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Krankheit

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Nehmen wir an, es ließe sich eine biologische Ursache einer bisher noch mutmaßlichen psychischen Krankheit, dank einer soliden Zahl methodisch einwandfreier Untersuchungen, zweifelsfrei nachweisen. Bedeutete dies, dass damit als erwiesen betrachtet werden könnte, dass es sich bei dieser mutmaßlichen tatsächlich um eine echte Krankheit handele?

Stellen wir uns vor, jemand höre Stimmen, die sonst niemand hört. Nun stellt sich heraus, dass die Ursache dafür ein gestörter Schaltkreis im Gehirn ist. Eigentlich sollte man doch annehmen, dass damit die Ursachenfrage geklärt und dass offensichtlich das Hören solcher Stimmen etwas Krankhaftes ist.

Fragen wir uns, ob dieses Urteil einer genaueren Prüfung gewachsen ist. Man mag anwenden, dass es sich natürlich nur dann um eine Krankheit handele, wenn der Betroffene darunter leide. Aber es leiden mitunter Menschen unter Stimmen, die auch andere hören. Der ewig und überzogen kritische Chef wird zur Qual, die pausenlos nörgelnde Ehefrau bereitet dem Mann die Hölle auf Erden. Leiden plus Stimmenhören allein machen also nicht prinzipiell schon eine Krankheit.

Wer Stimmen hört, die sonst keiner hört, leidet aber vermeidbar. Die Stimmen der Ehefrau oder des Chefs muss man u. U. aushalten. Vermeidbares Leiden unter Stimmen ist also krank und bedarf des Arztes. Wer so argumentiert, sollte sich fragen, auf welche Tatsachen er seine Einstellung stützt. Es könnte ja durchaus sein, dass die Botschaften der Stimmen, die sonst niemand hört, für den Betroffenen einen Sinn haben, dem es nachzuspüren gilt und die daher nicht vorschnell abgewürgt werden dürfen.

Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass die Botschaften dieser Stimmen vernünftiger Überprüfung nicht standhielten, daher krankhaft seien, so dass man den Betroffenen behandeln müsse, um ihn von diesen Stimmen zu befreien. Selbst wenn dies so wäre: Warum sollten denn überhaupt die Botschaften der Stimmen vernünftig sein. Ist die Unvernunft krankhaft?

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Um ein Phänomen als krankhaft einzustufen, muss man es bewerten; allein auf Fakten kann man sich dabei nicht stützen. Aus diesem Grunde könnte man es auch nicht als erwiesen betrachten, dass es sich um eine Krankheit handelt, wenn die biologische Ursache eines Phänomens feststeht.

Das Gegenargument lautet: Die biologische Ursache ist eine Abweichung vom Normalen. Eine Abweichung von der normalen Funktion des Gehirns aber ist pathologisch. Doch woher wollen wir denn wissen, dass es sich bei dieser Abweichung tatsächlich um etwas Anormales und nicht etwa um eine seltenere Spielart des Normalen handelt? Was ist überhaupt das Normale?

Hätten wir ein empirisch erhärtetes Modell des gesunden, seiner Natur entsprechend arbeitenden Gehirns, wäre die Frage einfach zu beantworten. Aber wir haben ein solches Modell eben nicht. Die empirische Forschung ist Lichtjahre von einem solchen Modell entfernt. Und es stellt sich überdies die Frage, ob es ein solches Modell überhaupt geben kann. Denn was ist die wahre Natur des menschlichen Gehirns? Wie sollte es arbeiten, damit es dieser entspricht?

Sartre meinte, der Mensch sei zur Freiheit verdammt; es sei seine Natur, nicht festgelegt zu sein und daher wählen zu müssen. Er schreibt in “Das Sein und das Nichts”:

„So ahnen wir langsam das Paradox der Freiheit: es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit. Die menschliche Realität begegnet überall Widerständen und Hindernissen, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben Sinn nur in der freien Wahl und durch die freie Wahl, die die menschliche Realität ist.“

Wenn dies zutrifft – und auch die Befunde der Neurowissenschaften schließen dies nicht aus – dann gibt es gar keine Möglichkeit zu bestimmen, wie das menschliche Gehirn von Natur aus “gesund” funktioniert. Wenn ein Mensch Stimmen hört, die sonst niemand hört, beispielsweise, so ist dies seine freie Wahl – und wenn er glaubt, diese Stimmen nicht kontrollieren zu können, dann wäre dies nur wahr, wenn sein Gehirn gleichsam automatisch diese Stimmen, die sonst niemand hört, hervorbrächte. Selbst wenn dies der Fall wäre, so könnte er sich damit abfinden, er ist nicht gezwungen, darunter zu leiden. Nur wenn er, aufgrund eines fundamentalen Hirnschadens, ein vollständiger Automat wäre, so hätte er keine freie Wahl. Wäre er dann noch ein Mensch?

Diese Erläuterungen erheben nicht den Anspruch, die Fragestellung erschöpfend zu beantworten. Es dürfte aber klar geworden sein, dass man eine Krankheit nicht feststellen kann ohne eine Bewertung, die nicht durch Fakten begründet werden kann, sondern die uns, recht bedacht, letztlich in metaphysische Bereiche führt. Die Antwort auf derartige Fragen aber ist immer arbiträr: Nicht Naturnotwendigkeiten führen uns zu ihr, sondern die freie Willensentscheidung.

In einer freien Gesellschaft ist das Konzept der “psychischen Krankheit” verhandelbar. In einer solchen Gesellschaft hat niemand das Recht, einem anderen seine, auf freier Willensentscheidung beruhende, Auffassung aufzuzwingen. Er muss überzeugen. Aus diesem Grund habe ich nichts dagegen einzuwenden, wenn sich Menschen aus freien Stücken in eine psychiatrische Behandlung begeben, weil sie sich als “psychisch krank” empfinden und sich vom Arzt Heilung oder Linderung ihres Leidens erhoffen. Zwangsbehandlungen aber sind absolut unerträglich. Alle Gesetze, die sie rechtfertigen, sind abzuschaffen.

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