Unter den Geißeln der Menschheit wie Krebs, AIDS, Krieg und Hungersnöte, findet sich eine, eine emotionale Pest, die von den meisten Menschen gar nicht als das erkannt wird, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich die Moral. Auch ich verwende den Begriff in uneigentlichem Sinn mitunter positiv als Synonym für eine Regung des Gewissens. Doch diese Begriffsverwendung ist, streng betrachtet, nicht statthaft, denn es ist kaum ein größerer Gegensatz denkbar als der zwischen Moral und Gewissen.
Ein Beispiel: Die Moral gebietet zu arbeiten, gern und fleißig. Zahllose Menschen, die ihre Arbeit verlieren und keine neue finden, sind verzweifelt, werden depressiv, ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück oder nehmen Jobs an, deren Bezahlung geringer ist als die Sozialleistung, auf die sie Anspruch hätten. Die sich bei diesen Menschen einstellenden moralischen Gefühle sind rational betrachtet natürlich nicht gerechtfertigt. Unser Wirtschaftssystem produziert, als Kollateralschaden, regelhaft Arbeitslose; und angesichts der Revolution im Bereich der Roboter wird die Quote der Arbeitslosen in Zukunft noch erheblich steigen. Es ist also den Glücklichen, die einen Arbeitsplatz besitzen, durchaus zuzumuten, dass sie für den angemessenen Unterhalt derjenigen aufkommen, die dieses Glück nicht hatten.
Das Gewissen ist die dem Menschen eigentümliche Tendenz, sich bei jeder Handlung zu fragen, ob sich daraus unzumutbare und vermeidbare Auswirkungen für andere ergeben. Das Gewissen kennt keine abstrakten, allgemein verbindlichen Prinzipien, sondern es würdigt jeden Einzelfall in seiner Besonderheit. Darum war es auch schon immer da. Als der Mensch zum Menschen wurde, als er seine überragende Symbolisierungsfähigkeit, die menschliche Sprache entwickelte, als er lernte, sein Verhalten zu planen und dessen Resultate vorherzusehen, da wurde auch das Gewissen in sein Erbgut eingesenkt. Damals aber, in dieser Frühzeit unseres Geschlechts, war das Bewusstsein noch bewusstes Sein, Dasein und sonst nichts; die Abstraktionen der Ideologien waren ihm fremd, und daher gab es auch noch keine Moral. Diese emotionale Pest entsteht erst in den Klassengesellschaften.
Die Moral gebietet, sich den Genuss zu verdienen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, heißt der entsprechende Sinnspruch. Es gibt durchaus eine genuine psychologische Verknüpfung zwischen Leistungsbereitschaft bzw. -fähigkeit auf der einen und dem Spaß, der Freude am Leben auf der anderen Seite. Doch die gestaltet sich anders als die Moral suggeriert. Eine freudlose Arbeit ist nicht die Legitimation dafür, hinterher Spaß haben zu dürfen. Vielmehr bilden Spaß und Ernst, Anstrengung und Überschwang in sinnvoller Tätigkeit eine untrennbare Einheit. Der Sozialanthropologe Leo Kofler spricht daher von den dionysischen und den apollinischen Tendenzen, die heute nur noch im Spiel vereint seien, wohingegen deren Verschränkung in der Frühzeit die gesamte menschliche Tätigkeit kennzeichnete. Die Moral mag den Menschen, der über die Strenge schlägt, ohne sich dafür durch Leistung zu rechtfertigen, zwar verdammen; Tatsache aber ist, dass er sich dadurch nur schadlos hält für etwas, was ihm in unserer kapitalistisch-ausbeuterischen Welt vorenthalten wird, nämlich die Erfüllung in unentfremdeter, sinnhafter Tätigkeit.
Man könnte Beispiele für den Pestcharakter der Moral nicht nur in der Arbeitswelt, sondern in allen Bereichen des menschlichen Daseins finden, zum Beispiel im sexuellen; ich überlasse es der Fantasie des Lesers, sich diese Exempel selbst auszumalen. Es geht immer darum, ein abstraktes, angeblich allgemein verbindliches Prinzip an die Stelle der konkreten, auf die Situation bezogenen Gewissensregung zu setzen. Von dieser Substitution profitieren aber vor allem die Reichen und Mächtigen, die selbst allerdings zumeist nicht durch besonders aufgeprägte Moralität auffallen. Denn die Moral substituiert nicht nur das Gewissen, sondern sie beeinträchtigt auch den Verstand, indem sie das kritische Denken unterdrückt. Wer sich beispielsweise unter Wert verdingt, obwohl sein Lohn, wenn überhaupt, kaum Hartz-4 übersteigt, der handelt nicht nur unwirtschaftlich, sondern er betrügt sich selbst, weil er aufgrund seiner Moral nicht mehr in der Lage ist, sein absurdes Verhalten rational zu reflektieren.
Manche Leute sind dem Arbeitsleben vorübergehend oder dauerhaft nicht gewachsen. Sie werden “psychisch krank”. Die einen simulieren die “psychische Krankheit”, um der Tortur zu entkommen, die anderen übernehmen diese Rolle in dem festen Glauben, tatsächlich “psychisch krank” zu sein. Meine volle Sympathie gehört den Simulanten. Zu den ehrlich “Kranken” will ich mich nicht äußern. Nebenbei bemerkt: Da es keine objektiven Methoden gibt, um eine “psychische Krankheit” festzustellen, ist “psychisch krank”, wer von einem Arzt entsprechend diagnostiziert wurde. Mit dieser Diagnose ist also niemand ein Sozialbetrüger, auch wenn er simuliert.
Nun mag man mir vorhalten, die Säuglingsforschung zeige doch, dass die Moral angeboren sei. Sie sei also keine Fehlhaltung, die in Klassengesellschaften erworben werde. Selbst die Allerkleinsten hätten bereits einen Sinn dafür, dass anderen zu helfen gut und sie zu behindern böse sei. Sie nähmen es mit Begeisterung auf, wenn die Guten belohnt und die Bösen bestraft würden. Außerdem wünschten sich sich eine Gleichverteilung von Ressourcen und verabscheuten eine Begünstigung des einen auf Kosten des anderen. Auch seien ihnen moralische Gefühle wie Mitleid, Empathie und Scham nicht fremd (1).
So ist es. Doch all diese Phänomene sind frühe Manifestationen des Gewissens, nicht der Moral. Die frühen Menschen lebten in kleinen Gemeinschaften, sie waren auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, nur das Überleben des Stammes konnte die Existenz des Einzelnen garantieren, das Wir war wichtiger als das Ich. Ohne Gewissen wäre die Menschheit bereits damals untergegangen. Dass die Menschheit an der moralischen Pest noch nicht zugrunde gegangen ist, liegt daran, dass die Moral einige Funktionen des Gewissens in mehr oder weniger rudimentärer Form imitiert. Sie reduziert die Moral beispielsweise die Abneigung vor einer Ungleichverteilung von Ressourcen auf das Verhältnis von Gleichrangigen. So gebietet es auch die Moral, dass Menschen mit gleicher Tätigkeitsmerkmalen und vergleichbarer Leistung in derselben Firma auch in etwa dasselbe verdienen sollten. Zugleich aber schützt die Moral jene, die maßlosen Reichtum anhäufen, aber auf einer anderen Hierarchieebene stehen, indem sie Kritik daran beispielweise als Ausdruck verwerflichen Neides verdammt.
Die genetischen “Programme” das Menschen entstanden in einer Zeit, als unser Geschlecht in weitgehend egalitären Gemeinschaften zusammenlebte. Die Tätigkeiten des Einzelnen waren ebenso vergleichbar wie seine Leistungen und Bedürfnisse. Die Gewissensregungen, die sich in der Säuglingsforschung offenbaren, entsprechen exakt dieser Lebenssituation. Sie versagen bereits dort, wo beispielsweise ein Mensch aufgrund eines kranken Kindes trotz gleicher Leistung und Tätigkeit mehr benötigt als vergleichbare Referenzpersonen. In einer Stammesgesellschaft, in denen der Stamm Verantwortung für alle Kinder trägt, ist dies allerdings nicht problematisch.
Eine Gesellschaft ohne Moral, in der wieder das Gewissen dominiert, müsste Strukturen aufweisen, die denen der ursprünglichen Stammesgesellschaften entsprechen. In einer solchen Gesellschaft würde es sich “bezahlt” machen, anderen uneigennützig, also unbedingt zu helfen, solche Hilfe zu belohnen und deren Verweigerung zu bestrafen, Ressourcen gleich zu verteilen und sich in die Lage der anderen hineinzuversetzen.
Ich weiß, dass sich nicht nur Babys eine solche Welt wünschen. In uns allen, auch in uns Erwachsenen ist eine Urerinnerung an solche Zustände lebendig, als die Menschen einander stützten und ihr Dasein spielerisch gestalteten. Nur glauben die meisten von uns, dass diese Zeit unwiederbringlich verloren sei. Ob dies der Fall ist oder nicht, hängt ausschließlich von uns ab, der Menschheit. Wir tragen das Potenzial in uns, sie wiederauferstehen zu lassen.
Anmerkung
(1) Bloom, P. (2013). Just Babies. The Origins of Good and Evil. New York: Crown (Random House)
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