Die Juristin und Schriftstellerin Gabriele Wolff betreibt ein Blog, in dem häufig von Gustl Mollath die Rede ist und in dem auch diskutiert wird. Am 26. August 2013 fragte Gresch sie :
“Wie viel Menschen muss man einsperren, um eine schwere Straftat dieser Art zu verhindern? Dies hängt von der Validität psychiatrischer Prognosen ab. Sind Sie bereit, Frau Wolff, zehn, zwanzig harmlose Zeitgenossen hinter Gitter zu bringen, um einen Gewaltakt zu verhindern?”
Wolff antwortete:
“Natürlich nicht. Und das würde auch nicht geschehen, wenn Psychiater sich an ihre eigenen Standards halten würden; im Fall Mollath gibt es keine einzige wissenschaftlich fundierte oder auch nur nachvollziehbare Gefährlichkeitsprognose (die letzte von Pfäfflin ist wegen ihrer Beliebigkeit und wegen Widersprüchen zu seinen positiven Erkenntnissen zum Probanden gerade vom Generalbundesanwalt scharf kritisiert worden). Die Prognosen fußen allein auf dem lediglich postulierten kausalen Zusammenhang zwischen Störung und Taten.”
Setzen wir wohlwollend voraus, die Psychiater hätten sich gute Standards ausgedacht, um die gefährlichen von den ungefährlichen Menschen zu scheiden. Aber so, wie ein junger Chirurg lernen muss, die Standards der Chirurgie anzuwenden, muss auch die forensische Psychiater sich die standardgemäße Verwirklichung eines Gutachtens erst aneignen. Man lernt aber nur kraft Rückmeldung des Erfolgs oder Misserfolgs einer Aktion.
Im Falle des forensischen Psychiaters gestaltet sich die Rückmeldung wie folgt (Normalfall):
- Wenn er einen gefährlichen Menschen als ungefährlich einstuft und dieser begeht daraufhin eine Gewalttat, dann wird man ihn in der Luft zerreißen.
- Wenn er einen ungefährlichen Menschen als gefährlich einstuft und man diesen Menschen daraufhin einsperrt, so geschieht nichts, denn schließlich hätte der Mensch ja gefährlich werden können, wenn man ihn nicht hinter psychiatrische Gitter gebracht hätte.
Daraus folgt: Der Psychiater ist immer auf der sicheren Seite, wenn er sich für die Zwangseinweisung eines Menschen ausspricht; ansonsten geht er ein Risiko (für sich) ein. Selbst also, wenn er gute Standards hätte, würde er lernen, sich ggf. über diese hinwegzusetzen, um sich vor Schaden zu bewahren. Jeder Psychiater hat die Reaktionen der Medien vor Augen, wenn ein Kinderschänder aufgrund einer psychiatrischen Prognose freigelassen wird und dann erneut einschlägige Straftaten verübt.
Im Wiederaufnahmeverfahren Gustl Mollaths geht es darum, ob der Mann seine Frau malträtiert, Autoreifen zerstochen hat und wenn ja, ob er schuldfähig oder ob er “psychisch krank” und “gefährlich war, daher also zu Recht in den Maßregelvollzug eingewiesen wurde. In Gabriele Wolffs Blog wurde viel Tinte verspritzt, um wortreich und in allen Details nachzuweisen, dass die Gutachten, die Grundlage für Mollaths Einkerkerung in der Psychiatrie waren, von vorne bis hinter nicht den hohen Standards entsprachen, die sich die Psychiatrie selbst gegeben hat. Hier bietet sich der forensischen Psychiatrie eine der ganz seltenen Chancen, endlich einmal einen unverzerrten Lernprozess zu durchlaufen.
Im Saal sitzt Norbert Nedopil, ein Star der Gerichtspsychiatrie. Mollath will sich nicht von ihm begutachten lassen. Also ist der Psychiater darauf angewiesen, sein Verhalten im Prozess zu beobachten. Kein Zweifel will mich beschleichen, dass er dabei den hohen Standards seiner Zunft folgt. Diesmal aber ist er einem gleichsam seitenverkehrten Lernprozess unterworfen (Ausnahmefall):
- Wenn er Mollath als gefährlich einstuft, dann wird man ihn in der Luft zerreißen.
- Wenn er ihn als ungefährlich einstuft, so geschieht nichts (4).
Gäbe es objektive Verfahren zur Einschätzung der Gefährlichkeit, so wäre die Einstufung eines Menschen als gefährlich oder ungefährlich unabhängig von den jeweils aufgelisteten Resultaten für den Psychiater im Ausnahme- sowie im Normalfall. Doch ein solches Verfahren gibt es nicht: Zwar sind die statistischen Methoden der Gefährlichkeitsprognose tendenziell besser als das so genannte klinische Urteil, aber keine der Methoden produziert eine ethisch vertretbare “number needed to detain”. Die Zahl der Menschen, die psychiatrisch eingekerkert werden müssen, um auch nur eine Gewalttat zu verhindern, liegt weit über der Eins (1, 2). Salopp: Viele Harmlose müssen brummen, um einen Gefährlichen wegzusperren.
Und doch, wird mancher einwenden, gibt es Psychiater mit Fingerspitzengefühl, deren Gabe der Intuition es ihnen ermöglicht, die Spreu vom Weizen zu trennen. Natürlich ist die Intuition von Experten mitunter Gold wert; Daniel Kahneman schreibt:
“Valide Intuitionen entwickeln sich, wenn Experten gelernt haben, vertraute Elemente in einer neuen Situation zu erkennen und in einer Weise zu handeln, die dem angemessen ist (3).”
Diese Entwicklung setzt voraus, dass der werdende Experte unverzerrte Rückmeldungen erhält und dass die neuen Situationen Varianten bereits bekannter sind. Doch weder das eine, noch das andere ist in der forensischen Psychiatrie der Fall. Nicht nur ist das Feedback in der beschriebenen Weise verzerrt (andere Verzerrungen kommen hinzu), sondern auch die Lebenssituationen mutmaßlich gefährlicher Menschen weisen nicht annähernd jene Gleichförmigkeit aus, die den Erfolg intuitiven Entscheidens gewährleisten könnte.
Menschliches Verhalten hängt von zwei Arten von Variablen ab, nämlich solchen, die in der Person und solchen, die in der Umwelt liegen. Weder in der Umwelt, noch in der Person sind Mechanismen bekannt, die Menschen zu gewalttätigem Verhalten zwingen würden. Allenfalls sind bestimmte Person- bzw. Umweltmerkmale mit einer Tendenz zur Gewalttätigkeit assoziiert, doch diese Zusammenhänge sind nur schwach. Menschliches Verhalten in komplexen Situationen (also im realen Leben) ist schwer vorherzusagen. Auch Psychiater verfügen über keine besonders leistungsfähigen Glaskugeln, um Laien auszustechen. Wenn es aus dem Fall Mollath etwas zu lernen gibt, dann dies.
Anmerkungen
(1) Gresch, H. U. (2013). Mollath zu Recht hinter Gittern? Pflasterritzenflora
(2) Gresch, H. U. (2014). Klinische und statistische Vorhersagen. Pflasterritzenflora
(3) Kahneman, D. (1911). Thinking – Fast and Slow. London: Macmillan
(4) Selbst wenn Mollath in Zukunft gewalttätig werden sollte, womit noch nicht einmal seine ärgsten Feinde rechnen, so würden die Medien Nedopil diese “Falschprognose” nicht ankreiden, weil sie zuvor ja mehrheitlich sein “weises Urteil” bejubelt hätten.
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