Meine Einstellung zur Psychiatrie kann ohne die grundsätzlichen Voraussetzungen meines Denkens nicht verstanden werden. Daher erwarte ich auch nicht, dass sie jemand teilt, der diese Voraussetzungen nicht akzeptiert. Es handelt sich hier um die Grundhaltung eines naturwissenschaftlich denkenden Psychologen.
Ich bin Physikalist. Dementsprechend bin ich davon überzeugt, dass jeder mentale Vorgang ein Prozess im Nervensystem ist. Ich spreche hier nicht von bloßer Korrelation. Ich meine nicht, dass den mentalen Vorgängen psychische Vorgänge zugrunde lägen, dass beide miteinander korrelierten. Nein, aus meiner Sicht sind physische und mentale Prozesse identisch. Schmerz zu haben beispielsweise ist identisch mit einem entsprechenden physischen Vorgang im Nervensystem.
Ich will mich hier nicht mit den philosophischen Einwänden gegen diese Position auseinandersetzen. Es wäre vermessen zu behaupten, dass ich diese mit leichter Hand widerlegen könnte. Aus meiner pragmatischen Sicht genügt es festzustellen, dass alle Tatsachen für den Physikalismus sprechen und keine gegen ihn spricht. Es gibt zweifellos gewichtige logische und erkenntnistheoretische Einwände gegen den Physikalismus; aber es gibt keine Tatsachen, die gegen ihn sprechen; vielmehr sprechen alle für ihn; und darauf kommt es mir hier an.
Als Physikalist setze ich voraus, dass “Geisteskrankheiten” (psychische Krankheiten, Störungen etc.) Gehirnkrankheiten sind. Mit dieser Auffassung bewege ich mich durchaus im Mainstream psychiatrischen Denkens. Wenn wir also von einem Geisteskranken (psychisch Kranken, psychisch Gestörten) sprechen, so handelt es sich dabei um einen Menschen mit gestörten Hirnprozessen (auf die wir mit Begriffen wie beispielsweise “wahnhaft” oder “zwanghaft” verweisen) und bei dem diese Abweichungen zugleich ursächlich auf Störungen im Nervensystem oder im Körper generell zurückzuführen sind.
Es gibt solche Menschen. Bei der Stoffwechselerkrankung Porphyrie beispielsweise können psychotische Zustände auftreten, die nach menschlichem Ermessen letztlich auf die Störung des Aufbaus des roten Blutfarbstoffs Häm zurückzuführen sind. Bei den so genannten psychischen Krankheiten (im engeren Sinne) finden sich solche ursächlichen Zusammenhänge zwischen den verdächtigen Phänomenen und körperlichen Störungen aber nicht. Daher kann man hier allenfalls von mutmaßlichen Krankheiten sprechen.
Die so genannten psychischen Krankheiten sind also mutmaßliche Krankheiten, und es gibt sich häufende Hinweise aus der neurowissenschaftlichen Forschung, dass sich diese Mutmaßungen als falsch herausstellen werden. Für kritische Wissenschaftler ist dies auch nicht weiter erstaunlich. Bei den so genannten Syndromen, die in den einschlägigen diagnostischen Handbüchern aufgelistet werden, handelt es sich ja nicht um empirisch erhärtete Sachverhalte, um Muster von Merkmalen, die im realen Leben tatsächlich gehäuft auftreten. Vielmehr beruhen sie auf einem Konsens, der in internationalen Psychiatergremien erarbeitet wurde; es handelt sich also um Politik. Es ist nicht zu erwarten, dass sich solche ideologischen Konstrukte in den Befunden der empirischen, naturwissenschaftlichen Forschung wiederfinden.
Es ist natürlich denkbar, dass sich zumindest einige der so genannten psychischen Krankheiten – oder andere, von den bisherigen “Krankheitsbildern” abweichende Zusammenstellungen von Merkmalen aus diesem Spektrum – als Krankheiten im Sinne physikalistischen Denkens herausstellen werden. Ein Kandidat dafür wäre beispielsweise die Melancholie, eine Unterform der Depression. Damit hätte ich keine Probleme, würde dann aber nicht von “psychischen Krankheiten”, sondern von neurologischen Krankheiten oder anderen körperlichen Krankheiten mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben sprechen.
Allerdings will ich nicht verhehlen, dass ich nicht in allzu vielen Fällen mit derartigen Erkenntnissen rechne. Aus meiner Sicht dürfte es sich bei den “psychischen Krankheiten” in der Regel um Reaktionen eines intakten Gehirns auf soziale und ökonomische Schieflagen handeln. Für diese Reaktionen sind die Betroffenen allerdings selbst verantwortlich, denn niemand ist gezwungen, auf derartige Umweltfaktoren unangemessen zu reagieren. Entgegen anders lautenden Gerüchten ist der Physikalismus durchaus mit dem Konzept des freien Willens vereinbar.
Aus meiner Sicht sprechen viele bekannte Tatsachen für und nur wenige gegen die These der Reaktion eines intakten Gehirns auf missliche Umstände. Korrelationen zwischen sozialem Status, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Arbeitslosigkeit, Überforderung im Beruf und vielen anderen sozio-ökonomischen bzw. kulturellen Faktoren werden seit Jahrzehnten gemessen und wurden vielfach dokumentiert. In vielen Fällen finden sich bei Betroffenen psychische Konflikte, die auf solche Faktoren, zumindest teilweise, zurückzuführen sein könnten.
Doch ich will keineswegs behaupten, dass diese Zusammenhänge als empirisch erhärtet oder gar als erwiesen betrachtet werden könnten. Korrelationen sind sicher gegeben, aber ob auch eine ursächliche Beziehung vorliegt, ist umstritten, zu Recht übrigens. Wir wissen einfach nicht, warum sich manche Menschen rätselhaft verhalten und Merkwürdiges bekunden. Wir haben aber auch keinen vernünftigen, aut Tatsachen fußenden Grund dafür anzunehmen, dass sie dies nicht aus freien Stücken, sondern getrieben von einer “Krankheit” täten.
Wie Peter Ulric Tse in seinem Buch “The Neural Basis of Free Will” gezeigt hat, gibt es aus neurowissenschaftlicher und physikalistischer Sicht keinen Grund, den Menschen generell den freien Willen abzusprechen. Wenn man dies im Einzelfall, bei den so genannten psychisch Kranken tun will, so müsste man dafür starke, auf Tatsachen fußende Argumente vorbringen. Ich kann nicht erkennen, wie dies beim Stand der Forschung möglich sein sollte.
Wer Bücher zur Psychopathologie aufschlägt, muss feststellen, dass er weitgehend einen metaphorischen Raum betritt. Ganz gleich, aus welcher Zeit das Buch stammt und ganz gleich, ob der Autor naturwissenschaftlich oder geisteswissenschaftlich orientiert ist: Die “Syndrome” werden den Phänomenen zugeordnet wie sprachliche Bilder. Die Zuordnung wird nicht durch empirische Zusammenhänge zwischen Verhaltensweisen und ursächlichen biologischen oder sozio-ökonomischen Phänomenen erhärtet.
Manche meinen ja, die Forschung sei eben noch nicht so weit; dies entbinde uns aber nicht von der praktischen Aufgabe, zu helfen und Leiden zu lindern. Dem kann und will ich nicht widersprechen. Allerdings sollte die Hilfe an den Stand der Wissenschaft anknüpfen und nicht auf Fantasien zukünftigen Wissens beruhen. Solange es also keinen guten Grund dafür gibt, daran zu zweifeln, dass die so genannten psychisch Kranken letztlich für ihren Zustand selbst verantwortlich sind, sollte man sie auch so behandeln wie freie Bürger.
Freie Bürger können entscheiden, ob sie Hilfe wollen und wer sie ihnen ggf. gewähren soll. Es ist nicht gerechtfertigt, sie ihnen aufzuzwingen. Ebenso wenig ist es gerechtfertigt, ihnen vorzuschreiben, wer sie ihnen gewähren soll – zum Beispiel ein Psychiater oder ein psychologischer Psychotherapeut. Die Vorstellung, dass “psychisch Kranke” unbedingt des Arztes bedürften, lässt sich weder auf Grundlage der wissenschaftlichen Forschung, noch der praktischen Erfahrung rechtfertigen. Sehr viele Betroffene “gesunden” auch ohne professionelle Hilfe. Häufig sogar schadet diese mehr als sie nutzt. Wer dies nicht glaubt, möge beispielsweise Robert Whitakers Bücher “Mad in America” und “Anatomy of an Epidemic” lesen.
Man zählt mich gelegentlich zur Antipsychiatrie und der Antipsychiatrie unterstellt man generell, sie leugne die biologische Basis menschlichen Verhaltens und Erlebens. Fakt ist, dass ich nicht antipsychiatrisch eingestellt und dass ich von der Identität mentaler und physiologischer Prozesse überzeugt bin. Selbstverständlich habe ich nichts dagegen einzuwenden, wenn sich freie Bürger, aus freien Stücken und gut aufgeklärt, in eine psychiatrische Behandlung begeben. Zwar glaube ich, dass sie sich klüger entscheiden könnten; aber dies ist meine subjektive Auffassung, die niemand zu teilen gezwungen ist und gegen die es sicher gute Einwände gibt, auch wenn mir diese nicht einfallen wollen.
Meine Kritik an der Psychiatrie beruht auf empirischen Befunden bzw. deren Fehlen. Sie ist daher nicht absolut und unverrückbar; gern lasse ich mich belehren – durch Tatsachen. Persönliche Beleidigungen und moralisierende Anschuldigungen allerdings prallen an mir ab. Ich bekenne mich zu den Methoden und zur Methodologie der empirischen Psychologie und Sozialforschung und an deren Maßstäben messe ich auch Einwände gegen meine Postionen. Wer dieses Bekenntnis teilt, kann nach meiner Meinung zu keiner grundsätzlich anderen Einschätzung der Sachverhalte gelangen, wenngleich man sich über Detailfragen sicher trefflich streiten kann. Dazu inkommensurablen Grundauffassungen will ich die Legitimität nicht absprechen. Anything goes. Doch das ist nicht meine Welt.
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