Rose, S. (2001). Moving on from old dichotomies: beyond nature – nurture towards a lifeline perspective. British Journal of Psychiatry, 178, suppl. 40, s 3 – s 7

(10) Tse, P. U. (2013). The Neural Basis of Free Will: Criterial Causation by Peter Ulric Tse, Cambridge: MIT Press

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Wer ist eigentlich noch nicht “psychisch krank”?

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Dramatischer Anstieg?

Immer wieder einmal, wenn es sonst nicht viel zu berichten gibt oder wenn die Krankenkassen eine entsprechende Studie herausgegeben haben, schlagen die Medien Alarm: Immer mehr psychisch Kranke!, heißt es, oder: Psychische Krankheiten Hauptgrund für Fehlzeiten am Arbeitsplatz. Jeder zweite Deutsche, so erfahren wir, leide mindestens einmal in seinem Leben an einer psychischen Krankheit.

Nach kurzem Überlegen habe ich mich dagegen entschieden, hier irgendwelche Statistiken zu präsentieren. Solche Zahlen sind ohnehin ein Schwindel in sich. Denn wie Schönheit liegt “psychische Krankheit” im Auge des Betrachters. Wenn die Zahl psychiatrischer Diagnosen steigt, bedeutet dies zunächst einmal nichts anderes, als dass die Zahl psychiatrischer Diagnosen steigt. Schließlich beruhen diese Diagnosen ausschließlich auf dem subjektiven Urteil von Psychiatern; die Psychiatrie ist nicht in der Lage, “psychische Krankheiten” mit objektiven Verfahren festzustellen; trotz mehrerer Jahrzehnte intensiver Forschung konnte sie keine Hirnstörungen nachweisen, die den so genannten psychischen Krankheiten zugrunde liegen.

Die Medien liefern die Erklärung für die Zunahme angeblicher psychischer Störungen in aller Regel gleich mit. Der zunehmende Stress am Arbeitsplatz sei verantwortlich. Und falls es sich um ein Qualitätsmedium handelt – das sich traut, den Rezipienten eventuell intellektuell zu überfordern – so wird auch noch hinzugefügt, dass Arbeitslosigkeit ebenfalls ein Stressfaktor sei.

Da psychiatrische Diagnosen Willkür sind und jeder Patient gutes Geld bringt, vermuten manche nüchtern denkende Leute, die Zunahme der “psychischen Krankheiten” beruhe auf einem Marktmechanismus. Für diese Sichtweise spricht beispielsweise eine Beobachtung des Psychiaters und Medizinhistorikers David Healy in Sachen “Depression”. Vor der Entdeckung der Antidepressiva war die Depression eine seltene “Erkrankung”, die als vorübergehend eingeschätzt wurde. In der ersten Ausgabe des DSM, der diagnostischen “Bibel” der amerikanischen Psychiatrie, die 1952 erschien, wurde dieser “Krankheit” noch nicht einmal eine eigenständige Kategorie eingeräumt, sie galt als Begleiterscheinung anderer Störungen (1).

Heute konsumiert einer von zehn Amerikanern ein Antidepressivum (2), und anderswo in der modernen, industrialisierten Welt sieht es auch nicht viel anders aus. Man könnte angesichts solcher Zahlen also durchaus den Verdacht in sich nähren, dass der Anstieg “psychischer Krankheiten” auf das unermüdliche Bemühen des Pharma-Marketings zurückzuführen sei. Dass sich dieses Phänomen nicht nur auf die Antidepressiva beschränkt, sondern alle Psychopharmaka zu betreffen scheint, dokumentiert Robert Whitaker in seinem Buch “Anatomy of an Epidemic” (3).

Es ist sicher nicht völlig von der Hand zu weisen, dass immer mehr Menschen, durch Werbung und PR verführt, zur Pille greifen und sich zu diesem Zweck als “psychisch krank” diagnostizieren lassen und dass dies, und nicht gestiegener Stress oder andere sozio-ökonomische Faktoren, der Hauptgrund für die ständig steigende Zahl der einschlägig “Erkrankten” sein könnte.

Es ist dennoch nicht auszuschließen, dass sich immer mehr Menschen, auch ohne den Einfluss des psychiatrisch-pharmaökonomischen Marketings, als “psychisch krank” empfinden und dies auf Stress zurückführen würden, dass also die Psychiater und die Presse nicht ganz unrecht haben mit ihren Meinungen und Erklärungen. Der Zusammenhang klingt ja auch plausibel: Wir leben in einer mitleidslosen Gesellschaft und wer nicht Schritt halten kann, wird schikaniert und schließlich ausgegrenzt. Unter diesem Druck verhalten sich manche, betragen sich immer mehr Schikanierte und Ausgegrenzte zunehmend bizarrer und dann sind sie ein Fall für den Psychiater, der sie mit Pillen oder guten Worten wieder auf Kurs zu bringen versucht.

Da unsere Gesellschaft immer mitleidloser wird, da der Prozess der Entsolidarisierung immer schneller und brutaler voranschreitet, ist es also, unter diesem Gesichtspunkt der Plausibilität, nicht schwer zu erklären, warum wir uns auf dem Weg zu einer Gesellschaft der angeblich psychisch Kranken befinden. Verdecktes und offenes Marketing mag diesen Prozess beschleunigen, aber er würde sich vermutlich auch ohne diese Maßnahmen vollziehen, wenngleich langsamer.

Dies bedeutet allerdings nicht zwingend, dass der Stress direkt die Phänomene verursacht, die von der Psychiatrie als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden. Es ist gut denkbar, dass die Betroffenen den Stress nur als Rechtfertigung dafür benutzen, dass sie diese “Symptome” zeigen. Dies ist sogar sehr wahrscheinlich, denn Stress ist die Folge einer subjektiven Bewertung von Stressoren und kein Agens, das mechanisch zu irgendwelchen Wirkungen führt. So ist beispielsweise nachweislich selbsterzeugter Lärm erheblich weniger stressend als fremderzeugter. Steigt die Zahl und Intensität objektiver Stressoren überprüfbar, dann ist “Stress” natürlich ein besonders schlagkräftiges Argument.

Verhaltensmuster und Interpretation

Folgt man den Ideen des kritischen Psychiaters Thomas Szasz, so muss man strikt unterscheiden zwischen Verhaltensmustern und deren Interpretation. Selbst wenn man also einräumt, dass Menschen sich zunehmend seltsam verhalten, sich ausgebrannt und depressiv oder verfolgt fühlen, unter Ängsten leiden, vom allergrößten Unfug fest und unkorrigierbar überzeugt sind, sich zu viel Bier und Korn in den Kopf klopfen, Rauschgifte in die Venen jagen, so folgt daraus nicht zwangsläufig, dass es sich dabei um “psychisch Kranke” handelt, die ein medizinisches Problem haben, das mit ärztlichen Maßnahmen, also mit Pillen und guten Worten, behandelt werden muss.

Die implizite Voraussetzung dieser Interpretation lautet nämlich: Wer dem zunehmenden Stress, der über uns kommt wie eine Naturgewalt, nicht gewachsen ist, der ist einfach nicht stark genug, und wer nicht stark genug ist, der zeigt Schwäche, und wer Schwäche zeigt, der ist krank, und wer krank ist, der muss zum Arzt, und wenn auch der Arzt nicht mehr helfen kann, dann muss er ins Heim, und wenn er sich nicht helfen lassen will, dann gehört er weggesperrt und zwangsbehandelt.

Dies ist eine mögliche Reaktion auf die Zunahme bizarren Verhaltens in unserer Gesellschaft, dies ist sogar die übliche Denkweise, aber ich glaube nicht, dass sie die einzig mögliche oder gar, dass sie eine sinnvolle ist.

Hier stellen sich natürlich zunächst einmal einige grundsätzliche Fragen:

  1. Wenn die seltsamen Formen des Verhaltens und Erlebens keine Krankheit sind, was sind sie dann? Da die psychiatrische Forschung keine Hirnstörung nachweisen kann, muss man wohl bis zum Beweis des Gegenteils annehmen, dass es sich hier um die Reaktionen eines normalen Gehirns handelt, dass, wie ein Computer, nach dem Motto agiert: Garbage in – garbage out. Auf eine überfordernde Lebenssituation reagiert der Mensch nun einmal überfordert. Er ist so verrückt wie die Situation, in der er lebt.
  2. Ist der Stress für die Zunahme “psychischer Krankheiten” verantwortlich? Stress ist die subjektive Reaktion auf Stressoren, also auf Faktoren in der Umwelt, die Stress machen. Menschen unterscheiden sich in vieler Hinsicht, auch in ihrer Fähigkeit, Stress zu verkraften. Viel wichtiger aber ist, dass die Folgen von Stress in erheblichem Maß von der jeweiligen Situation abhängen. In Kriegszeiten beispielsweise gibt es stets weitaus weniger “psychisch Kranke” in der Heimat oder in der Etappe als in friedlichen Zeiten, weil die Leute etwas anderes zu tun haben als Bauchnabelschau, obgleich der Krieg mit einer Fülle von Stressoren verbunden ist. Die Ausnahme ist die Front: Im Stahlgewitter drehen fast alle früher oder später durch, weil dies die einzige Möglichkeit zu sein scheint, diesem Wahnsinn zu entkommen, und für diese Möglichkeit entscheiden sich die meisten Frontsoldaten, bewusst oder unbewusst.
  3. Wenn weder ein defektes Gehirn, noch der Stress für die Zunahme bizarren Verhaltens und Erlebens – zumindest beim gegenwärtigen Stand der Erkenntnis und zumindest nicht allein – verantwortlich gemacht werden können, was ist denn dann der mutmaßliche ausschlaggebende Grund? Der Hauptverdächtige ist natürlich die neoliberale Ideologie. Wenn den Menschen eingehämmert wird, dass jeder seines Glückes Schmied sei und dass die Starken, Smarten und Leistungswilligen auch Erfolg hätten, dann wollen die Erfolglosen den Vorwurf, sie seien schwach, blöd und faul, nicht auf sich sitzen lassen. Sie suchen – bewusst oder unbewusst – nach Rechtfertigungen und Entschuldigungen. Eine “psychische Krankheit”, besser noch, eine “psychosomatische Störung” eignen sich dazu zwar nicht perfekt, weil sie natürlich stigmatisieren, aber als letzte Zuflucht sind sie jedenfalls besser als das Gefühl, schwach, blöd und faul zu sein. Daher handelt es sich bei den so genannten “psychischen Krankheiten” häufig um Self-Handicapping zum Zwecke der Schadensbegrenzung beim Selbstwertgefühl.
  4. Zum Self-Handicapping wird man allerdings nicht gezwungen: weder durch Gehirndefekte, noch durch Stress und auch nicht durch die neoliberale Ideologie. Wer die Rolle des “psychisch Kranken” übernimmt, hat sich selbst dazu entschieden und kann dafür auch niemanden und nichts verantwortlich machen. Gern räume ich ein, dass viele, die diese Rolle spielen, es schwer hatten und haben im Leben; allein: sie hatten dennoch eine Wahl. Man muss nicht depressiv werden, wenn der Chef bosst, man kann ihm auch in die Akten scheißen, beispielsweise. Es gibt immer eine ganze Reihe mehr oder weniger guter Alternativen zur “psychischen Krankheit”.

Selbstverständlich ist diese Liste der grundsätzlichen Fragen, die sich uns auf dem Weg zu einer Gesellschaft der “psychisch Kranken” stellen, nicht vollständig und auch die Antworten sind nur Skizzen viel komplexerer Sachverhalte und Zusammenhänge. Es zeigt sich aber bereits hier, dass die Psychiatrie nicht ein Teil der Lösung, sondern des Problems ist.

Was tun?

Zunächst einmal gilt es zu unterscheiden zwischen Faktoren, die sich ändern lassen und solchen, die sich nicht ändern lassen. Theoretisch betrachtet, lassen sich alle Einflüsse ändern oder beseitigen, die durch Menschen hervorgebracht wurden. Dies sollte auch ohne weitere Erklärungen einleuchten.

Praktisch gesehen, können aber nur jene von Menschen geschaffene Umstände beseitigt werden, für deren Beseitigung sich auch eine hinlängliche große Machtbasis findet. Den Kapitalismus wollen weder jene abschaffen, die von ihm profitieren, noch jene, die unter ihm leiden (Ausnahmen bestätigen die Regel). Dies dürfte sich auch auf absehbare Zeit nicht ändern. Also werden die Stressoren, die das bizarre Verhalten begünstigen, bestehen bleiben und allenfalls in ihrer Stärke variieren.

Bei nüchterner Betrachtung bleiben demgemäß nur jene Faktoren als praktisch veränderbar übrig, von denen die individuelle Reaktion auf diese Stressoren abhängt. Die Freunde der Psychotherapie sollten hier nicht vorschnell frohlocken, denn es ist doch wirklich aberwitzig zu glauben, dass sich Reaktionsmuster, die u. U.  über Jahrzehnte entstanden sind, durch ein paar Stunden psychotherapeutischem Hokuspokus überwinden ließen. Das ist doch bloß Kosmetik. Aber ich will auch nicht den Pillen-Fans das Wort reden. Man löst keine Probleme, indem man Leuten chemische Scheuklappen aufsetzt. Das ist Vogel-Straus-Politik. Pillen machen in der Regel, zumindest langfristig, alles nur noch schlimmer.

Sobald sich eine Persönlichkeit unter kapitalistischen Lebensbedingungen erst einmal verformt hat, ist nicht mehr allzu viel zu retten. Da muss man realistisch sein. Es gibt also nur noch Hoffnung für die Kinder. Natürlich: Recht einfach wäre es, sich von einer “psychischen Krankheit” zu befreien. Man müsste ihr nur abschwören. Zwar verschwänden dadurch nicht die Phänomene, die eventuell zu einer derartigen Diagnose geführt haben, aber sie würden nicht mehr als “Symptome” verstanden. Andere würden den Betroffenen womöglich immer noch als “psychisch krank” einstufen, aber er selbst hätte den Kopf wieder frei. Doch leider greifen nur wenige zu dieser einfachen Nothilfe. Sie hängen viel zu sehr an ihrer “psychischen Krankheit”. Manche werden sogar richtig böse, wenn man bestreitet, dass sie darunter litten. Putzig.

Da es sich bei den so genannten psychischen Krankheiten in aller Regel um Self-Handicapping handelt und da dies betrieben wird, um die Selbstachtung so weit wie möglich zu erhalten, kommt es darauf an, Kinder so zu erziehen, dass deren Selbstwertgefühl durch widrige Umstände so wenig wie möglich beeinträchtigt wird. Wer seine Kinder dazu abrichtet, sich auf Teufel komm aus an gesellschaftliche Bedingungen anzupassen, wie widrig sie auch immer sein mögen, der eröffnet ihnen vielleicht glänzende Karriereaussichten, wahrscheinlicher aber verdammt er sie zu einem Leben in permanentem Unbehagen. Die Versuchung, dieses Unbehagen als Ausdruck einer “psychischen Krankheit” zu deuten, ist solange groß, wie man sich die Dynamik nicht klarmacht, die ihm zugrunde liegt.

Eltern, die ihre Kinder lieben, erziehen sie zu Anarchisten. Manche, die Kinder zu kennen glauben, werden hier einwenden, dies hieße, Erziehung einzustellen, denn Anarchisten seien Kinder ja von Natur aus. Das ist aber so nicht richtig. Es stimmt zwar, dass Kinder Chaos lieben (wie jeder anständige Anarchist, auch wenn er es nicht zugibt), aber noch mehr lieben sie ihre Eltern. Das liegt in ihrer Natur. Die Eltern sind für Kinder, bis zu einem gewissen Alter, gottgleich. Dadurch unterscheiden sich Kinder von Anarchisten, die keine Götter anerkennen.

Was heißt es nun, seine Kinder zu Anarchisten zu erziehen?

  1. Ein Anarchist achtet andere, weil er sich selbst achtet. Daher blickt er zu nichts und niemandem ehrfürchtig auf.
  2. Ein Anarchist liebt das Chaos, denn ohne dies erstarrt alles Leben in einem kalten Hauch.
  3. Ein Anarchist hält, in sinnvollen Grenzen, Ordnung, weil er sich selbst diszipliniert.
  4. Er respektiert Lehrer, aber er imitiert sie nicht kritiklos.
  5. Ein Anarchist will Freiheit, aber nicht nur für sich allein oder für einen kleinen Kreis Privilegierter.
  6. Ein Anarchist ist eigensinnig, weil Sinn nur in der Innenwelt gefunden werden kann und weil es in der Innenwelt nur einen Herrscher geben kann und geben darf, nämlich das Individuum.
  7. Ein Anarchist schätzt sich um seiner selbst willen wert, weil es keinen Grund für ihn gibt, dies nicht zu tun.
  8. Ein Anarchist glaubt an sich, weil sonst jeder andere Glaube sinnlos wäre.

Wer seine Kinder zu Anarchisten erzieht, gibt ihnen also das beste Rüstzeug mit auf den Weg, um der Versuchung zu widerstehen, “psychisch krank” zu werden. Liebende Eltern haben stets den Wunsch, ihre Kinder so auf das Leben vorzubereiten. Es mag zwar sein, dass Kinder, die zu Anarchisten erzogen wurden, nie im Leben Vorstandsvorsitzende eines großen Unternehmens werden. Aber Kinder, ganz gleich, ob Anarchisten oder nicht, werden in aller Regel ohnehin nur dann Vorstandsvorsitzende eines großen Unternehmens, wenn sie aus der Oberschicht oder der gehobenen Mittelschicht stammen. Eltern, die nicht zu diesen Kreisen zählen (also ca. 98 Prozent), müssen sich deswegen also keine unnötigen Sorgen machen.

Wie aber erzieht man seine Kinder zu Anarchisten? Das ist einfach. Kinder werden Anarchisten im obigen Sinne, wenn sie spüren, dass ihre Eltern sie für jede Entwicklung in diese Richtung lieben. Sie werden sich ganz spontan in diese Richtung entwickeln, wenn sie diese Liebe spüren, eine Liebe, in der die Liebe zum Kind und die Liebe zum Menschengeschlecht zusammenfließen.

Und sonst?

Der Fall Gustl Mollath wird neu aufgerollt. Der Sturm der Entrüstung, der, bis zu seiner Entlassung aus dem Maßregelvollzug, im Blätterwald tobte, rüttelte an den getönten Fenstern der Paläste bayerischer Macht; ob er auch die Gewissen berührte, bleibt dahingestellt. Dass die Menschen, die ihn hinter Gitter brachten und die Menschen, für die er hinter Gittern saß, jemals bestraft werden, ist unwahrscheinlich. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass die Menschen, die sich heute noch über die Willkür, der Gustl Mollath unterlag, empören, aus diesem Fall wirklich etwas lernen werden.

Dabei gäbe es sehr viel zu lernen. Zunächst einmal sollte sich jeder Bürger klarmachen, dass er der nächste sein kann, der mit einer psychiatrischen Diagnose am Hals, ohne eine Straftat begangen zu haben, eingekerkert wird und dann weniger Rechte hat als der ärgste Schwerverbrecher im Knast. Psychiatrische Diagnosen sind nämlich keineswegs wissenschaftlich fundiert, sondern subjektiv. Sie sind nichts weiter als die private Meinung eines Psychiaters. Dies habe ich in vielen Einträgen dieses Tagebuchs begründet und belegt, beispielsweise in dem Beitrag: Die psychiatrische Diagnostik.

Die “psychische Krankheit” hängt wie ein Damoklesschwert am seidenen Faden über unseren Köpfen. Und dies nicht etwa, weil wir alle durchgeknallt wären. Wie wir alle wissen, gibt es jede Menge Durchgeknallte in den höchsten Rängen der Gesellschaft, die keineswegs Gefahr laufen, wie Gustl Mollath hinter den Gittern der Psychiatrie zu landen. Auch wenn mir die entsprechenden Statistiken nicht vorliegen, bin ich absolut sicher, dass die Wahrscheinlichkeit, psychiatrisiert zu werden, bei Steuerhinterziehern und Schwarzgeldschiebern wesentlich geringer ist, als bei Whistleblowers, die auf Steuerhinterziehung und Schwarzgeldgeschäfte hinweisen. Da muss man schon die Kirche im Dorf lassen.

Das Damoklesschwert der “psychischen Krankheit” hängt vielmehr über uns allen, sofern wir nicht zu den oberen Zehntausend zählen, weil jeder einmal, auch wenn er sich nichts zuschulden hat kommen lassen, irgendwem, der ein bisschen zu viel Macht hat, in die Quere kommen kann. Gustl Mollath ist ja kein Einzelfall. Wer im Internet nach vergleichbaren Fällen recherchiert, findet mehr Beispiele, als die meisten von uns zur Kenntnis zu nehmen Zeit haben.

Damokles war ein Höfling des Tyrannen Dionysos. Durch Schmeicheleien versucht er, dessen Gunst zu gewinnen. Allein, der Herrscher durchschaute seinen Untertanen. Er wusste, dass er ihn um seine Macht und seinen Reichtum beneidete. Daher beschloss er, Damokles eine Lehre zu erteilen. Er lud ihn zu einem Festmahl ein. Die Tische bogen sich vor Köstlichkeiten. Er hieß ihn Platz zu nehmen, und zwar unter einem Schwert, dass nur an einem Rosshaar hängend über seinem Haupte schwebte. Damit wollte er ihm die Vergänglichkeit aller Macht und allen Reichtums vor Augen führen. Damokles war unter diesen Bedingungen nicht in der Lage, den Luxus zu genießen, der im offeriert wurde.

Wie ein Damoklesschwert hängt die “psychische Krankheit” über uns allen. Unter einem Damoklesschwert sitzend, genießen wir den Luxus von Freiheit und Selbstverantwortung in einer demokratischen Gesellschaft. Damit wir nicht übermütig werden und uns der Vergänglichkeit dieses Luxus’ immer bewusst sind, hat der Herrscher das Damoklesschwert über unseren Köpfen aufgehängt.

Otto Gross

Wenn nun ein Leser meint, er wäre besser beraten gewesen, an Stelle des eigenen den Beruf des Psychiaters zu ergreifen, weil dieser vor Schäden am Kopf durch einschlägige Schwerter bewahre, der sollte sich nicht allzu sicher sein. Falls noch ein wenig Zeit erübrigt werden kann, so möge man mich auf eine Exkursion in die Geschichte begleiten.

Am 17. 3. 1877 wurde Otto Gross geboren. Sein Vater war Professor der Kriminalistik. Gross verbrachte eine behütete Kindheit im Elternhaus, wurde von Privatlehrern unterrichtet; man brachte ihm bei, wie er sich in der besseren Gesellschaft zu benehmen habe. Es gab also keinen vernünftigen Grund, irre zu werden. Gross studiert erfolgreich Medizin, wird zunächst Schiffsarzt und dann Assistenzarzt bei Johann Ritter von Gudden, einem Psychiater, der heute längst vergessen wäre, wenn er nicht Ludwig II. als wahnsinnig verleumdet und durch diese Diagnose zu dessen frühen Tod beigetragen hätte.

Otto Gross tut sich in der Psychiatrie hervor; wird schließlich sogar zum Privatdozenten ernannt; er macht die Bekanntschaft von Freud und Jung; begeistert sich für die Psychoanalyse. Gleichzeitig aber ist er für revolutionäre Ideen entflammt; 1907 hat er beste Kontakte zur Münchener Anarchistenszene; er liest Kropotkin und Max Stirner. Seine seit Beginn des Jahrhunderts bestehende Kokainabhängigkeit lässt er 1908 von C. G. Jung behandeln, und zwar in der psychiatrischen Anstalt Burghölzli in Zürich.

Der Therapie entzieht er sich allerdings vor deren offiziellem Ende durch Flucht aus der Anstalt; dies zeigt, dass an seiner geistigen Klarheit zu diesem Zeitpunkt kein Zweifel möglich ist. Jung allerdings diagnostizierte daraufhin eine Dementia praecox; so nannte man damals die Schizophrenie. Bereits zuvor hatte Gross sich mit Freud überworfen, weil er aus dessen Lehre gesellschaftspolitische Konsequenzen ziehen wollte, was den Begründer der Psychoanalyse dazu veranlasste, den anarchistischen Rebellen mit rüden Methoden aus der psychoanalytischen Vereinigung zu drängen. Freud war in Hochform; er war so niederträchtig gegenüber einem Kollegen wie nie zuvor und nie wieder, Wilhelm Reich ausgenommen.

Allerlei Umtriebe machen Gross bei den Behörden unbeliebt, und auch sein Vater beginnt, sich ernstlich Sorgen zu machen. Diese Sorgen tragen schließlich Früchte. 1914 wird Gross, auf Betreiben des Vaters, entmündigt. Zum Kurator wird der Vater bestellt. Otto Gross kämpft gegen die Entmündigung; am 8. Juli 1914 wird er als geheilt aus der Anstalt Troppau entlassen. Die “Wahnsinnskuratel” bleibt dennoch weiter bestehen. Wem dies zu hoch ist, der versteht die Sonderform der Logik nicht, die schon damals im psychiatrisch-juristischen Komplex als hohe Kunstform zelebriert wurde. Erst im September 1917 wird schließlich die Wahnsinnskuratel in eine beschränkte Kuratel wegen “gewohnheitsmäßigen Gebrauches von Nervengiften” umgewandelt (rechtskräftig im Dezember).

Otto Gross stirbt 1920 an einer Lungenentzündung. Mit seinem Leben und Werk beschäftigt sich Emanuel Hurwitz in einer kleinen Schrift, die 1988 im Suhrkamp-Verlag als Taschenbuch erschienen ist (4). Sehr empfehlenswert. Wir erfahren hier, dass der Beruf des Psychiaters auch nur bedingt davor schützt, vom Damoklesschwert der “psychischen Krankheit” am Kopf verletzt zu werden. Wer sich, wie Gross, mit den eigenen Kollegen anlegt, der kann ja auch nicht normal sein; dies nicht zu bedenken, ist ein untrügliches Zeichen der Verrücktheit. Überdies ist es generell ein Risikofaktor für eine psychische Erkrankung, wenn einem die Verwandtschaft nicht wohlgesonnen ist.

Es kommt allerdings selten vor, dass Psychiater psychiatrisiert werden. Wenn Psychiater Menschen wie du und ich sind, und wenn psychische Krankheiten tatsächlich auf ererbten, biologischen Krankheiten beruhten, dann müssten eigentlich viel mehr Psychiater als “psychisch krank” diagnostiziert oder gar zwangseingewiesen werden, als dies tatsächlich der Fall ist. Mir ist nicht bekannt, dass Psychiater weniger häufig körperlich krank wären als andere Leute. Wenn die “psychischen Krankheiten” tatsächlich Krankheiten wie Diabetes oder Rheuma wären, dann sollte man schon erwarten, dass Psychiater ebenso häufig an “psychischen Krankheiten” leiden wie demographische Bezugsgruppen jenseits des Psycho-Gewerbes. Meines Wissens ist dies aber nicht der Fall. Seltsam, sehr seltsam.

Im Wartestand

Auch Sie sind ein psychisch Kranker im Wartestand! Ja, Sie, nein, Sie müssen jetzt nicht zur Seite schauen, Sie, genau Sie dort vor dem Bildschirm, Sie meine ich. Wen sonst? Klar, Sie leben nicht in Scheidung, wie der Mollath, als ihm sein Missgeschick passierte. Aber was nicht ist, kann ja noch kommen. Ja, sicher, Sie sitzen nicht auf einem Arbeitsplatz, den ein höherrangiger Mitarbeiter Ihres Unternehmens gern mit dem Sohn eines Freundes besetzen möchte. Und wenn doch? Wie lange halten Sie dem Mobbing stand, bis Sie durchdrehen? Sie sind doch jetzt schon reif für den Psychiater! Das sehe ich Ihnen doch an, seien Sie ehrlich!

Wenn Sie erst einmal in der psychiatrischen Tretmühle stecken, dann haben Sie kaum noch eine Chance, dort wieder herauszukommen, weil unsere Gesetzgebung dies nicht vorsieht. Darum log die ehemalige bayerische Justizministerin Beate Merk ja auch nicht, als sie seinerzeit im Fernsehen sagte, im Fall “Gustl Mollath” sei alles mit rechten Dingen zugegangen. Das stimmte ja auch. Und genau darum muss geltendes Recht auf den Prüfstand. Zwangsunterbringungen und Zwangsbehandlungen müssen abgeschafft werden. Jährlich verschwinden 200.000 Menschen gegen ihren Willen in psychiatrischen Anstalten. Auch Sie könnten dazugehören.

Wenn Sie nun jedoch ein tadelloser, fleißiger, strebsamer, gesetzestreuer und hilfsbereiter Bürger sein sollten, wenn Sie sich als Stütze des Kirchenchores hervortun, wenn Sie sich in der Friedensbewegung engagieren, wenn Sie für hungernde Kinder in Afrika spenden, wenn Sie staatstragende Parteien wählen, wenn Sie mit Ihrem Nachbarn, der Psychiater ist, gut auskommen, wenn Sie, ja, wenn Sie all dies und noch vieles mehr für sich ins Feld führen können, dann natürlich, dann nützt Ihnen das auch nichts, denn psychiatrische Diagnosen sind willkürlich und sie entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage. Es ist ein Zeichen geistiger Gesundheit, sich dies immer vor Augen zu halten.

Vorsicht, Psychofalle!

Hinter jeder Psychofalle steckt ein Psychofallensteller. Ihm geht es um Beute. Damit will er Geld verdienen, seine Machtgelüste ausleben oder niederträchtige Bedürfnisse befriedigen. Die Beute sind Sie, wenn Sie ihm auf dem Seelenleim gehen. Meist ist die Falle getarnt hinter einem Deckmäntelchen, das aus vorgetäuschter echter Sorge und selbstloser Hilfe gewirkt ist. Die Beute, also Sie, lieber Leser, wird mit unwiderstehlichen Verheißungen in die Falle gelockt, die im Kern auf eine simple Botschaft hinauslaufen: Mehr Lust, weniger Schmerz.

Das ist schön, nicht wahr?, wer möchte das nicht? Doch Vorsicht! Wenn Sie erst einmal in der Psychofalle sitzen, ist es vielleicht schon zu spät, dann kommen Sie aus der Falle nie wieder als intaktes menschliches Wesen heraus, sondern bestenfalls als seelisch gerupftes Huhn. Wer also die süßen Klänge der Psychoverlockung vernimmt, wer die Sehnsucht zum Versinken in die Psychowatte in sich spürt, der sollte für einen Augenblick, so viel Zeit muss sein, innehalten, in sich gehen und standfest bleiben.

Führen Sie sich vor Augen, welche Konsequenzen die Psychologisierung Ihres Daseins für Sie haben wird.

  1. Selbstentwertung. Wer einräumt, ein psychisches Problem zu haben oder gar psychisch krank zu sein, entwertet sich damit automatisch selbst. Denn dieses Eingeständnis bedeutet, dass man sich als nicht in Ordnung empfindet und die Notwendigkeit verspürt, sich zu ändern. Und da es sich um ein “psychisches” Problem handelt, ist die Ursache des Problems die angebliche seelische Unordnung.
    Wer bereits mit einem Fuß in der Psychofalle steckt, wird nun vielleicht einwenden, dass diese Entwertung gerechtfertigt sein könnte – weil ja die Psyche tatsächlich nicht in Ordnung sein könnte und gerichtet werden müsste. Da es aber kein objektives Maß für den Ordnungsgrad der Seele gibt, da es sich hier also um ein subjektives Urteil handelt, ist es auch nur gemessen an Ihrem eigenen Maß für psychische Ordnungszustände gerechtfertigt. Mit “Tatsachen” hat all dies nichts zu tun.
    Wenn Sie etwas netter zu sich wären (wozu ich, wenn ich darf, dringend rate), als Sie es offenbar sind, dann könnten Sie ja auch einen Maßstab wählen, bei dem Sie selbst etwas besser wegkämen.
    Es bleibt also dabei, dass psychische Probleme einzuräumen eine Selbstentwertung darstellt.
    Leute in vergleichbaren Situationen, aber mit klügeren Maßstäben, haben niemals psychische Probleme und sind erst recht nicht “psychisch krank”.
    Menschen verwenden selbstentwertende Maßstäbe in aller Regel, weil man ihnen das in der Kindheit so eingetrichtert hat. Leute mit Minderwertigkeitsgefühlen kann man halt leichter beherrschen. Wem so etwas eingetrichtert wurde, der ist besonders gefährdet, in die Psychofalle zu tappen. Versierte Psychofallensteller erkennen ihre Pappenheimer mit sicherem Instinkt.
    Die Psychiatrie hat das Phänomen des Selbst-Stigmas zwar erkannt (5), führt es aber auf die Übernahme von negativen Stereotypen, die im Volk im Schwang sind, zurück und begreift natürlich nicht, dass die psychiatrische Diagnose an sich stigmatisierend ist und dass die geforderte  ”Krankheitseinsicht” einer Selbststigmatisierung gleichkommt.
  2. Verengung der Perspektive. Die Psyche kann man nicht sehen, nicht hören, nicht riechen, nicht schmecken, nicht anfassen oder sonstwie sinnlich wahrnehmen. Daher ist sie das Reich der Vermutungen.
    Diese Einschätzung wird unterstrichen durch den Gedanken, dass viele seelische Prozesse unbewusst sind.
    Menschen, die zumindest mit einem Bein schon in der Psychofalle stecken, könnten nun vortragen, dass psychische Aspekte notwendigerweise zu einer ganzheitlichen Problembetrachtung gehörten.
    Dabei wird allerdings vergessen, dass unsere Fähigkeit, gleichzeitig unterschiedliche Aspekte einer Sache bewusst zu erfassen und zu bearbeiten, begrenzter ist, als viele glauben wollen.
    Wenn wir nun also diese so genannten psychischen Aspekte aus dem Reich der Vermutungen in unsere Problemanalyse einbeziehen, dann gehen kompensatorisch Tatsachen den Bach herunter. Dies ist beinahe unausweichlich, wenn nur das Lebensproblem einigermaßen komplex ist.
    Die Bewohner von Psychofallen rufen mir nun zu, ich frönte einem typisch männlichen Tatsachenkult (das will ich hoffen!) und sei deswegen nicht in der Lage, dem tiefen Sinn des Psychischen achtsam nachzuspüren. Das ist eine sicher interessante – Vermutung.
  3. Falsche Ursachenzuschreibung. Selbst in den egalitären, nicht-repressiven Stammesgesellschaften der Frühzeit konnten die Individuen nicht uneingeschränkt tun, was sie wollten. Ihr Verhalten unterlag der Kontrolle durch natürliche und soziale Bedingungen. Heute haben zwar die Superreichen einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Umwelt in ihrem Sinn; aber auch ihre Macht stößt an Grenzen.
    Die überwiegende Mehrheit der Menschen aber, nämlich rund 98 Prozent aller Bürger, hat nur sehr, sehr eingeschränkte Möglichkeiten, auf die Umwelt einzuwirken. Die Kontrolle des Verhaltens der mehr oder weniger Ohnmächtigen war noch nie so brachial wie in unserer Zeit, trotz Demokratie und individualistischer Ideologie.
    Daraus folgt zwingend, dass selbst dann, wenn Vermutungen über psychische Ursachen von Lebensproblemen zuträfen, sie nur einen sehr geringen Stellenwert im Ursachenbündel dieser Probleme haben könnten.
    Angesichts dieses Stellenwerts ist es nicht gerechtfertigt, von psychischen Problemen zu sprechen. Spricht man aber davon, dann schreibt man mutmaßlich psychischen Faktoren eine Bedeutung zu, die sie in einer Welt, die gemäß kapitalistischer Interessen reglementiert ist, gar nicht haben können. Dies impliziert zwangsläufig eine falsche Ursachenzuschreibung.
    Diese falsche Ursachenzuschreibung begünstigt die Entscheidung, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Durch diese Entscheidung werden allerdings die objektiven Faktoren im Ursachenbündel der Lebensprobleme nicht anulliert. Man hat einfach nur eine medizinische, pathologisierende Interpretation für seine Reaktion auf missliche Lebensumstände gefunden; an diesen aber ändert sich dadurch nichts.
  4. Selbstentmutigung. Sitzt ein Mensch erst einmal in der Psychofalle, so wird sein Handlungsspielraum eingeengt, jedoch nicht der objektive, wohl aber der subjektive. Mag unser tatsächlicher Handlungsspielraum auch klein sein, so ist er doch vorhanden. Wer unter den Schikanen im Büro leidet, kann zumindest versuchen, eine neue Stelle zu finden. Wer sich stattdessen “psychisch krank” fühlt und Antidepressiva schluckt, wird diese Möglichkeit vermutlich kaum noch wahrnehmen, geschweige denn erwägen oder gar verwirklichen.
    Selbstentmutigung ist keine vermeidbare Folge einer Psychologisierung des eigenen Lebens, sondern sie ist der Preis, den man dafür zahlen muss. Sie ist eine logische Konsequenz der bisher genannten Punkte.
    Man kann sich persönlich nur weiterentwickeln, wenn man eine Chance wittert. Dazu muss man aber achtsam seine Umwelt ins Auge fassen. Wer stattdessen lieber in seinen seelischen Eingeweiden wühlt, raubt sich den Mut zur Ausnutzung von Chancen, die sich selbst dem allerärmsten Schwein gelegentlich bieten.
  5. Verantwortungsprojektion. Wenn man eine “psychische Krankheit” für Lebensprobleme verantwortlich macht, dann liegt es nahe, zur Heilung oder Linderung dieser Krankheit einen Arzt aufzusuchen. Dieser soll es richten. Die Verantwortung dafür liegt bei ihm. Schließlich ist er der Experte und wird dafür bezahlt.
    Solange man sich nicht vor Augen hält, dass angesichts der bereits geschilderten Sachverhalte ärztliche Hilfe das Problem nicht löst, ist man moralisch aus dem Schneider. Man muss nur ein guter Patient sein und geduldig darauf warten, dass die ärztlichen Maßnahmen anschlagen.
    Falls der Arzt nicht nur Pillen verschreibt und die geschundene Seele mit Worten einsalbt, sondern Aktivität verlangt, eine Umgestaltung des eigenen Lebens nämlich, so muss man natürlich auch diesen ärztlichen Anweisungen vertrauensvoll folgen; denn schließlich hat er die Verantwortung für uns übernommen und wir dürfen ihn nicht enttäuschen.
    Die natürliche Konsequenz der Verantwortungsprojektion ist die Entmutigung. Scheitert der Arzt, was, zumindest langfristig, wahrscheinlich ist, dann lautet die Botschaft: “Dir kann niemand mehr helfen!” Zeigen sich mehr als nur eingebildete Erfolge, dann lautet die Botschaft: “Aus eigener Kraft hättest du das nicht geschafft.”
    Selbstverständlich ist jeder allein dafür verantwortlich, aus einer misslichen Lage das Bestmögliche zu machen; und wenn dies gelingt, und sei es auch mit fremder Hilfe, dann doch nur, weil man selbst die treibende Kraft war und ggf. Hilfe aktiv in Anspruch genommen hat. Doch auf Basis einer Verantwortungsprojektion ist man natürlich nicht mehr in der Lage, dies auch zu erkennen, die Lehren daraus zu ziehen und Mut für die Zukunft zu fassen.
  6. Verlust der Definitionsmacht. Wer einräumt, ein psychisches Problem zu haben oder gar “psychisch krank” zu sein, der liefert sich der Definitionsmacht angemaßter Experten aus. Dies beginnt mit der so genannten Diagnose, erstreckt sich über die so genannte Krankheitstheorie bis hin zur so genannten Behandlungsmethode und zur Bewertung der so genannten Resultate.
    Wenn Sie ein gelehriger Patient sind, dann lernen Sie fortschreitend, jeden Gedanken, jedes Gefühl, jede Stimmung, jede psychische Regung im Sinne der Theorien Ihres Psychofallenstellers zu interpretieren. Er wird Sie dafür loben und Sie werden sehr, sehr glücklich sein.
    Es wird Ihnen dann gar nicht mehr auffallen, dass Ihr “Experte” einem Ethnologen gleicht, der, kaum angekommen, den Eingeborenen ihr Land und ihre Sitten erklärt, ohne jemals zuvor dort gewesen zu sein. Doch dieser Vergleich hinkt: Im Gegensatz zum Ethnologen ist Ihr Seelenfallensteller nur ein Zaungast, der niemals einen Fuß auf Ihr Terrain, nämlich in Ihre Innenwelt setzen wird.
    Er kann diese also auch nicht beurteilen, weil er sie vermessen hat, sondern er ist vermessen, wenn er sich ein Urteil anmaßt.
  7. Mystifikation der Innenwelt. Bekanntlich lassen sich “Psycho-Experten” von unterschiedlichen, teilweise einander krass entgegengesetzten Theorien leiten. Dieser Zustand besteht, solange die moderne Psychiatrie existiert. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich dies ändern wird.
    Wenn man den Maßstab der Wissenschaft an diese Disziplin anlegt, so mag dieser Umstand erstaunen und verwirren. Doch wenn man sich klarmacht, dass die Erkenntnisse der “Psycho-Experten” im luftigen Reich der Vermutungen wurzeln, dann ist diese Uneinigkeit nicht verwunderlich; vielmehr: Erstaunlich wäre das Gegenteil.
    Psychofallensteller hüllen sich daher gern in die Aura des tiefblickenden Kenners der Seele. Da ihr Streit auf der empirischen Ebene der Tatsachen nicht entschieden werden kann, versucht einer den anderen dadurch auszustechen, dass er sich als der erfahrenere Heiler mit dem besseren Draht zum Reich okkulter Weisheiten ausgibt.
    Wenn Sie sich Derartiges gläubig zumuten, dann wird Ihre Innenwelt zum Schauplatz einer mythischen Schlacht zwischen den Kräften der Wahrheit und des Lichts und den Heerscharen der Lüge und der Finsternis. Wenn sich beispielsweise gläubige Anhänger der Psychoanalyse mit leidenschaftlichen Verfechtern der Verhaltenstherapie streiten, dann wähnt man den Widerschein des Schlachtgetümmels in den Innenwelten an den leuchtenden Augen der Kontrahenten zu erkennen.
  8. Gefühlsduselei und Wehleidigkeit. Wer eine mitfühlende Seele ist, in die Leidensmienen der “psychisch Kranken” blickt und ihre verzweifelten Klagen hört, dessen Herz muss einfach bluten. Zur Blutstillung könnte die Einsicht dienen, dass die “Kranken” hier vor allem ihrer Rolle entsprechen.
    Eine Rolle ist ein System von Erwartungen, die andere an einen Rollenträger richten.
    Genauer: Es sind recht eigentlich nicht in erster Linie andere, leibhafte Individuen, sondern der Rollenträger folgt vor allem den mutmaßlichen Erwartungen eines generalisierten Anderen.
    Die “psychisch Kranken” heulen, klagen und knirschen mit den Zähnen, weil sie glauben, dies würde von ihnen erwartet, kurz: weil sie meinen, dies gehöre sich so.
    Dass diese Menschen häufig reale Lebensprobleme haben, will ich nicht bestreiten, im Gegenteil: Wer Gelegenheit hat, sich mit der Lebenssituation von “psychisch Kranken” auseinanderzusetzen, dem springen solche Probleme und deren offensichtlichen sozialen bzw. ökonomischen Ursachen förmlich ins Auge.
    Doch solche Lebensprobleme führen nicht automatisch zu Leidensmienen und Gejammer. “Psychische Krankheit” ist eine Rolle und als solche ein Kulturprodukt. Gefühlsduselei und Wehleidigkeit angesichts individuell schwer lösbarer Lebensprobleme werden erwartet.
    Davon profitieren genau jene, die immer schon profitieren.
    Gefühlsduselei und Wehleidigkeit verdrängen nämlich die rationale Analyse der Tatsachen des Lebens und verhindern somit die Entwicklung eines brauchbaren Plans zur Überwindung von Lebensproblemen, an dessen Verwirklichung die Profiteure oftmals kein Interesse haben.
  9. Hyperreflexion. Wenn sich einer erst einmal aller Möglichkeiten, reale Chancen zu nutzen, durch die Psychologisierung seines Daseins beraubt hat, dann kommt er natürlich auch nicht mehr von der Stelle, selbst dann, wenn sich plötzlich alle bisher verschlossenen Türen öffnen würden. Wer in der Psychofalle sitzt, lernt Hilflosigkeit. Da er die Lösung am falschen Ort sucht, und sie dort natürlich nicht findet, und da es ihm nicht mehr in den Sinn kommt, sie woanders zu suchen, und da er überdies von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer Lösung durchdrungen ist, konzentriert sich sein Denken nur noch zwanghaft auf den Widerhall, den das jeweils im Vordergrund stehende Lebensproblem in seiner mystifizieren Innenwelt auslöst.
    Es ist zweifellos keine schlechte Idee, hin und wieder nachzudenken. Manche Leute können damit beträchtliche Erfolge vorweisen und die weniger Glücklichen dürfen sich damit trösten, dass sie es immerhin versucht und sich in dieser Kunst geübt haben.
    Allein, im Übermaß führt Nachdenken zum berühmten Tausendfüßler-Phänomen. Sobald das Tier darüber reflektiert, wie es ihm nur gelingen kann, all die Beinchen koordiniert zu bewegen, wird es stolpern, weil die bewusste Aufmerksamkeit die Automatik durcheinanderbringt.
    Der Psychofallensteller freut sich natürlich darüber, wenn er das Tausendfüßler-Phänomen bei seiner Beute feststellt. Die Gefahr, dass sie seiner Falle entkommt, besteht dann nämlich nicht mehr. Sie fällt ja immer wieder selbstverschuldet auf die Schnauze.
  10. Selbstversklavung. Wer die bisher genannten charakteristischen Merkmale eines Daseins in der Psychofalle voll ausgeprägt hat, der hat gleichzeitig auch jedes Selbstvertrauen und jede Eigeninitiative eingebüßt. Er kann ohne Psychofallensteller und außerhalb der Psychofalle nicht mehr leben. Mindestens ein-, zweimal pro Jahr braucht er dieses Milieu und seine Bewohner, die er liebevoll Psychiater, Psychologen oder Psychotherapeuten nennt.
    Wenn man ihn daran zu hindern versucht, es aufzusuchen, dann wird er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sich wieder unter die Knute seiner “Psycho-Experten” flüchten zu können. Eine Angstlust treibt ihn dazu.
    Leute, die sich als Pragmatiker verstehen, meinen mitunter, dass es für manch gestörte Seele auch das Beste sei, sich in dieser Weise selbst zu versklaven, weil sie letztendlich doch lebensuntauglich sei und beständiger Hilfe bedürfe. Doch selbst wenn man dies einräumt (was mir fernliegt), so wird man doch gleichermaßen zugeben müssen, dass es sich dabei nur um eine Teilmenge derjenigen Menschen handeln kann, die schwer lösbaren Lebensproblemen ausgesetzt sind. Demgegenüber ist jedoch festzustellen, dass unser gegenwärtiges psychiatrisches System eindeutig auf Kundenbindung ausgelegt ist. Daran gibt es nichts zu rütteln. Es wäre ja auch widersinnig für Anbieter von Waren oder Dienstleistungen, nicht nach Kundenbindung zu streben oder diese gar zu untergraben.
    Dies gilt natürlich für den medizinischen Bereich insgesamt, aber insbesondere für den psychiatrischen Bereich, weil in diesem Bereich objektive Kriterien für Krankheit und Gesundheit fehlen.

Auch du?

Wer ist eigentlich noch nicht “psychisch krank”? Wenn die Krankenkassen im Verein mit der Politik nicht die Notbremse ziehen, dann werden schon bald nicht mehr viele “psychisch Gesunde” übrigbleiben. Tagtäglich lesen wir in den Medien von “psychisch Kranken” und wer ehrlich ist, wird hin und wieder feststellen, dass er das eine oder andere “Symptom” auch schon an sich selbst beobachtet hat. Liegt es da nicht nahe, in der nächstbesten Belastungssituation nach diesem Erklärungsmuster für Fehlverhalten und Versagen zu greifen?

Und je mehr “psychisch Kranke” es gibt, desto schwächer wird auch die Stigmatisierung, bis sie schließlich, wenn erst einmal die Mehrheit “psychisch krank” ist, durch eine positive Bewertung ersetzt wird. Als “psychisch Kranker” gehört man dann dazu und schwimmt im Strom. Man versichert sich gegenseitig, wie sehr man doch der Schonung bedürfe, wie schrecklich das Leben sei und wie grausam man von Kindesbeinen an traumatisiert worden sei.

Dann endlich, wenn fast alle Gutwilligen “psychisch krank” sind, kann man damit beginnen, Jagd auf jene zu machen, die sich entsprechender Diagnosen verweigern. Diese winzige Minderheit, die sich so ostentativ als “psychisch gesund” gibt, so wird es heißen, fühle sich wohl als etwas Besseres. In Wirklichkeit seien die doch die wahren Verrückten, die Normopathen, vor denen sich jeder rechtschaffene “psychisch Kranke” in acht nehmen müsse. Weg, hinter Gitter damit.

Doch Scherz beiseite: Wenn tatsächlich während eines Jahres in Deutschland 31 Prozent der Erwachsenen an einer “psychischen Störung” erkranken, dann sind mit der Behandlung, Betreuung, den Fehlzeiten und der Frühberentung der Erkrankten natürlich auch gigantische Kosten verbunden. Es ist zwar sicher moralisch verwerflich, Krankheiten nur unter Kostengesichtspunkten zu betrachten, allerdings ist es ebenso wenig moralisch vertretbar, diese Kosten zu ignorieren. Denn immerhin fehlt das für “psychisch Kranke” vorausgabte Geld an anderer Stelle, wo es unter Umständen zumindest nicht weniger gebraucht wird.

Wir wissen, dass psychiatrische Diagnose-Verfahren nicht valide sind. Dies hat unlängst erst der Direktor des weltgrößten psychiatrischen Forschungszentrums, des National Institute of Mental Health (NIMH), Thomas Insel eingeräumt. Dies bedeutet, dass diese Verfahren zwangsläufig viele Menschen falsch einstufen. Das wäre auch dann der Fall, wenn es “psychische Erkrankungen” tatsächlich geben sollte. Ein nicht valides Verfahren bringt zwangsläufig sehr viele falsch positive und falsch negative Diagnosen hervor. Damit verbunden ist demgemäß und unausweichlich eine gewaltige Mittelverschwendung.

Aber niemand, niemand in der Politik und niemand, niemand bei den Kassen scheint dies zu beunruhigen. Das verstehe ich nicht oder, recht eigentlich bedacht, verstehe ich es nur zu gut. Es ist das übliche Spiel. Es gibt wieder einmal allzu viele Nutznießer. Also wird der Bürger die Sache selbst in die Hand nehmen müssen. Wenn du dich weigerst, die Rolle des psychisch Kranken zu spielen, dann könnte, zumindest theoretisch, das gesparte Geld einer sozial schwachen Familie zugute kommen. Und da du dich geweigert hast, die Rolle des “psychisch Kranken” einzunehmen, hättest du auch die Kraft, dich politisch dafür einzusetzen, dass dies tatsächlich geschieht.

Anmerkungen

(1) Healy D. (1997). The Antidepressant Era. Cambridge, Mass.: Harvard University Press

(2) Rabin, R. C. (2013). A Glut of Antidepressants. New York Times, 12. August

(3) Whitaker, R. (2010). )Anatomy of an Epidemic. Magic Bullets, Psychiatric Drugs, and the Astonishing Rise of Mental Illness in America. New York: Broadway Paperbacks

(4)  Hrwitz, E. (1988). “Otto Gross. Paradiessucher zwischen Freud und Jung”. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

(5) Corrigan, P. W. et al.(2009).Self-stigma and the “why try” effect: impact on life goals and evidence-based practices. World Psychiatry. 2009 June; 8(2): 75–81

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Intelligenz

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Sarrazin

Thilo Sarrazins Buch “Deutschland schafft sich ab” löste unter den politisch sonst eher abstinenten Psychologen im deutschsprachigen Raum eine heftige Diskussion aus. Schließlich hatte Sarrazin unterstellt, Intelligenz sei zu 50 bis 80 Prozent angeboren und die Ethnien unterschieden sich hinsichtlich ihrer durchschnittlichen Intelligenz deutlich voneinander. Sarrazin behauptete zudem, dass diese These dem Stand der empirisch-psychologischen Intelligenzforschung entspräche.

Sarrazin hatte leider recht – zwar nicht in der Sache, durchaus aber hinsichtlich der Schützenhilfe durch die Psycho-Zunft. Auch wenn seine Ausführungen hin und wider die Feinheiten der statistischen Analysen und Begriffsbildungen nicht angemessen widerspiegeln, was die Psychologen zu bemängeln nicht müde wurden, stimmt seine These im Kern doch durchaus mit den Auffassungen des Mainstreams der psychologischen Intelligenzforschung überein. Zwar meldeten sich auch einige kritische Stimmen zu Wort, die den Wert der Zwillingsforschung in Sachen Erblichkeit von persönlichen Merkmalen relativierten, aber diese Stimmen gingen in der allgemeinen, grundsätzlichen Zustimmung unter.

Sarrazins Werk wurde ein überwältigender Erfolg; seine Thesen erhitzten die Gemüter in Talkshows; der Autor, der auch sonst gern Minderheiten aufs Korn nimmt, avancierte endgültig zum Star der rechten und rechtspopulistischen Szene. Vom politischen Mainstream wurde er zwar heftig kritisiert, doch Sarrazin, im Vollgefühl enormer Verkaufszahlen, warf seinen Kritikern vor, sich wie “deutsche Inquisitoren” zu verhalten und die Stimmung im Volk zu missachten (1). Der ungewöhnliche kommerzielle Erfolg spricht in der Tat dafür, dass sein Buch nicht nur an deutschen Stammtischen erheblichen Rückhalt fand. Wieder einmal klaffte ein gewaltiger Graben zwischen der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung und der veröffentlichten Meinung unserer Regierung und der staatstragenden Opposition.

Den Aspekt der Intelligenz als tragendes Thema seiner Schrift hatte Sarrazin überaus geschickt gewählt, denn Bücher zu Fragen der Intelligenz provozieren bekanntlich stets heftige Auseinandersetzungen zum Thema “Rassismus”, die ihnen die entsprechende mediale Aufmerksamkeit sichern. Man denke beispielsweise an den Aufruhr, den das Buch “The Bell Curve” von Richard J. Herrnstein und Charles Murray auslöste (2). Den Autoren wurde u. a. vorgeworfen, sie hätten behauptet, dass die Intelligenzunterschiede zwischen Rassen ausschließlich genetisch bedingt seien, was allerdings nicht zutraf. Verteidiger aus interessierten Kreisen lobten das Werk aber gerade wegen seiner angeblich rassistischen Ausrichtung.

Denkfehler

In einer kritischen Auseinandersetzung mit den Thesen Sarrazins schreibt die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern:

“Hätten Gene keinerlei Einfluss auf das Zustandekommen von Intelligenzunterschieden, sollten sich zweieiige Zwillingspaare genauso stark ähneln wie eineiige. Das ist aber ganz eindeutig nicht der Fall, wie alle Studien zeigen (3).”

Dieses im Mainstream gängige Argument ist undifferenziert (ich werde später erklären wieso), und in dieser allgemeinen Form lautet die Logik dahinter: Eineiige Zwillinge, die gemeinsam aufwachsen, sind denselben Umwelteinflüssen ausgesetzt wie zweieiige, die zusammen groß werden. Wenn also die Intelligenzquotienten bei den eineiigen Zwillingen stärker miteinander korrelieren als bei den zweieiigen, dann können nur die Erbanlagen für diese Unterschiede im Ausmaß der Übereinstimmung verantwortlich sein.

Auf den ersten Blick klingt dies plausibel. Schaut man allerdings genauer hin, dann erkennt man, dass diese Plausibilität auf einer stillschweigend hingenommenen Voraussetzung beruht. Voraussetzungen stillschweigend hinzunehmen, führt sehr häufig zu Denkfehlern, so auch hier.

Diese Voraussetzung lautet: Hinsichtlich der Art des Umwelteinflusses unterscheiden sich eineiige bzw. zweieiige Zwillinge, die gemeinsam aufwachsen, nicht voneinander. Familiensituation, Schule, Eltern, Lehrer, Pfarrer und Trainer im Sportverein (um nur einige Beispiele zu nennen) wirken in gleicher Weise auf eineiige bzw. zweieiige Zwillingspaare ein. Dies ist aber eine Hypothese, die nicht als selbstverständlich gelten kann. Sterns Schlussfolgerung ist daher fragwürdig, weil nicht auszuschließen ist, dass eineiige Zwillinge u. a.

  • gleichförmiger behandelt werden (nicht nur von den Eltern)
  • eine engere emotionale Beziehung zueinander entwickeln
  • sich in stärkerem Maße gegenseitig imitieren

als zweieiige Zwillinge.

Dies bedeutet, dass die Tatsache einer höheren Korrelation der Intelligenzquotienten bei eineiigen im Vergleich zu zweieiigen Zwillingen zumindest teilweise darauf zurückgeführt werden könnte, dass sich zentrale Umweltfaktoren in viel stärkerem Maße gleichförmig auf beide Geschwister eines eineiigen Zwillingspaares auswirken als auf Individuen eines zweieiigen Zwillingspaares. Eineiige Zwillinge könnten von ihrer Umwelt in viel stärkerem Maße zu ähnlicher Ausprägung von Merkmalen gedrängt werden bzw. sich gegenseitig drängen als zweieiige. Mit anderen Worten, selbst wenn die Gene keine Rolle spielten, müssten die beiden Arten von Zwillingspaaren unterschiedliche IQ-Korrelationen aufweisen, weil die Umwelt unterschiedlich auf sie reagiert und weil die eineiigen Zwillinge dazu neigen, sich einander anzugleichen.

Jay Joseph

In seinem Buch über die “Gen-Illusion” (5) hat sich Jay Joseph ausführlich mit den methodischen Problemen der empirischen Zwillingsforschung auseinandergesetzt. Von ihm stammt auch das oben vorgetragene Argument zur Kritik an dieser Forschungsrichtung. Joseph weist nach, dass es überhaupt nur ein Untersuchungsdesign geben kann, dass einen nach menschlichem Ermessen halbwegs sicheren Nachweis der Erblichkeit des Intelligenzquotienten erbringen könnte. Man müsste eineiige Zwillinge untersuchen, die unmittelbar nach der Geburt getrennt wurden und die dann in deutlich voneinander unterschiedenen Milieus aufwuchsen. Einen völlig sicheren Nachweis auf dem Wege der Zwillingsforschung kann es nicht geben, da auch getrennt lebende eineiige Zwillingspaare während einer wichtigen Phase ihres Lebens eine gemeinsame Umwelt teilen, nämlich im Mutterleib.

Wenn die Korrelation zwischen den IQ bei eineiigen Zwillingspaaren, die getrennt aufwuchsen, statistisch signifikant höher wäre als die Korrelation bei zweieiigen Zwillingspaaren, dann könnte man den erblichen Anteil des Intelligenzquotienten, im Rahmen des Möglichen, methodisch einwandfrei abschätzen. Das beste Design bestünde darin, eineiige und zweieiige Zwillingspaare miteinander zu vergleichen, die allesamt getrennt voneinander direkt nach der Geburt in Familien aus unterschiedlichen Milieus gegeben wurden. Wenn unter diesen Bedingungen die eineiigen eine deutlich höhere Korrelation aufwiesen als die zweieiigen, dann wäre es kaum haltbar, einen erblichen Anteil des Intelligenzquotienten in Frage zu stellen.

Ich schreibe hier ausdrücklich: “erblicher Anteil des Intelligenzquotienten” und nicht “erblicher Anteil der Intelligenz”, denn der Intelligenzquotient ist nur ein unvollkommenes Maß der Intelligenz. Davon später mehr.

Unglücklicherweise ist die Zahl eineiiger Zwillingspaare nicht besonders groß. Noch kleiner ist die Zahl eineiiger Zwillingspaare, die getrennt aufgezogen wurden. Aus diesem Kreis wuchs nur ein kleiner Teil in deutlich unterschiedlichen Milieus auf, da Zwillinge, die getrennt werden müssen, häufig in ähnliche Milieus vermittelt werden, oder gar in Familien, zwischen denen verwandtschaftliche Beziehungen bestehen. Aus dieser kleinen Gruppe, die für eine Untersuchung der Erblichkeit des Intelligenzquotienten in Frage käme, steht nur ein Bruchteil der Zwillingspaare für derartige Studien zur Verfügung. Diese Paare sind häufig nicht mehr auffindbar oder nicht willens, sich testen zu lassen.

Es gibt jedoch eine kleine Zahl von Studien zur Intelligenz mit getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen. Diese Untersuchungen sind allerdings methodisch fragwürdig und daher nicht eindeutig interpretierbar. Dies räumt sogar das Mainstream-Lehrbuch der Differentiellen Psychologie von Amelang und Bartussek ein (4). Von diesen Problemen erfährt der interessierte Laie, der sich über diese Fragestellungen durch die Mainstream-Medien informieren lässt, in aller Regel nichts.

Die empirische Basis für Aussagen zur Erblichkeit der Intelligenz ist viel zu klein, um Thilo Sarrazins These zu stützen. Die Behauptung des Autors, er referiere nur wissenschaftlich anerkannte Tatsachen, trifft eindeutig nicht zu. Die Zwillingsforschung ist höchst umstritten. Ich halte es im Übrigen nicht für ausgeschlossen, dass Erbanlagen bei der Entwicklung von Intelligenz eine Rolle spielen könnten; aber für Gewissheiten dieser Art reicht die vorhandene Datenbasis bei weitem nicht aus.

Gütekriterien

Jeder seriöse psychologische Test muss Gütekriterien erfüllen, vor allem muss er das, was er misst, möglichst zuverlässig messen. Es sollten also beispielsweise bei zwei aufeinanderfolgenden Messungen keine grob unterschiedlichen Werte herauskommen. Außerdem sollte er natürlich möglichst präzise das abbilden, was er zu messen vorgibt. Beim Intelligenztest ist dies natürlich die menschliche Fähigkeit, Probleme zu lösen.

Zur Validierung von Intelligenztests wird beispielsweise versucht, die Übereinstimmung zwischen Testergebnissen und dem intelligenten Verhalten “in freier Wildbahn” zu quantifizieren. So kann man beispielsweise den IQ eines Kindes mit seinen Zeugnisnoten korrelieren. Oder man kann den IQ eines Auszubildenden mit dem Erfolg in der Lehre in Beziehung setzen. Das Problem hierbei besteht darin, dass alle denkbaren Außenkriterien der Intelligenz auch von anderen Faktoren abhängen. Schulnoten beispielsweise sind nicht nur das Ergebnis der kognitiven Kapazität eines Schülers, sondern auch seines Fleißes, seiner Fähigkeit, sich ins rechte Licht zu rücken, seiner Frustrationstoleranz sowie zahlloser anderer Faktoren, die nichts mit Intelligenz zu tun haben. Außerdem fließen in Zeugnisnoten natürlich auch die Vorlieben und Abneigungen des Lehrers sowie eine Vielzahl anderer Faktoren ein, auf die gleichermaßen die Intelligenz des Schülers keinen Einfluss hat. Es erstaunt daher nicht, dass die Korrelationen zwischen dem IQ und solchen Außenkriterien meist eher gering, allerhöchstens aber mittelmäßig sind.

Daraus folgt: Selbst wenn sich erbliche Einflüsse auf die Höhe des Intelligenzquotienten methodisch sauber nachweisen ließen, so hätten man damit nur unter Beweis gestellt, dass die Fähigkeit, Intelligenztestaufgaben zu lösen, in einem gewissen Ausmaß genetisch mitbedingt ist. In welcher Weise und Ausprägung diese Fähigkeit mit der Intelligenz zusammenhängt, bliebe weiterhin ungeklärt. Zurück also zur eingangs gestellten Frage, was eigentlich der IQ bedeutet. Seine Bedeutung erschöpft sich streng genommen in den Korrelationen des entsprechenden Tests mit Außenkriterien wie Schulnoten, Berufserfolg etc. Ein IQ von 145 bedeutet also beispielsweise, dass der entsprechende Mensch höchstwahrscheinlich das Abitur schaffen wird, sofern er es anstrebt.

Wenn wir also nicht wissen, ob und in welchem Ausmaß der IQ angeboren ist, wie der IQ mit der Intelligenz zusammenhängt und was Intelligenz eigentlich ist, dann ist es sicher auch nicht gerechtfertigt, davon zu sprechen, dass es angeborene Intelligenzunterschiede zwischen den Ethnien gäbe. wir können dies allenfalls vermuten.

Eindeutige Experimente

Doch selbst wenn sich Unterschiede des Intelligenzquotienten zwischen Ethnien oder Rassen  nachweisen ließen (was umstritten ist), wäre damit noch lange nicht die Frage geklärt, ob sie auf Umweltbedingungen oder auf genetischen Faktoren beruhen. Es ist nicht damit zu rechnen, dass diese Frage in absehbarer Zeit geklärt werden kann. Dies liegt daran, dass die naturwissenschaftliche Genforschung weit davon entfernt ist, die potenziellen “Intelligenz-Gene” eindeutig zu bestimmen und dass beweiskräftige sozialwissenschaftliche Experimente zur Klärung dieser Frage aus pragmatischen und ethischen Gründen nicht verwirklicht werden können.

Solche Experimente müssten sich nämlich durch die folgende Grundstruktur auszeichnen: Man nehme beispielsweise ein paar hundert zufällig ausgewählte Neugeborene unterschiedlicher Rassen und ziehe sie in einem möglichst homogenen experimentellen Milieu auf. Dann teste man die Intelligenz und vergleiche die rassenspezifischen Durchschnittswerte. Dies wäre die einzige einwandfreie Methode zur Entscheidung dieser Frage. Alles andere ist mit willkürlichen Daten garnierte Spekulation.

Selbstverständlich müssten die Kinder zufällig aus ihren jeweiligen Grundgesamtheiten ausgewählt werden – und auch die Personen, die als experimentelle “Eltern” eingesetzt würden, müsste man ebenfalls nach dem Zufallsprinzip rekrutieren. Schließlich müssten Kinder und “Eltern” einander ebenfalls “randomisiert” zugeordnet werden. Wenn ein solches Experiment tatsächlich signifikante Unterschiede hinsichtlich der Fähigkeit zur Lösung bestimmter Intelligenztestaufgaben zwischen den Rassen erbringen sollte, dann würde ich es für sehr wahrscheinlich halten, dass diese Unterschiede auf genetischen Faktoren beruhen. Allerdings hat ein derartiges Experiment aus ethischen und pragmatischen Gründen keine Realisierungschance.

Experimentelle Neutralität

Und selbst bei diesem “sauberen” Verfahren hängen die Ergebnisse vom gewählten Intelligenzkonstrukt ab. Die rassische bzw. ethnische Neutralität ist also nicht zwangsläufig gewährleistet. Es könnte sein, dass die einzelnen Rassen und Ethnien unterschiedliche Intelligenzstrukturen haben und dass das gewählte Konzept bzw. der gewählte Test die eine oder andere Rasse begünstigt. Dies wäre dann der Fall, wenn der Test Aspekte überbetonen würde, die bei einzelnen Rassen oder Ethnien stärker ausgeprägt sind als bei anderen. Unter diesen Bedingungen wäre der IQ als singuläre Zahl denkbar ungeeignet, um die unterschiedliche kognitive Leistungsfähigkeit von Rassen oder Ethnien abzuschätzen.

Man hat zwar so genannte “Culture Fair IQ Tests” entwickelt, um derartige Verzerrungen auszuschalten, aber diese Versuche waren bisher nicht wirklich überzeugend. Es gibt zweifellos zahllose Aspekte der Intelligenz. Kein Intelligenztest kann alle Manifestationen intelligenten Verhaltens erfassen. Daher ist jeder Test selektiv. Da die gängigen Intelligenztests für die Praxis konzipiert wurden, beziehen sie vor allem Aspekte der Intelligenz ein, die für die Meisterung der Anforderungen in der modernen, technisch und naturwissenschaftlich geprägten Zivilisation relevant sind. Sie wurden im Übrigen vor allem in Europa und den USA entwickelt. Unter diesen Bedingungen muss man tatsächlich von Rassismus in numerischer Verkleidung sprechen, wenn Menschen aus anderen Kulturkreisen nach diesen euro-amerikanischen Maßstäben bewerten werden.

Verdummung durch Zuwanderung?

Kritiker unserer Migrationspolitik berufen sich gern auf angebliche IQ-Unterschiede zwischen Rassen und Ethnien und warnen vor einer Verdummung des deutschen Volkes durch Zuwanderung von Menschen mit niedrigen IQ. Dabei wird vorausgesetzt, dass dies eine negative Auswirkung auf unser Land hätte. Dementsprechend wäre zu klären, ob der IQ tatsächlich eine bedeutende Rolle in unserem gesellschaftlichen Leben und natürlich insbesondere in unserer Arbeitswelt spielt.

Die Intergenerationenmobilität (also der soziale Aufstieg bzw. Abstieg, der sich von einer Generation zur nächsten vollzieht) ist in kapitalistischen Staaten erheblich geringer als die Mobilität, die sich ergeben würde, wenn Berufspositionen nur nach dem Intelligenzquotienten vergeben würden. Das heißt: Tendenziell bleiben die Kinder von denen da oben auch da oben, gleich gleich, wie schlau oder wie dumm sie sind – und natürlich umgekehrt.

Die Korrelation zwischen dem IQ von Eltern und ihren Kindern ist relativ schwach – dies bedeutet, dass Kinder nicht selten intelligenter oder weniger intelligent sind als ihre Eltern. Selbst wenn die Eltern ausgesprochen smart sind, heißt dies noch lange nicht, dass auch die Kinder zu den hellen Köpfen zählen und umgekehrt. Bei den weit über- bzw. weit unterdurchschnittlich Intelligenten wirkt sich im Übrigen das wahrscheinlichkeitstheoretisch begründete Phänomen der “Regression zur Mitte” aus: Die Kinder von “Intelligenzbestien” sind in aller Regel bei weitem nicht so gescheit und die Kinder von “geistigen Tieffliegern” sind fast immer deutlich klüger als ihre Eltern.

Demgegenüber ist die Korrelation zwischen dem sozioökonomischen Status der Eltern und dem ihrer Kinder im Erwachsenenalter ziemlich hoch. Entschiede also über Karrierechancen ausschließlich der IQ, dann müsste sich die Intergenerationenmobilität erhöhen, da Kinder oftmals dümmer oder klüger sind als ihre Eltern, ganz gleich, aus welcher Schicht sie stammen. Fielen also die Privilegien und Benachteiligungen weg und ginge es nur um den IQ, dann säßen viel mehr Menschen, die aus der Unterschicht stammen, als heute in den Führungsetagen von Wirtschaft, Verwaltung und Politik. Dies würde in jedem Fall so sein, unabhängig davon, ob und in welchem Ausmaß die Intelligenz angeboren ist, denn Eltern und Kinder stimmen ja nicht, wie eineiige Zwillinge, genetisch weitgehend miteinander überein.

Intelligenz ist unwichtig

Intelligenz ist ohnehin für die Karriere de facto nicht besonders wichtig. Dies gilt insbesondere für Deutschland:

Es “entscheidet in keinem anderen Industriestaat die sozio-ökonomische Herkunft so sehr über den Schulerfolg und die Bildungschancen wie in Deutschland”, heißt es in dem Bericht “Internationale Leistungsvergleiche im Schulbereich”, der 2006 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung herausgegeben wurde.

In Deutschland stammen fast alle Führungskräfte in den größeren Wirtschaftsbetrieben aus der Oberschicht. Dies gilt auch für andere Großinstitutionen. Und das lässt sich wohl kaum mit Intelligenzunterschieden zwischen den Schichten erklären.

Doch dieses Phänomen beobachtet man keineswegs nur in Deutschland. Der amerikanische Wissenschaftler Richard C. Lewontin konnte empirisch nachweisen, dass ein Mann mit einem durchschnittlichem IQ von 100 eine 7,5 mal größere Chance hat, in die höchste Einkommensgruppe zu gelangen, wenn er aus einer Oberschichts- statt aus einer Unterschichtsfamilie kommt (6). Derartiges findet sich überall in der Welt.

Diese Überlegungen gelten  im Übrigen nicht nur für die Auf- bzw. Abstiegswahrscheinlichkeiten von Menschen aus unterschiedlichen Klassen, sondern gleichermaßen für die soziale Mobilität von Angehörigen rassischer und ethnischer Minderheiten.

Würden die beruflichen Positionen nur nach dem Intelligenzquotienten vergeben, dann würden in gemischtrassigen kapitalistischen Gesellschaften des Westens wesentlich mehr Nicht-Weiße Führungspositionen bekleiden als unter den heutigen Bedingungen – unabhängig davon, ob es genetisch bedingte IQ-Unterschiede zwischen den Rassen gibt oder nicht. In diesen Gesellschaften sind Farbige, bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil, erheblich seltener in gehobenen Berufspositionen zu finden als Weiße. Wäre nur der IQ für die Bewerberauswahl ausschlaggebend, dann fiele für weiße Berufsanfänger der erhebliche Vorteil weg, der heute mit dem sozioökonomischen Status der Eltern verbunden ist. Selbst wenn Farbige einen tendenziell niedrigeren IQ haben sollten, würde dieser Nachteil durch den Vorteil der Nichtberücksichtigung des sozioökonomischen Status’ der Eltern mehr als aufgewogen.

Fazit

Wer sich um die Intelligenzentwicklung unseres Volkes Sorgen macht, sollte weniger über Migranten, sondern vielmehr über die Selektionsmechanismen in unserer Arbeitswelt nachdenken. In unserem Lande hängen Karrierechancen nämlich nur geringfügig, wenn überhaupt, von der Intelligenz eines Arbeitnehmers ab. Erheblich wichtiger ist vielmehr, aus welchem Stall er kommt, die Kinderstube. Aus den bereits genannten Gründen garantiert die Herkunft aus den höheren Sozialschichten jedoch keineswegs eine brillante oder auch nur eine für gehobene Postionen ausreichende Intelligenz.

Dies bedeutet, dass in die Führungsetagen unserer Gesellschaft mit großer Wahrscheinlichkeit eine Vielzahl von Personen gelangen, die ihren Aufgaben aufgrund kognitiver Unzulänglichkeiten nicht gewachsen sind. Und diese Personen haben in aller Regel keinen Migrationshintergrund, sondern sie stammen aus “gutem Hause”. Wenn Deutschland sich abschafft, dann durch Nieten in Nadelstreifen und Vollpfosten auf Regierungsbänken. Die Migranten sind unschuldig.

Eine andere Frage ist natürlich, ob man sich eine Gesellschaft wünschen sollte, bei der allein der IQ darüber entscheidet, welche Position man in der Hierarchie der Macht und des Einkommens einnimmt. Viele werden die Hände bei dieser Vorstellung über dem Kopf zusammenschlagen und ausrufen: Wo bleiben denn die Persönlichkeit, das Gemüt, die Empathie, die sozialen Tugenden. Klar. Natürlich ist Intelligenz nicht alles. Aber was über die Intelligenz gesagt wurde, trifft gleichermaßen auch auf alle anderen wünschenswerten Charaktermerkmale zu. Die Herkunft aus gutem Hause, die weiße Hautfarbe oder die deutsche Abstammung stellen keineswegs sicher, dass man diese auch besitzt.

Anmerkungen

(1) Thilo Sarrazin: Ich hätte eine Staatskrise auslösen können, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Dezember 2010

(2) Herrnstein, Richard J.; Murray, Charles (1994). The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life. New York: Free Press

(3) Stern, E. (2010). Was heißt hier erblich? Die Zeit, 2. 9. 2010

(4) Amelang, M. & Bartussek, D. (1997). Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung. Stuttgart: Kohlhammer, Seiten 550 ff.

(5) Joseph, J. (2004). The Gene Illusion, Genetic Research in Psychiatry and Psychology Under the Microscope. New York: Algora Publishing

(6) Lewontin, R. C. (1982). Human Diversity. New York : Scientific American Library

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Trauma

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Sex sells. Dennoch irrte Freud

Sigmund Freud war davon überzeugt, allen Neurosen lägen sexuelle Störungen zugrunde. Diese Position wurde bereits von vielen seiner Zeitgenossen bezweifelt. Und dies nicht nur, weil Freud an ein Tabu rührte. Vielmehr sprachen die Tatsachen gegen ihn.

Zu Beginn seiner Karriere verband er die sexuelle Ursache noch mit dem Trauma; der sexuelle Missbrauch rief, so glaubte er, psychische Krankheiten hervor; später wandte er sich von dieser These ab, erfand den Ödipus-Komplex und unterstellte dem Kleinkind ein eigenständiges Begehren gegenüber seinen Eltern. Diese Kehrtwende, die aus dem Opfer einen Täter, aus dem Unschuldigen einen Schuldigen machte, wurde von Jeffrey M. Masson als opportunistischer Verrat gebrandmarkt (3).

Zu keiner Zeit seiner Laufbahn kam es Freud allerdings in den Sinn, dass ein Trauma allein, ohne hineinspielende Sexualität, Anlass zur Entwicklung “psychischer Krankheiten” geben könnte. Doch hier täuschte er sich. Auch Traumata ohne sexuellen Bezug können Menschen dazu verleiten, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Und die Konflikte, die mit dieser Rollenübernahme bewältigt werden sollen, sind zumeist nicht oder nicht in erster Linie sexueller Natur.

Dies wurde besonders krass deutlich während des 1. Weltkriegs. Massenhaft dekompensierten Soldaten, die bisher psychisch unauffällig waren, im Stahlgewitter an der Front. Dieses Phänomen trat infolge eines Innovationsschubs bei der Waffentechnik auf. Die Brutalität des Krieges hatte bisher unvorstellbare Ausmaße erreicht. Seit dem letzten großen europäischen Krieg (1870) vor dem 1. Weltkrieg hatte eine pyrotechnische Revolution den Krieg transformiert. Die moderne Chemie hatte Nitroglyzerin und Schießbaumwolle hervorgebracht. Die Granaten enthielten nunmehr hochexplosives Material,

  • das, anders als Schwarzpulver, sofort und vollständig verbrannte,
  • das wenig Rauch erzeugte und deswegen auch nicht die Position des Schützen verriet,
  • das kaum Rückstände in den Kanonenrohren hinterließ und so die Schussrate sowie die Reichweite enorm steigerte.
  • Die Granaten konnten nun Kilometer weit hinter der Frontlinie positioniert und durch rückstoßlose Träger abgefeuert werden, so dass ein Nachjustieren nach jedem Schuss nicht mehr erforderlich war.
  • Die Kanonen konnten also so schnell feuern, wie die Soldaten sie nachzuladen vermochten.

Daher trat die Kriegsneurose im 1. Weltkrieg zum ersten Mal als Massenphänomen auf und überraschte die militärische Führung wie auch die Medizin gleichermaßen. Mit so etwas hatte niemand gerechnet (4).

Zunächst glaubte man, dass die “nervliche” Dekompensation durch die physischen Wirkungen der explodierenden Bomben auf das Nervensystem verursacht würde; daher wurde der Begriff “Shell Shock” geprägt; jedoch erkannten die Psychiater sehr schnell, dass es sich bei diesem Phänomen um eine “psychogene Reaktion” handelte, denn die Störungen der Soldaten korrelierten nicht der physikalischen Wirkung und Intensität der Detonationen und traten mitunter sogar bei Leuten auf, die noch gar nicht an der Front waren.

Die Frontsoldaten brachen auch nicht etwa zusammen, weil sie unter, in früher Kindheit verursachten, Sexualkonflikten litten, sondern weil ihr Selbsterhaltungstrieb frustriert worden war. Die entsprechenden instinktiven Reaktionen waren blockiert worden. Sie konnten die Lebensgefahr weder durch Flucht, Angriff, noch durch Totstellen bewältigen. Dies führte zu den seltsamsten irrationalen Verhaltensmustern. In gebührender Schärfe hat diesen Gedanken meines Wissens als erster der britische Anthropologe und Psychiater William Halse Rivers Rivers herausgearbeitet (1).

Wer mit einer solchen akuten Stress-Reaktion überlebte und sich vom Schlachtfeld entfernte bzw. von ihm entfernt wurde, hätte sich nun eigentlich wieder beruhigen und zur Normalität zurückkehren können. Doch bei vielen, bei einer zunehmenden Zahl von Soldaten war dies nicht der Fall. Sie behielten ihre “Symptome” auch in der Etappe. Sie waren plötzlich taub oder stumm geworden, sie zitterten und schlotterten, sie konnten nicht mehr sprechen – und für all diese und ähnliche “Symptome” ließen sich keine körperlichen Ursachen identifizieren.

Andere Soldaten hatten sich im Schlachtgetümmel an der Front noch halbwegs im Griff, entwickelten ihre “kriegsneurotischen Symptome” erst in einer ruhigeren Umgebung. Diese bildeten, wenn man den einschlägigen Berichten von Zeitzeugen und den Analysen psychiatrischer Lehrbücher aus dieser Zeit Glauben schenken will, sogar die größere Gruppe der betroffenen Frontkämpfer.

Die “erkranken” Soldaten begaben sich nunmehr erneut in Gefahr, aber nicht an der Front, sondern im Behandlungszimmer des Militärarztes.  Der Arzt hätte nämlich folgende Diagnosen stellen können:

  1. Zwei Wochen Ruhe, dann zurück an die Front.
  2. Der Mann ist ein Simulant. Kriegsgericht; evtl. Todesstrafe, standrechtliche Erschießung.
  3. Der Mann ist psychisch krank, ab nach Hause.

Nur die Diagnose 3 entsprach dem Selbsterhaltungstrieb des “erkrankten” Soldaten und es war keineswegs sicher, dass er sie auch erhielt. Man setzte sich also einer erheblichen Gefahr aus, um einer noch größeren Gefahr zu entkommen.

Selbstverständlich zeigten einige der Soldaten auch Krankheitszeichen, die auf körperliche Ursachen, beispielsweise auf Schädigungen des Nervensystems durch Kriegseinwirkungen, zurückzuführen waren. Die militärpsychiatrischen Lehrbücher aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigen, welche große Sorgfalt der Differentialdiagnose gewidmet wurde. Einige wurden als Simulanten erkannt und der Militärgerichtsbarkeit zugeführt. Doch bei einer beträchtlichen Zahl der Betroffenen gelangten die Ärzte zu dem Schluss, dass keine bewusste Täuschungsabsicht vorlag (5).

Aus der Art der “Erkrankung” konnte man oftmals die unbewusste Bedeutung der “Symptome” erschließen:

  • “Ich zittere, kann nicht schießen!”
  • “Ich bin blind, kann nicht zielen!”
  • “Ich bin taub, ich kann die Befehle nicht hören!”
  • “Ich bin stumm, ich kann Kameraden nicht warnen!”
  • “Ich bin lahm, kann nicht marschieren!”
  • Klartext: ”Ich bin zu krank für die Front!”

Diese Reaktionen, so schrieb Rivers (1), seien die Äquivalente des Totstellens bei Tieren angesichts eines hoffnungslos überlegenen Fressfeindes. Bei diesen “Symptomen” handelt es sich selbstverständlich um eine metaphorische Form des Totstellens, weil “richtiges” Totstellen im Kugelhagel an der Front eben aus vielen Gründen kaum möglich ist. Dies lässt in der Regel weder der Feind, noch der eigene militärische Vorgesetzte zu. Daher bildete sich als Ersatz u. U. das “psychisch kranke” Totstellen des Kriegshysterikers heraus. Es erfolgte im Übrigen, wie bereits erwähnt, bemerkenswerterweise oft gerade nicht in der unmittelbaren Gefahrensituation des Krieges an der Front, sondern außerhalb dieses Rahmens, wenn die Rückkehr in diese unmittelbare Gefahrensituation drohte.

Unbewusste Inszenierungen

So etwas zeigt sich nicht nur im Kriege, sondern immer da, wo sich Menschen in vergleichbaren Situationen befinden wie an der Front – also im Fall ernsthafter Gefährdungen des eigenen Lebens oder der psychischen Integrität. Man denke beispielsweise an sexuellen Missbrauch, wo das Opfer nicht flüchten und nicht angreifen kann.  Der Psychoanalytiker Stavros Mentzos spricht von einem “hysterischen Modus der Konfliktverarbeitung” und schreibt hierzu:

“Der Betreffende versetzt sich innerlich (dem Erleben nach) und äußerlich (dem Erscheinungsbild nach) in einen Zustand, der ihn sich selbst quasi anders erleben und in den Augen der umgebenden Personen anders, als er ist, erscheinen lässt. Er versetzt sich in einen Zustand, in dem die eigenen Körperfunktionen und/oder psychischen Funktionen und/oder Charaktereigenschaften in einer solchen Weise erlebt werden und erscheinen, dass schließlich eine (angebliche) andere, eine quasi veränderte Selbstrepräsentanz resultiert.

Diese unbewusst angestrebte Änderung des eigenen Selbsterlebens und des eigenen Erscheinungsbildes erfolgt nicht richtungslos. Sie geschieht nicht in ubiquitärer und unspezifischer Weise, sie bezweckt ausgesprochen und zielgerichtet die neurotische Entlastung von einem intrapsychischen Konflikt. Sie kann als eine unbewusste tendenziöse Inszenierung mit dem genannten ‘Ziel’ verstanden werden.” (2)

Der Konflikt beim “kriegsneurotischen” Soldaten besteht zwischen dem Streben, sich selbst zu erhalten sowie dem Wunsch, ein guter Patriot zu sein und mit seinem Leben fürs Vaterland einzustehen. Der Konflikt eines missbrauchten Kindes zwischen seiner Furcht vor den Übergriffen des Vaters und seiner Liebe zu ihm ist ein weiteres Beispiel für seelische Phänomene, die nicht selten im “hysterischen Modus” bewältigt werden. Diese Form der Konfliktbewältigung kann auch fortbestehen, wenn die aktuelle Bedrohung nicht mehr gegeben ist – vor allem dann, wenn sie der Reflexion entzogen bleibt.

Da ich der Psychoanalyse skeptisch gegenüberstehe, verwende ich ihre Begriffe, und so auch den Begriff des “Unbewussten” mit großer Vorsicht. Anders als vielleicht manche Psychoanalytiker will ich damit nicht sagen, dass die betroffenen Menschen keinerlei Zugang zu den ins Unbewusste verdrängten Inhalten hätten und durch diese gesteuert würden wie Roboter. Vielmehr glaube ich, dass diese Menschen durchaus vermerkt haben, was sie antreibt, aber sie denken nicht darüber nach und ziehen daraus auch keine Schlüsse. Dieses Verhalten scheint ihnen die beste aller Alternativen zu sein, die sich ihnen in einer gegebenen Situation eröffnen. Auch dieser Anschein unterliegt natürlich nicht der kritischen Überprüfung.

Der Kriegsneurotiker beispielsweise, der zittert, sagt damit unbewusst: Schaut her, ich bin so krank, ich kann nicht schießen. Das Zittern ist ein Beschwörungsritual. Es soll den Arzt beschwören, ihn als krank einzustufen und ihn in die Heimat zurückzuschicken. Der Kriegsneurotiker kann sich das nicht klarmachen, denn, täte er dies, so müsste er ja als guter Patriot freiwillig zurück an die Front.

Wir sehen hier, dass nicht eigentlich das Trauma die Störung hervorruft, sondern die Reaktion der Umwelt auf die spontanen Verhaltensweisen nach dem Trauma. Der hysterische Modus der Konfliktverarbeitung, also die unbewusste Inszenierung wird überhaupt nur verständlich, wenn man sich die Erwartungen und Denkweisen, die Vorurteile und Glaubenssätze des “Publikums” vor Augen führt. Die Inszenierung ist eine unbewusste Mitteilung an dieses Publikum. Die Bedeutung des Publikums wird auch durch die Tatsache unterstrichen, dass es während des 2. Weltkriegs weitaus weniger Kriegsneurotiker in den Streitkräften der Sowjetunion gab als in denen der Vereinigten Staaten (6).

So bizarr und skurril, irrational und läppisch eine psychische Störung auch immer erscheinen mag – sie beruht auf dem Versuch einer Problemlösung, der in der gegebenen Situation subjektiv und mitunter auch objektiv die beste aller Möglichkeiten ist. Der so genannte psychisch Kranke ist nicht wirklich krank, in dem Sinne, dass er einem Prozess unterläge, den er nicht zu steuern vermöchte. Im Gegenteil: Er übernimmt die Rolle des “psychisch kranken” aus nachvollziehbaren Gründen, beispielsweise, um eine reale Gefahr zu vermeiden wie der “Kriegsneurotiker”. Auch wenn der “psychisch Kranke” ein Schauspieler ist und entsprechend agiert, so unterscheidet er sich von einem professionellen Schauspieler u. a. dadurch, dass es, anderes als bei Letztgenanntem, zu seiner Rolle gehört, sich sein Rollenspiel nicht klar vor Augen zu führen.

Es ist also absurd, von “psychischen Krankheiten” zu sprechen, weil Anpassungsreaktionen, die unter den jeweils gegebenen Bedingungen durchaus sinnvoll sind, nicht als krank gedeutet werden sollten. Ein Mädchen beispielsweise,

  • das vom Vater sexuell missbraucht wird und dass daraufhin seine Persönlichkeit spaltet,
  • indem es in der Schule die brave, unauffällige Schülerin und im Bett die Lolita darstellt,
  • dieses Mädchen rettet durch die Entwicklung einer “Multiplen Persönlichkeitsstörung” unter Umständen tatsächlich sein Leben.
  • Denn es könnte ja sein, dass es der Vater, wie angedroht, tatsächlich totschlägt, wenn es sich weigert, ihm sexuell zu Diensten zu sein, oder ihn gar verrät.

Wie pervers es da doch ist, von “psychischer Krankheit” zu sprechen.

Es handelt sich hier im Übrigen um “unbewusste” Inszenierungen und nicht um bloße Konditionierungen. Die Betroffenen sind ja zu komplexen Anpassungsleistungen an wechselnde Situationen mit hohem Anforderungscharakter gezwungen. Auf Basis von Automatismen ist das gar nicht möglich.

  • Das Mädchen, das sich als multipel inszeniert, muss ja in der Schule, um nach einer Nacht als Lolita im Bett des Vaters eine brave Schülerin darstellen zu können, der Lehrerin aufmerksam folgen und Anzeichen der seelischen Folgen des Missbrauchs erfolgreich dissimulieren.
  • Der hysterische Frontsoldat muss ja während der Untersuchung im militärärztlichen Behandlungsraum möglichst stimmig auf die diversen diagnostischen Maßnahmen des Arztes reagieren.

Menschliches Verhalten wird überwiegend durch Pläne bestimmt, die bewusst oder “automatisch” verwirklicht werden können. Mitunter geraten unterschiedliche Pläne auch in Konflikt zueinander. Da will einer beispielsweise ein guter Patriot sein und sich im Krieg bewähren. Aber er will auch sein Leben retten. Mitunter kann dieser Konflikt nur  durch eine unbewusst produzierte “Krankheit” bewältigt werden, z. B. durch eine so genannte Kriegsneurose.

Der gute Patriot kann den Wunsch, den Gräueln der Front zu entkommen, nicht bewusst ausleben, weil er dann ja ein Simulant, ein schlechter Patriot wäre und überdies natürlich fürchten müsste, standrechtlich erschossen zu werden. Daher verdrängt der “echte” Kriegsneurotiker den Konflikt zwischen Selbsterhaltungstrieb und Patriotismus; das Resultat ist die “Krankheit”: er wird stumm, blind, taub, lahm, zittert.

Dies ist der Motor jeder Verdrängung.

  • Wenn jemand beispielsweise den Wunsch verdrängt, seinen Chef zu verprügeln, so geschieht dies aus unbewusster Furcht vor den Konsequenzen einer entsprechenden Handlung.
  • Wenn jemand an der Front im Kugelhagel den Wunsch verdrängt zu desertieren, so treibt ihn natürlich die unbewusste Furcht vor dem Standgericht dazu.
  • Wenn ein sexuell missbrauchtes Kind seine Persönlichkeit spaltet, so treibt es die unbewusste Furcht davor dazu, dass der Täter seine Drohungen wahrmacht.

Die so genannte “psychische Krankheit” ist nun der unbewusste (also der meist zwar vermerkte, aber nicht reflektierte) Kompromiss. Mit ihr zieht man sich aus der Affäre. Das hat zwar einen Preis. Aber das Unbewusste ist bereit, diesen Preis zu zahlen, wenn es glaubt, damit billiger wegzukommen als durch jede andere Problemlösung. Wie bereits erwähnt, ist mit dem Unbewussten eine gleichsam wissende Form des Nicht-Wissens gemeint. Man stellt sich dumm und zu dieser Rolle gehört es, so zu denken und zu handeln, als wisse man gar nicht, dass man sich dumm stellt.

Während ich an der Existenz eines Freudschen Unbewussten, das Produkt von Verdrängung ist, durchaus zweifele, stelle ich doch nicht in Frage, dass an den meisten Hirnprozessen mit Bezug auf unser Verhalten und Erleben das Bewusstsein gar nicht beteiligt ist. Das menschliche Nervensystem ist eine komplizierte “Maschinerie” und nur ein kleiner Teil seiner Arbeit wird bewusst. Im Allgemeinen umgeht das Gehirn das Bewusstsein, wenn dessen Einschalten zu suboptimalen Ergebnissen führen würde.

  • Wenn ein wildes Tier auftaucht, dann muss man  schnell flüchten, angreifen oder sich tot stellen. Da kann man nicht lange überlegen. Die unbewussten Teile des Gehirns übernehmen die Aufgabe der Entscheidung unter Umgehung des Bewusstseins.
  • Wenn der Hass auf den Chef ein solches Ausmaß erreicht hat, dass ein Bewusstsein dieses Affekts zu unkontrollierten Wutausbrüchen führen könnte, dann entscheidet sich das Gehirn mitunter, dieses Hassgefühl vom Bewusstsein fernzuhalten.

Solche Prozesse können durchaus dem Bewusstsein vollständig entzogen sein. Dies bedeutet aber nicht, dass sie dem Bewusstsein nunmehr nur durch eine Psychoanalyse wieder zugänglich gemacht werden könnten. Wir können, wenn wir darüber nachdenken, durchaus eine zutreffende Antwort darauf geben, warum wir auf das Tier beispielsweise mit Flucht reagiert und warum wir die Wut auf den Chef unterdrückt haben. Wenn wir dies aber nicht mehr können, dann ist das oft ein untrügliches Anzeichen dafür, dass wir die Rolle des “psychisch Kranken” übernommen haben.

Da hilft kein Arzt

Mitunter wird die Rolle des “psychisch Kranken” weitergespielt, auch wenn die Gefahr längst gebannt ist. Dies wird der Fall sein, wenn der Betroffene nicht erkennt, dass ihm keine Gefahr mehr droht, oder wenn ihm sein Rollenspiel über die Meisterung der Gefahr hinaus Vorteile gebracht hat. Da hilft kein Arzt. Da helfen nur korrektive emotionale Erfahrungen, u. U. in einem wohlwollenden und verständnisvollen Umfeld.

Hier höre ich häufig den Einwand, dass Traumatisierte doch oft erheblich unter ihren grausamen Erfahrungen leiden würden. Dies spreche doch dafür, dass diese Erlebnisse eine Krankheit ausgelöst hätten. Meine Interpretationen seien kalt, über-rational, ich solle doch mein Herz sprechen lassen. Das Konstrukt “psychische Krankheit” erklärt dabei allerdings weder die Natur, noch die Dauer, noch die Intensität dieses Leidens. Es ist völlig willkürlich, solchen abscheulichen Vorgängen das Etikett “psychische Krankheit” anzupappen, als würde dadurch irgend etwas besser, und sei es auch nur, besser verständlich. Gerade weil ich mein Herz sprechen lasse, möchte ich meine Mitmenschen vor derartigen, selbstentmutigenden Konstrukten warnen.

Ich brauche dieses Konstrukt nicht, um das Leiden eines Opfers solcher Grausamkeiten zu verstehen und ich brauche es auch nicht, um mich gegenüber Opfern solcher Grausamkeiten angemessen zu verhalten. Die grausame Tat kann zur Entwicklung eines spezifischen Lebensstils führen, der als Antwort auf sie verstanden werden kann, als Bewältigungsversuch. Dieser Lebensstil aber wird zunehmend unabhängig vom ursprünglichen Anlass (dem Trauma) und wird zu einem Bewältigungsversuch von Lebensproblemen schlechthin. Es kann natürlich sein, dass dieser Lebensstil anderen als rätselhaft und normabweichend (deviant) erscheint – anderen beispielsweise, die das Schicksal dieses Menschen nicht kennen oder denen die notwendige Empathie fehlt.

Das Etikett “psychisch krank” wird die Situation der Betroffenen mit Sicherheit nicht verbessern. Oder präziser formuliert: Nur wenn Opfer von “Traumatisierung” gezwungen werden, sich – bewusst oder unbewusst – als “psychisch krank” zu inszenieren, um Hilfe zu erhalten, dann verbessert sich ihre Situation durch diese Inszenierung objektiv – aber in einer Weise, die als pervers zu klassifizieren ich mich nicht scheue.

Auch der Begriff “Traumatisierung” ist im Grunde unangemessen, weil er letztlich nichts anderes ist als die Medikalisierung der Folgen einer Straftat oder der verwerflichen Neigung von Völkern, Kriege gegeneinander zu führen. Das betroffene Kind, der betroffene Soldat mussten schreckliche, grausame Erfahrungen durchleiden und diese schrecklichen, grausamen Erfahrungen lassen die Geschädigten oftmals das ganze spätere Leben nicht mehr los. Das ist nicht krank, das ist normal!

Thesen

Seitdem die Feministinnen das Trauma für sich entdeckt haben, hat sich die Zahl der Forschungsarbeiten zu diesem Thema vervielfacht. Es ist im Grunde unmöglich, hier auch nur einigermaßen den Überblick zu behalten. Auch ich konnte nur Stichproben ziehen, aber was ich las, bestärkte mich in der Ansicht, dass wir trotz dieser wahren Flut an Studien und Überlegungen zum Zusammenhang von Traumata und “gestörtem Verhalten” über reichlich wenig empirisch erhärtete Erkenntnisse verfügen.

Daher erlaube ich mir, hier einige spekulative Thesen vorzutragen, die den Stand meiner Überlegungen zu dieser Problematik zusammenfassen und die ich als vorläufig betrachte:

  1. Wie alle psychiatrischen Begriffe krankt der Terminus “psychisches Trauma” an seiner Vagheit. Was soll man sich unter einer psychischen Verletzung vorstellen, wenn noch nicht einmal klar gesagt werden kann, was denn die Psyche sei. Wir alle haben eine deutliche, bildhafte Vorstellung davon, was eine körperliche Verletzung ist. Unsere innere Galerie quillt über vor Bildern von Unfällen und Gewalttaten. Doch eine seelische Verletzung ist offenbar etwas sehr Abstraktes, wenig Anschauliches. Allenfalls können wir uns das Verhalten von Menschen vorstellen, die unter einer psychischen Verletzung leiden. Doch das ist keine Vorstellung der Verletzung, die partout nicht vor unserem inneren Auge erscheinen will, was uns bei richtigen Verletzungen mühelos gelingt.
  2. Natürlich weiß dennoch jeder, was gemeint ist, wenn von psychischer Traumatisierung gesprochen wird. Der schiere, pure, reine, kristalline Schrecken ist jedem vertraut, sei es aus eigener Erfahrung oder sei es als Ausgeburt der Fantasie. Auch wenn der Begriff der psychischen Traumatisierung vage ist, so könnte die Realität dessen, worauf er sich bezieht, nicht präsenter, nicht krasser sein. Diese Realität ist sogar so brutal gegenwärtig, wühlt das Bewusstsein derart heftig auf, dass viele Menschen eher nicht geneigt sind, allzu viel Zeit darauf zu verwenden, ihre Natur zu ergründen. Als ich vor vielen Jahren als junger Psychologiestudent ein Praktikum in der Sicherheitsabteilung eines Industriebetriebes machte, fragte ich den Sicherheitsingenieur, warum man denn keine Plakate mit drastischen Darstellungen typischer Unfälle zur Abschreckung aufhänge. Der Mann lächelte milde und sagte: “Weil dann die Leute sofort abschalten!”
  3. Auch weil die Leute sofort abschalten, können Trauma-Experten mit seltsamen Ideen im Trüben fischen. So wird beispielsweise behauptet, ein psychisches Trauma sei die direkte, automatische Folge eines Ereignisses, das zu einer starken seelischen Erschütterung führe und mit den Gefühlen der Hilflosigkeit verbunden sei. Doch dies widerspricht jeder Erfahrung. Wer ein solches, schreckliches Ereignis wie beispielsweise eine Naturkatastrophe erlebt hat und durch dieses Phänomen seelisch aufgewühlt wurde, der putzt sich das häufig mehr oder weniger schnell von der Backe, wenn er es körperlich halbwegs unbeschadet überstanden hat und freut sich darüber, noch einmal davon gekommen zu sein.
  4. Um ein psychisches Trauma entstehen zu lassen, reicht eine schreckliche Erfahrung allein nicht aus. Der Mensch ist zäh, ihn wirft so leicht nichts aus der Bahn. Als die Menschheit aus dem Tier-Mensch-Übergangsfeld hervorging, da lebten die Menschen in Clans, in solidarischen Kleingruppen zusammen. Sie waren aufeinander angewiesen, niemand konnte es sich leisten, aus der Reihe zu tanzen, und alle mussten einander beistehen, wenn der Stamm, auf den man auf Gedeih und Verderb angewiesen war, überleben sollte. Diese Frühmenschen waren beständig den Naturgewalten ausgesetzt und schreckliche Erfahrungen gehörten zum Alltag. Man hielt zusammen, versuchte, die Gefahren zu meistern, tröstete einander, gab einander Schutz. Unsere Erbanlagen bilden dieses basale Verhalten bei Katastrophen ab; darauf sind wir genetisch vorbereitet.
  5. Ein psychisches Trauma entsteht durch Abweichung von diesem Grundmuster. Beispiele: Ein Vater penetriert seine siebenjährige Tochter, sie  hat fürchterliche Angst und Schmerzen, hinterher droht er ihr, sie umzubringen, wenn sie etwas darüber verrate. Bei einer Havarie bricht Chaos aus, die Mannschaft versagt und der Kapitän verlässt als erster das sinkende Schiff. Das ist der Stoff, aus dem die Traumen sind. Nicht der extreme Stress traumatisiert, sondern menschliches Fehlverhalten im Zusammenhang mit dieser Erfahrung. Aufgrund der bereits beschriebenen genetischen Prägung sind wir Menschen in Extremsituationen hochgradig aufnahmebereit für die Mitteilungen unserer Mitmenschen. Dies ist auch der Grund, warum bei jeder Erfolg versprechenden Gehirnwäsche die Opfer extremem Stress ausgesetzt werden.
  6. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ein psychisches Trauma spontan vergessen wird. Etwas derart Ungeheuerliches vergisst man einfach nicht. So etwas brennt sich unwiderruflich ins Gedächtnis ein. Betroffene werden oft ein Leben lang von solchen Erinnerungen gequält, und dies nicht selten jeden Tag. Falls sich Opfer seelischer Traumatisierung dennoch nicht daran erinnern können, so wurden sie dressiert zu vergessen. Gehirnwäscher beispielsweise konditionieren durch Suggestionen und Folter künstliche Gedächtnisblockaden, meist unterstützt durch den Einsatz von Drogen und Elektrokrampfbehandlungen. Doch solche artifiziellen Amnesien sind naturgemäß selten; in aller Regel leiden die Betroffenen unter unauslöschlichen, bleibenden Erinnerungen.
  7. Besonders gravierend sind seelische Verletzungen, wenn das Fehlverhalten von Menschen begangen wird, denen das Opfer vertraut, die es liebt, von denen es dauerhaft abhängig ist. Traumatisierungen infolge des Fehlverhaltens emotional neutraler Personen sind leichter zu überwinden als solche, bei denen Opfer und Täter eine emotionale Beziehung verbindet. Im Allgemeinen ist es nicht möglich, derartige Traumatisierungen zu “heilen”; in aller Regel müssen die Opfer unausweichlich mit ihren quälenden Erinnerungen und den damit eventuell verbundenen Beeinträchtigungen bis an das Ende ihrer Tage leben.
  8. Es mag unter den Bedingungen einer solchen Traumatisierung als die beste Alternative erscheinen, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Und dies auch dann, wenn eine solche Rollenübernahme nicht mehr der Vermeidung von Gefahren dient. Eine Frau beispielsweise, die ihre Kindheit und frühe Jugend in der Furcht vor einem handgreiflichen Vater verbrachte, hat u. U. Verhaltensmuster ausgeprägt und beibehalten, die ihre Mitwelt ratlos machen oder Spott herausfordern. Wenn sie nun die Rolle der “psychisch Kranken” übernimmt, so ist ihre seltsame Art zumindest erklärt und weitere Vorteile können zur Übernahme und Beibehaltung dieser Rolle motivieren. Ich will niemanden verurteilen, der sich auf ein solches Spiel einlässt; allein, es will mir scheinen, dass dies kein menschenwürdiges Leben ist.
  9. Die Opfer von schwersten Traumatisierungen dieser Art haben nur eine Chance, ein halbwegs menschenwürdiges Leben zu führen. Diese besteht darin zu lernen, aufrecht mit den Auswirkungen zu leben. Die Grundvoraussetzung dafür ist, sich zu seinen Hassgefühlen und zu seinen Rachegedanken zu bekennen. In der Frühzeit des Menschengeschlechts wurden Stammesmitglieder, die im Notfall in unverzeihlicher Weise gegen die Gebote der Solidarität verstießen, erbarmungslos aus dem Clan ausgeschlossen und “in die Wüste geschickt“. Die Tendenz, so zu reagieren, ist uns angeboren. Ein schwer Traumatisierter darf diese Impulse nicht unterdrücken. Versöhnung ist Gift.
  10. Falls Betroffene Opfer gewaltsam eingepflanzter Gedächtnisblockaden sind, so ist es entscheidend, dass die Erinnerungslücken soweit wie möglich geschlossen werden. Es muss auf jeden Fall versucht werden, die durch Gedächtnisarbeit wiedererlangten Erinnerungen zu verifizieren. Es ist verheerend, sie als so genannte “narrative Wahrheiten” zu verbuchen, sie also im Vagen zu belassen. Dies kommt nämlich einer Re-Traumatisierung gleich, denn das Entwerten einschlägiger Erinnerungen gehörte ja auch zu den Zielen der Täter.
  11. Der Lebensstil schwer traumatisierter Menschen ist keine psychische Krankheit, sondern eine Variante menschlichen Daseins, die durch die Geschichte und die Bedingungen dieses Daseins vollständig erklärt wird. Psychopathologische Zusatzannahmen sind nicht nur irreführend und überflüssig, sie sind auch eine indirekte Exkulpation der Täter, weil sie einen Teil der Auswirkungen des Verbrechens durch eine besondere (meist als ererbt vorgestellte) Vulnerabilität des betroffenen Individuums erklären.

Zum Abschluss meiner Meditationen mag ich nicht verhehlen, dass selbstverständlich das Rollenspiel der traumatisierten “Kranken” auch ein Versuch sein kann, den Verdacht der Feigheit von sich abzuwenden. Der “Kriegshysteriker” sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, zu feige zum Heldentod oder zur Desertion gewesen zu sein. Die in ihrer Kindheit missbrauchte Frau sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, zu feige dazu gewesen zu sein, den Täter vor Gericht zu ziehen und den Prozess gegen ihn durchzustehen. Wer jedoch krank ist, den trifft keine Schuld – er hatte, ohne eigenes Zutun, nicht die Kraft dazu, seinen Mann oder seine Frau zu stehen.

Hier kommen Therapeuten und Therapeutinnen ins Spiel, die mit etwaigen Schuldgefühlen zu spielen verstehen wie auf einem Piano. Die tröstenden Worte laufen darauf hinaus, dass sich niemand für seine Krankheit schämen müsse. Auf die Idee, dass diese Scham nicht durch eine nur eingebildete, sondern durch eine tatsächliche Schuld hervorgerufen wurde, kommen sie nicht. Damit berauben sie ihre Patienten und Patientinnen der Chance, sich mit dieser existenziellen Dimension ihres Daseins auseinanderzusetzen. In einem existenziellen Sinn kann man auch versagen angesichts einer Bedrohung durch einen übermächtigen Aggressor. Das Versagen besteht darin, nicht das heroische Scheitern riskiert zu haben.

Schuldgefühle, die evtl. durch Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken” gebannt werden sollen, sind der Preis für die Weigerung, diese keineswegs nur fantasierte Schuld einzuräumen. Der Preis dafür kann hoch sein, sehr hoch. Manche schleppen sich, gebeutelt von den entwürdigenden “Symptomen psychischer Krankheiten”, durchs Leben, weil sie lieber diese Rolle spielen, als sich zu ihrer Schuld zu bekennen, sie auf sich zu nehmen, ihre Last auf den Schultern zu spüren und – sie sich dann zu verzeihen.

Anmerkungen

(1) (Rivers, W. H. R. (1920). Instinct and the Unconscious. A Contribution to a Biological Theory of the Psycho-Neuroses. Cambridge: Cambridge University Press).

(2) Mentzos, S. (1980, 2004): Hysterie. Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen)

(3) Masson, J. M. (1984). Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmend Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie. Reinbek: Rowohlt

(4) Shephard, B. (2001). A War of Nerves: Soldiers and Psychiatrists in the Twentieth Century. Harvard: Harvard University Press

(5) vgl. z. B. Roussy, G. (1918). The Psycho-Neuroses of War. London: University of London Press

(6) Gabriel, R. A. (1988). The Painful Field. The Psychiatric Dimension of Modern War. New York, Westport, Con., London: Greenwood Press

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