Viele meinen, die Gutachten schlechter Gutachter hätten Gustl Mollath in den Maßregelvollzug gebracht und dort festgehalten. Bei besseren Gutachtern, die sich an die anerkannten Kriterien zur Qualitätssicherung in diesem Bereich hielten, wäre dies nicht passiert. Stimmt das?
Wir unterscheiden zwei Grundformen der Prognose: jene, die sich auf das klinische Urteil stützt und jene, die auf einer standardisierten Verrechnung von objektivierbaren Daten (Actuarial Judgment) beruht. Welche Form ist effektiver? Seit rund sechzig Jahren wird diese Frage empirisch erforscht. Das Ergebnis ist eindeutig:
Bereits die frühen Studien von Mehl zeigten die erhebliche und durchgängige Überlegenheit des “Actuarial Judgment” gegenüber dem klinischen Urteil (1-3). Im Verlauf der Jahrzehnte bestätigte eine große Zahl weiterer Untersuchungen diesen Befund. Eine Meta-Studie aus dem Jahre 1970 ergab beispielsweise, dass in 13 von 14 Vergleichsstudien die standardisierte statistische Methode dem klinischen Urteil überlegen war (4). Es liegen inzwischen gut und gern rund 100 solide Studien vor, in denen sich die Einschätzungen Mehls aus den fünfziger Jahren widerspiegeln. Das “Actuarial Judgment” ist überlegen bei der Vorhersage des Rückfalls bei Bewährungsstrafen (5); es erwies sich überlegen bei der Vorhersage “psychotischer Zustände (6); in nahezu allen Bereichen, einschließlich der Vorhersage von Gewalt und individueller Psychopathologie, hatten die statistischen Methoden die Nase vorn (7).
Die einschlägige Literatur ist umfassend und kann hier nicht einmal ansatzweise referiert werden (einen guten Überblick bietet Robyn Dawes’ Buch: House of Cards).
Deutsche Gutachter verlassen sich aber vor deutschen Gerichten immer noch auf ihr klinisches Urteil, auch wenn sie allen geltenden Qualitätsstandards genügen, und deutsche Richter erwarten dies auch so. Man darf also festhalten, dass psychiatrische Gutachten vor deutschen Gerichten in jedem Fall schlechter sind, als sie sein könnten. Dies gilt auch dann, wenn sie standardisierte Tests in ihr klinisches Urteil einbeziehen, denn das klinische Urteil verzerrt, empirisch nachweisbar, die Interpretation der Tests.
Doch selbst die besten Gutachten sind nicht gut genug. In meinem Beitrag “Mollath zu Recht hinter Gittern” habe ich eine Übersichtsarbeit Buchanans referiert, die eindeutig zeigt: Selbst mit den besten verfügbaren Methoden ausgearbeitete Gutachten sind immer noch unverantwortbar fehlerbehaftet.
Was aber soll mit den gefährlichen Leuten geschehen? Sollen sie frei herumlaufen, solange sie keine Straftaten begehen? Soll man sie, obwohl immer noch gefährlich, freilassen, wenn sie ihre Strafe abgesessen haben? Es gibt Leute, auch kluge, für die ist dieses Thema so bedrohlich, dass sie ihren Verstand abschalten. Wider alle Vernunft und Empirie behaupten sie, dass beispielsweise niemand zu Unrecht im Maßregelvollzug sitzen müsse, wenn nur die Gutachter einen vernünftigen Job machen und sich an die Kriterien zur Qualitätssicherung im Gutachterwesen halten würden.
Man kann doch nicht den Kopf in den Sand stecken, nur weil die Wahrheit mit einigen höchst unerwünschten Konsequenzen verbunden zu sein scheint.
Anmerkungen:
(1) Meehl P. E. (1954). Clinical versus statistical prediction: a theoretical analysis and a review of the evidence. Northvale, NJ: Jason Aronson
(2) Meehl P. E. (1957). When shall we use our heads instead of the formula? Journal of Counseling Psychology, 4:268–73.
(3) Meehl P. E. (1959). A comparison of clinicians with five statistical methods of identifying psychotic MMPI profiles. Journal of Counseling Psychology, 6:102–9.
(4) Sines J. O. Actuarial versus clinical prediction in psychopathology. Br J Psychiatry, 116:129–44
(5) Palmer W. R. (1997). Parole prediction using current psychological and behavioural predictors, a longitudinal criterion, and event history analysis [dissertation]. Kingston, ON: Queen’s Univ
(6) Dawes R.M., Faust D., Meehl P.E. (1989). Clinical versus actuarial judgment. Science, 243:1668–74
(7) Dawes R.M., Faust D., Meehl P.E. (1993). Statistical prediction versus clinical prediction: improving what works. In: Keren G, Lewis C. A handbook for data analysis in the behavioral sciences: methodological issues. Hillsdale, NJ: Erlbaum Associations, 351–67
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