Ein Psychiater twittert, es sei menschenverachtend, einer schwer depressiven Patientin oder einer Mutter eines Schizophrenen mitzuteilen, dass die eigene Erkrankung oder die Erkrankung des Sohnes nicht verifiziert wurde. Dies allerdings entspricht der Wahrheit. Beim Stand der psychiatrischen Diagnostik ist der Nachweis einer psychiatrischen Erkrankung mit objektiven Verfahren nicht möglich. Die entsprechenden Diagnosen sind vorwissenschaftliche Mutmaßungen. Dies habe ich ausführlich in einem Artikel meines Lexikons der Psychiatriekritik begründet.
Ich möge doch, twittert der Psychiater, in eine beliebige Station der Akutpsychiatrie gehen und für konkrete Personen, die offensichtlich massiv unter ihrer akuten Depression oder Schizophrenie litten, feststellen, dass diese Menschen nicht im klinischen Sinne krank seien.
Gut. Allein, wenn ich in eine beliebige Station der Akutpsychiatrie ginge und dort Menschen sähe, denen beispielsweise tiefe Traurigkeit ins Gesicht geschrieben steht oder die durch Neuroleptika apathisch geworden sind, wie sollte ich denn feststellen, dass sie im klinischen Sinne krank sind? Könnte mir der Psychiater, der mir diesen Rat gab, Laborwerte vorlegen oder Brainscans oder was auch immer, irgendetwas, dass nach menschlichem Ermessen eindeutig zeigt: Ja, diese Menschen leiden an einer Krankheit. Diese oder jene Störung in ihrem Gehirn oder sonstwo in ihrem Körper verursacht ihre schrecklichen Symptome?
Es wird im Allgemeinen von Psychiatern auch eingeräumt, dass ihre Diagnostik “symptom-orientiert” sei, sich auf subjektive Beschwerden konzentriere, die entweder vom Patienten selbst oder von Dritten, beispielsweise von Angehörigen vorgetragen würden. Teilweise äußern sich die Beschwerden des Patienten auch im nicht sprachlichen Verhalten, das man direkt beobachten und an dessen Realität man wenig Zweifel haben kann.
Doch dies bedeutet ja nicht, dass die vom Patienten oder anderen bekundete Phänomene oder die von ihm gezeigten Verhaltensmuster “Symptome einer Krankheit” im klinischen Sinne sind. Die Fähigkeit zur Empathie vorausgesetzt, sehen wir bei vielen dieser Menschen fraglos echtes und nicht nur vorgeschütztes Leid. Sie geben ein Bild des Jammers ab. Warum? Das wissen wir nicht. Wir können zwar behaupten, dies zu wissen. Aber wir können es nicht beweisen. Man kann noch nicht einmal ausschließen, dass dieses Bild zumindest teilweise durch die Bedingungen im Krankenhaus hervorgerufen wurde. Oder durch die Medikamente, die ja häufig genug schwere Schadwirkungen haben.
Ist es also wirklich menschenverachtend, diesen Menschen die Wahrheit zu sagen? Immerhin gibt ihnen eine Diagnose, so falsch sie auch sein mag, ein Gefühl der Sicherheit. Die Ärzte haben die Krankheit erkannt und sie kennen die Mittel und Wege zu ihrer Behandlung. Vorausgesetzt wird hier natürlich, dass die Patienten an die Diagnose auch glauben. Damit sie daran glauben, muss der Arzt Gewissheit ausstrahlen und er muss Zweifel von ihnen fernhalten. Nicht auszudenken, wenn diese Patienten beispielsweise im Internet surfen und auf die Pflasterritzenflora stoßen.
Soll man also die “Patienten” belügen? Liegt dies in ihrem wohlverstandenen Interesse? Soll man der depressiven Patientin sagen, sie litte an einem Serotoninmangel? Obwohl diese Theorie der Depression gescheitert ist? Soll man der Mutter des Schizophrenen sagen, ihr Sohn habe ein Problem mit dem Dopamin, obwohl die Dopaminthese grandios untergegangen ist?
Liegt es im wohlverstandenen Interesse der Patienten, ihre Behandlung mit solchen Thesen zu rechtfertigen? Wenn man bedenkt, dass die Effektivität der entsprechenden Medikamente fragwürdig, ihre teilweise gravierenden und mitunter irreversiblen Schadwirkungen aber erwiesen sind?
Das Dilemma der Ärzte, die an Krankenbetten stehen, kann ich nachvollziehen. Was heißt: Lügen? Bewusst die Unwahrheit sagen. Lügen diese Ärzte? Kennen Sie die Wahrheit und verschweigen Sie diese ihren Patienten guten Glaubens oder in böser Absicht? Nehmen wir wohlwollend an, dass Psychiater ja auch nur das Beste für ihre Patienten wollen. Können sie dies auch erreichen, so?
Auch das wissen wir natürlich nicht. Die Psychiatrie hat, seit ihren Anfängen als medizinische Spezialdisziplin in der Mitte des 19. Jahrhunderts, immer weitere Bereich des menschlichen Verhaltens und Erlebens unter ihre Fittiche genommen. Was professionelle Hilfe für Menschen mit Lebensproblemen betrifft, steht sie heute weitgehend konkurrenzlos da. Den Beweis, dass sie für diese Menschen überhaupt zuständig, dass diese Menschen tatsächlich krank sind, ist sie uns allerdings bis heute schuldig geblieben.
Nehmen wir einfach einmal an, diese Menschen wären gar nicht krank; ihre “Symptome” wären vielmehr das Resultat der Reaktion eines völlig intakten Gehirns auf Umstände, die als widrig empfunden werden. Nehmen wir einfach einmal an, die “Symptome” dieser Menschen wären die beste Lösung für die Schwierigkeiten dieser Menschen, die sie zu erkennen vermögen. Das “medizinische Modell psychischer Krankheiten” führt die “Symptome” auf pathologische Prozesse im Individuum zurück und behandelt sie entsprechend individuell.
Doch wenn unsere Annahmen zutreffend sollten, dann hätten wir es gar nicht mit einem rein individuellen Problem zu tun, sondern mit einem sozialen. Nicht das Individuum wäre gestört, sondern die sozialen Systeme, in denen es sich bewegt. Folglich wäre die Lösung des Problems auch keine medizinische Aufgabe und die notwendigen Maßnahmen würden sich auch nicht (nur) auf das Individuum konzentrieren.
Man könnte diese Fragen nur durch systematische, empirische, experimentelle Forschung klären. Unter wissenschaftlicher Aufsicht müssten Psychiater und sozialwissenschaftlich orientierte Helfer in einen fairen Wettstreit miteinander treten und hinterher könnte man mit sauberen wissenschaflichen Methoden feststellen, wer die besseren Resultate erzielt.
Die Psychiatrie scheint kein Interesse an einem solchen Vergleich zu haben, obwohl sie den Nachweis ihrer Zuständigkeit für Lebensprobleme aller Arten bisher noch nicht erbracht hat. Man muss nach meiner Erfahrung sogar mit beachtlicher Aggressivität rechnen, wenn man dieses Thema auch nur anspricht. Bei allem Verständnis für das Dilemma der Ärzte, die Tag für Tag in der Praxis, in der Klinik die Ärmel aufkrempeln müssen, um verzweifelten Menschen zu helfen, darf ich dennoch nicht übersehen, dass es sich hier auch um einen wirtschaftlichen Prozess handelt und bei einem solchen spielt natürlich die Frage der Kosteneffizienz eine erhebliche Rolle.
Nein, ich bin kein neoliberaler Apostel, der unsere Sozialsysteme kaputtsparen will. Im Gegenteil. Auf keinen Cent kann verzichtet werden. Doch wenn andere mehr Menschen besser helfen könnten für das gleiche Geld, warum soll man diese Aufgabe dann den weniger effizienten Medizinern anvertrauen? Und es ist nun einmal so, dass die direkten und indirekten Kosten, die durch das psychiatrische System erzeugt werden, beständig ansteigen, ebenso wie die Zahl der als psychisch krank diagnostizierten Menschen. Muss man da nicht einmal mit dem wissenschaftlichen Suchscheinwerfer ans Werk?
Ja, ich weiß, wovon ich spreche. Viele Jahre lang habe ich an der Seite meines Chefs für eine kosteneffektive Suchthilfe gekämpft. Leider erfolglos. Welche Barrieren man überwinden muss, um hier in freies Feld zu gelangen, ist mir also nur zu bewusst; welche Kraft es dazu braucht, ebenso. Dennoch werde ich nicht müde, die Frage zu stellen: Ist es wirklich zu viel verlangt, nicht medizinische, nicht von Ärzten dominierte Formen der Hilfe für Lebensprobleme in einem fairen, wissenschaftlich kontrollierten Wettstreit mit traditionellen Angeboten zu erproben?
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