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Mollath an der Tankstelle

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In einem Bericht zum Wiederaufnahmeverfahren Gustl Mollaths schreibt das Oberbayerische Volksblatt:

“Kurz vor der Mittagspause, die Kammer will sich schon zurückziehen, da meldet sich Jochen Horn zu Wort. Er ist der Anwalt von Petra M., der Ex-Frau Gustl Mollaths – und er stellt einen Antrag. Er will Akten aus Hannover in die Wiederaufnahme vor dem Regensburger Landgericht einbeziehen lassen. Denn in diesen Akten steht offenbar Brisantes: Mollath, 57, soll am 31. Dezember 2013 mit einer Bekannten so heftig an einer Tankstelle gestritten haben, dass sogar Passanten eingegriffen hätten. Die Frau sei ‘vollkommen verängstigt und schockiert’ gewesen, sagt Horn. Er sagt auch: ‘Hierdurch wird sich feststellen lassen, dass der Angeklagte nach wie vor nicht in der Lage ist, Konflikte angemessen verbal auszutragen, sondern seinen Affekten ohne inneren Widerstand rücksichtslos und hemmungslos nachgibt.’”

Gustl Mollath, so heißt es, soll eine verbale Auseinandersetzung mit “scharfen Worten” eingeräumt haben, es habe aber keine Handgreiflichkeiten gegeben. Wir wissen noch nicht, was in den Akten steht. Verteidigung und Staatsanwaltschaft stimmten dem Antrag zu; man darf also gespannt sein. Schon jetzt aber kann gesagt werden, dass Horn sich irrt: Was auch immer in den Akten stehen mag, dadurch wird sich nicht feststellen lassen, dass Mollath nach wie vor “seinen Affekten ohne inneren Widerstand rücksichtslos und hemmungslos nachgibt”.

Wir wissen ja nicht, was im Inneren Gustl Mollaths tatsächlich vor sich geht. Dies weiß allenfalls Gustl Mollaths selbst. Andere Menschen können nur sein Verhalten beobachten und daraus Schlüsse ziehen. Die Schlüsse können richtig sein oder auch nicht. Menschliches Verhalten unterliegt einer Vielzahl von Einflüssen innerhalb und außerhalb der Person. Ein und dasselbe Verhalten kann durch unterschiedliche Prozesse in der Innenwelt und Reize in der Außenwelt hervorgerufen worden sein – und wir haben keine Möglichkeit festzustellen, um welche Vorgänge es sich da handelte.

Alle Theorien, die eine “Gefährlichkeit” als Persönlichkeitsmerkmal unterstellen, kranken an der Tatsache, dass sich die entsprechenden Vorgänge im Gehirn oder in der “Psyche” des “Gefährlichen” nicht direkt beobachten lassen. Dies sei, so wird oft eingewendet, häufig auch in den klassischen Naturwissenschaften der Fall. Gern wird auf die schon sprichwörtliche Nebelkammer verwiesen, durch die man beispielsweise die Bahn mancher Teilchen sichtbar machen könne. Wohlan, das ist wahr, allein: die Vorgänge in der Nebelkammer werden durch gut bestätigte, empirisch bewährte Theorien erschlossen, die beobachtbare Vorgänge und deren Interpretationen zusammenführen. Nichts Vergleichbares haben die einschlägigen Wissenschaften Psychiatrie und Psychologie zu bieten.

Wie bei jedem Menschen, so ist es auch bei Gustl Mollath nicht möglich, seine Innenwelt gleichsam wie durch eine Nebelkammer sichtbar zu machen. Wir sind auf überaus fehlbare Interpretationen seines Verhaltens angewiesen. Seitdem er im Brennpunkt des medialen Interesses steht, spricht sein öffentliches Auftreten keineswegs dafür, dass er “nach wie vor nicht in der Lage ist, Konflikte angemessen verbal auszutragen, sondern seinen Affekten ohne inneren Widerstand rücksichtslos und hemmungslos nachgibt.” Im Gegenteil. Erst unlängst sprach er über die Beklemmungen und Ängste beim Anblick des psychiatrischen Gutachters im Gerichtssaal. Er ging nicht wutschnaubend auf Norbert Nedopil los, er beschimpfte ihn nicht, sondern er bat das Gericht, ihn aus dem Saal entfernen zu lassen, da er durch ihn seine Aussagefähigkeit beeinträchtigt sehe.

Nun wird mancher ausrufen: “Aber hallo, der verstellt sich doch nur!” Selbst wenn dies so wäre, bewiese diese Verstellung allerdings nur, dass Mollath in der Lage ist, seinen Affekten aus Kalkül einen “inneren Widerstand” entgegen zu setzen – und dies stünde im Widerspruch zur Gewissheit Horns, dass Mollath genau dies eben nicht könne. Vielleicht kam es an der Tankstelle ja zu einem Streit, weil Gustl Mollath genau dies wollte und seine Gründe dafür hatte. Unter Umständen wurde er also gar nicht von seinen Affekten mitgerissen, sondern von einem rationalen Kalkül geleitet. Man kann durchaus auch einmal laut und scharf werden, heftige Affekte simulierend, weil man sich davon eine entsprechend Wirkung verspricht. Wer kann es wissen.

Sie meinen wohl, es gäbe gar keine gefährlichen Irren? Sollen die wohl alle frei herumlaufen? Solche rhetorischen Fragen muss ich mir hin und wieder gefallen lassen. Doch, doch! Es gibt sie! Und je höher sie in der gesellschaftlichen Hierarchie angesiedelt sind, desto gravierender sind tendenziell die Auswirkungen ihres Handelns. Gefährlicher noch als die Gefährlichen, die gefährlich wirken, sind jene Gefährlichen, die leutselig erscheinen. Am gefährlichsten sind häufig jene, die aus bester Absicht andere auf den rechten Pfad bringen wollen. Und natürlich sind die allermeisten Leute gefährlich in Situationen, in denen sie sich zur Gewalt gezwungen fühlen. Es gibt keine Methode, um festzustellen, in welche Kategorie ein Mensch gehört.

Viele, nicht nur die einschlägigen Experten, meinen, zur Gefährlichkeitsprognose fähig zu sein. Nicht immer träfen sie ins Schwarze, so räumt man gern ein, aber im Großen und Ganzen können man schon erkennen, ob jemand zu Gewalttaten neige oder nicht. Jetzt, nachdem die Geschichte von der Tankstelle ans Licht kam, melden sich an den Stimmtischen wieder viele Gefährlichkeitsprognostiker zu Wort, die es immer schon gewusst haben. Und hier meine ich nicht nur die Psychiaterstammtische. Doch wie sieht es mit den Beweisen aus? Wie gut sind die Prognosen der Gefährlichkeits- und anderer Prognostiker tatsächlich?

Nehmen wir einmal an, ein Gefährlichkeitsprognostiker sei sehr, sehr gut. (Das ist solche Leute nicht gibt, wollen wir vorübergehend unbeachtet lassen.) Es bestehe eine Korrelation zwischen seinen Vorhersagen und der tatsächlichen Gefährlichkeit eines Menschen von r = 0,7. Das ist, für sozialwissenschaftliche Verhältnisse, ein traumhaft stark ausgeprägter Zusammenhang. Der Gefährlichkeitsprognostiker hat die Aufgabe, aus einer Zahl von 100 Leute die 10 auszuwählen, die aufgrund ihrer besonderen Gefährlichkeit interniert werden sollen. Wir wissen aus Erfahrung, dass 10 von 100 aus diesem Kollektiv notorische Gewalttäter sind. Es ist dann, mathematisch-statistisch betrachtet (1), damit zu rechnen dass (gerundet) 5 Personen zu Recht und 5 Personen zu Unrecht interniert werden. Von den restlichen 90 sind 85 tatsächlich nicht gefährlich, 5 aber wurden zu Unrecht nicht eingesperrt.

Selbst also in einem unrealistisch günstigen Fall würde unser Gefährlichkeitsprognostiker genau so viele Menschen zu Unrecht wie zu Recht hinter psychiatrische Gitter bringen. In Wirklichkeit aber ist die Validität selbst der besten Verfahren zur Gefährlichkeitsprognose deutlich geringer. Wir können uns also entscheiden: Wenn wir alle Menschen einsperren, dann befinden sich naturgemäß auch alle Gefährlichen hinter Schloss und Riegel. Wenn wir niemanden hinter Gitter bringen, dann laufen auch alle Gefährlichen frei herum. Wenn wir einen Teil der Menschen internieren, dann werden, selbst wenn die Selektion mit den bestmöglichen Verfahren erfolgt, ein Teil der Eingesperrten harmlos und ein Teil der nicht Internierten gefährlich sein.

Was auch immer an der Tankstelle geschehen sein mag: Wir wissen nicht, ob Mollath in Zukunft gefährlich wird. Das wissen wir auch nicht von seiner Kontrahenten, nicht von den eingreifenden Passanten, nicht vom Verteidiger im Prozess, nicht von der Richterin, vom Gutachter, sogar der Verfasser dieser Zeilen (eine überaus friedliche, lammfromme Seele) kann mit Bestimmtheit von sich behaupten, dass er unter keinen Umständen irgendwann einmal gewalttätig wird. Wir verlangen von Gerichtsgutachtern Menschenunmögliches. Verbale Auseinandersetzungen mit scharfen Worten sind Alltag. Wer bliebe noch in Freiheit, wenn wir alle hinter psychiatrische Gittern bringen wollten, die schon einmal wutschnaubend ihrer (berechtigten oder unberechtigten) Empörung Luft gemacht haben?

Nachschrift:

Die Süddeutsche Zeitung berichtet nunmehr Folgendes:

“Nach einer verbalen Auseinandersetzung von Gustl Mollath mit einer Begleiterin am Silvestertag 2013 in Niedersachsen wird nicht gegen den Nürnberger ermittelt. Es seien keine Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Hannover oder der Polizei Bad Pyrmont anhängig, berichtete die Vorsitzende Richterin in dem Prozess vor dem Landgericht Regensburg am Dienstag. Die Nebenklage hatte am Vortag beantragt, dass die Ermittlungsakten zu diesem Fall angefordert werden.

Gustl Mollath hatte den Vorfall im niedersächsischen Bad Pyrmont bestätigt. ‘Ja, es gab eine verbale Auseinandersetzung mit scharfen Worten’, sagte der 57-Jährige in einer Verhandlungspause. Es sei aber nicht zu Handgreiflichkeiten gekommen. ‘Der Antrag der Nebenklage ist nicht mal ein Strohfeuer gewesen, sondern eine Luftblase, die nun zerplatzt ist’, erklärte sein Verteidiger, Gerhard Strate, am Dienstag.”

Nun ja! Aber das Grundsätzliche dazu wollte ich immer schon loswerden.

Anmerkung

(1) Taylor, H. C. & Russell, J. T. (1939). The relationship of validity coefficients to the practical effectiveness of tests in selection: Discussion and tables. In: Journal of Applied Psychology, 23, 1939, S. 565–578

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