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Hysterie

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Zwischen den Flanken der Frau geistert die Gebärmutter umher, einem Tier sehr ähnlich, unstet und unberechenbar. Sie wandert mal hierhin, mal dorthin, von links nach rechts oder auch auf und ab. Angenehme Düfte ziehen sie an; vor Gestank flieht sie. Kurz also: Der Uterus ist ein Tier im Tier.

So dachte Hippokrates. Er machte die wandernde Gebärmutter für allerlei Beschwerden des weiblichen Geschlechts verantwortlich, wie beispielsweise für Erbrechen, Schläfrigkeit, Sprachverlust, Schwindel, Knieprobleme, Kopfschmerzen, Venen- und Nasenprobleme, Herzrasen, Unregelmäßigkeiten des Pulses und sogar für den Tod. Man schreibt Hippokrates den Begriff der Hysterie als Sammelbezeichnung für Störungen dieser Art zu, aber er findet sich nicht in seinen Werken.

Trotz gelegentlichen Widerstands gegen diese Theorie, den beispielsweise auch Galen ausübte, hielt sich die Vorstellung, dass die Hysterie ihren Ursprung in den Wanderungen des Uterus habe, bis ins 19. Jahrhundert. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts revolutionierte Sigmund Freud die Theorie der Hysterie; ihre “Symptome” galten ihm nunmehr als Ausdruck eines unterdrückten libidinösen Verlangens. Er schreibt in seinem Aufsatz “Allgemeines über den hysterischen Anfall” (1):

“Die Erforschung der Kindergeschichte Hysterischer lehrt, dass der hysteri­sche Anfall zum Ersatze einer ehemals geübten und seither aufgegebenen autoerotischen Befriedigung bestimmt ist. In einer großen Zahl von Fällen kehrt diese Befriedigung (die Masturbation durch Berührung oder Schenkel­druck, die Zungenbewegung u. dgl.) auch im Anfalle selbst unter Abwendung des Bewusstseins wieder. Das Auftreten des Anfalles durch Libidosteigerung und im Dienste der primären Tendenz als Tröstung wiederholt auch genau die Bedingungen, unter denen diese autoerotische Befriedigung seinerzeit vom Kranken mit Absicht aufgesucht wurde.”

Allein, der Uterus ließ sich von Freud durch solche Schmälerung seiner Bedeutung nicht verwirren; vielmehr trieb ihn seine ungebrochene Wanderlust über die engen Grenzen des weiblichen Leibes hinaus in den Körper von Männern hinein – von Männern, die vor dem Feinde an der Front Schwäche gezeigt und zu Kriegshysterikern geworden waren.

Heute ist der Begriff der Hysterie aus den diagnostischen Manualen der Psychiatrie verschwunden; das “Krankheitsbild” lebt aber fort in den “Syndromen” “dissoziative Störung”, “Histrionische Persönlichkeitsstörung” und “Konversationsstörung” oder gar “Posttraumatische Belastungsstörung”. Die Gebärmutter hat also nicht nur die Grenzen des weiblichen Körpers gesprengt, sondern sich schließlich in eine größere Zahl von Fragmenten aufgespalten, die nach wie vor allerlei körperliche und seelische Beschwerden hervorbringen, für die sich keine körperliche Ursache finden lässt.

Die moderne Psychiatrie hat sich nicht nur vom Begriff der Hysterie verabschiedet, sondern auch von der Theorie, dass ein wandernder Uterus für sie verantwortlich sei. Vielmehr ist man davon überzeugt, dass sie bzw. ihre Nachfolger-Syndrome, wie alle so genannten psychischen Krankheiten, auf einer Störung von Hirnprozessen beruhen, wobei man einräumt, dass diese Störung nicht allein auf erblicher Grundlage fuße, sondern zudem durch traumatische Erfahrungen ausgelöst sein könne. Wer nun allerdings glaubt, dass dies als wissenschaftlicher Fortschritt zu werten sei, sieht sich getäuscht. Denn die Psychiatrie konnte bisher noch keine körperlichen Prozesse identifizieren, die der Hysterie bzw. ihren diagnostischen Nachfolgern ursächlich zugrunde liegen (siehe “Einhorn, Bigfoot, Yeti, psychisch Kranker“).

Zwar glaubte man zunächst, dass Traumata zu einer Schrumpfung des Hippocampus führten und dass diese Schrumpfung dann die Symptome der traumatisch verursachten Hysterie hervorrufe. Doch dabei stützte man sich auf Korrelationsstudien, aus denen man bekanntlich keine Kausalität ableiten darf. In einer Untersuchung mit eineiigen Zwillingen, von denen jeweils nur einer später traumatisiert wurde, zeigte sich nämlich, dass auch der nicht-traumatisierte Zwilling einen verkleinerten Hippocampus hatte (2). Ein Mechanismus, der den verkleinerten Hippocampus ursächlich mit irgendwelchen “Symptomen” der Hysterie verbindet, ist nicht bekannt.

Nach wie vor arbeiten Ärzte in der Ursachenforschung zu den so genannten psychischen Krankheiten nach der Sherlock-Holmes-Methode; man verfährt ähnlich wie der Detektiv bei einer Tatort-Besichtigung: Man definiert Phänomene als Symptome und spekuliert dann über die Ursachen der angeblichen Krankheiten, die diese Symptome regelhaft hervorbringen. Diese Methode funktioniert stets einwandfrei, allerdings nur in den Sherlock-Holmes-Romanen. Die Wirklichkeit hat den Nachteil, dass wir sie nicht konstruieren können wie Arthur Conan Doyle seine Werke.

1917 nahmen zwei jungen Cousinen, Frances Griffiths und Elsie Wright, im englischen Cottinglay Fotos merkwürdiger Erscheinungen auf und schworen Stein auf Bein, es seien ihnen hiermit Aufnahmen von Feen gelungen. Die Feen, die Cottingley Fairies hatten die Gestalt kleiner Menschen, trugen luftige Kleider und hatten schmetterlingsartige Flügel. Die Bilder erregten die Aufmerksamkeit von Arthur Conan Doyle, der sich damals zum Spiritismus bekannte. Er war sogleich Feuer und Flamme. Ein Gutachter der Firma Kodak bezweifelte zwar die Echtheit der Aufnahmen, konnte aber eine Fälschung nicht eindeutig belegen. Erst in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde nachgewiesen, dass Doyle einem Schwindel aufgesessen war (3).

Die Cottingley Fairies erinnern mich an die Ursachentheorien der Psychiatrie. Die Phänomene, die mutmaßlichen Symptome gibt es wirklich, so wie ja auch die Fotos der angeblichen Feen tatsächlich existierten. Heute haben wir sogar bunte Bilder, Brainscans, die man deuten kann wie die Aufnahmen der Cottingley Fairies. Dem Erfinder von Sherlock Holmes galten die Feen-Fotos als Beweis für die Existenz und das Wirken übernatürlicher Mächte und heutige Psychiater sehen sich durch die Produkte bildgebender Verfahren in ihrem Glauben bestätigt, dass “psychische Krankheiten” Hirnerkrankungen seien.

Im Volksmund ist der Begriff der Hysterie ungebrochen lebendig und er steht für emotionale Exzesse aller Arten. In Kombination mit “Masse” bezeichnet er einen kollektiven Wahn, der sich mitunter wie ein Feuersturm ausdehnt. So spricht man beispielsweise von der Satanismus-Hysterie, die sich, ausgehend von den Vereinigten Staaten, weltweit verbreitete und in dem Glauben daran bestand, dass teuflische Sekten zahllose Kinder sexuell missbrauchen, foltern und sogar verspeisen würden. Inzwischen ist diese Hysterie wieder abgeebbt, wohl auch, weil sich nicht der Hauch eines Beweises für die Existenz solcher satanistischer Kulte beibringen ließ.

Was macht den Kern einer solchen Hysterie aus? Der tiefe Glaube, die unkorrigierbare Gewissheit, dass etwas existiere, was prinzipiell der empirischen Überprüfung zugänglich ist, wofür es aber dennoch nicht die Spur eines Beweises gibt. In diesem Sinne ist auch der Glaube an “psychische Krankheiten” eine Hysterie. Sie wird durch einen wandernden Uterus verursacht, der auch in den Körpern männlicher Psychiater nicht an der dafür vorgesehenen Stelle verharren will. Dass man ihn bei männlichen Wesen noch nicht nachweisen kann, bedeutet logischerweise nicht, dass es ihn dort nicht gibt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die moderne medizinische Forschung mit bildgebenden Verfahren auch die Existenz einer männlichen Gebärmutter zweifelsfrei belegen kann.

Was die Alten noch nicht wussten, was uns inzwischen aber die Naturwissenschaft enthüllt hat, ist die Tatsache, dass der Uterus auf seinen scheinbar ziellosen und wirren Wanderungen, wie das Wild zur Wasserstelle, dem Hirn zustrebt, um dort geistige Kinder zu gebären. Die Folge seines Wütens dort sind tiefe Risse, die so genannten Hirnrisse. Sie entstehen durch die Kräfte des Rückstaus, wenn die geistigen Kinder durch den engen Geburtskanal des Mundes drängen und sie schließen sich auch nicht mehr, wenn die Neugeborenen, bildlich gesprochen, in Windeln gelegt, also zu Papier gebracht werden.

Und so ist die moderne Psychiatrie aus dem Geiste des Uterus entstanden. Hippokrates hatte also doch Recht. Auch Freud könnte Recht haben, zumindest teilweise, wenn man die Ausgeburten psychiatrischen Denkens vielleicht nicht als dem verdrängten sexuellen Drange, wohl aber der Gier nach Macht und Geld geschuldet wissen will. Jean-Martin Charcot, der Begründer der modernen Psychiatrie, hielt die Hysterie für ein Symptom der Hypnose und diese für eine Krankheit. Auch in dieser Sichtweise könnte sich ein wahrer Kern offenbaren. Um diesen zu ergründen, empfehle ich dem Leser die Anwendung der Sherlock-Holmes-Methode.

Anmerkungen

(1) Freud, S. (1909). Allgemeines über den hysterischen Anfall. Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie, Bd. 1 (1),  S. 10-14. — Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 235-40

(2) Gilbertson, M. W. et al. (2002). Smaller hippocampal volume predicts pathologic vulnerability to psychological trauma. Nat Neurosci. Nov 2002; 5(11): 1242–1247

(3) Cottingley Fairies, Wikipedia

Zur Lektüre empfohlen:

Brainscans

Neurowissenschaften: Ein toter Lachs und eine dressierte Ziege

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