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Antipsychiatrie

Wenn Antipsychiatrie bedeutet, die Psychiatrie in Bausch und Bogen abzulehnen, dann gehöre ich eindeutig nicht zu dieser Fraktion. Wenn erwachsene Menschen, gut aufgeklärt über Wirkungen, Risiken und Nebenwirkungen, sich einer psychiatrischen Behandlung unterziehen, dann ist dies ihr gutes Recht, das ihnen als freien Bürgern eines demokratischen Rechtsstaates uneingeschränkt zusteht. Zwar glaube ich nicht, dass allzu viel Gutes bei einer solchen Behandlung herauskommt, aber dies ist nur meine subjektive Meinung. Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er Hilfe benötigt und wenn ja, in welcher Form.

Selbstverständlich lehne ich psychiatrische Zwangsbehandlungen unbedingt ab; ich halte sie für Folter. Auch betrachte ich psychiatrische Therapien, denen sich der Betroffene formal freiwillig, aber unter Druck durch Arbeitgeber, Verwandte etc. unterzieht, mit großer Skepsis. In diesen Fällen hat der Genötigte zwar durchaus noch eine Wahl; aber wenn man bedenkt, dass sich viele Menschen, die vor einer derartigen Wahl stehen, in ernsthaften Lebenskrisen befinden und ziemlich hilflos sind, dann ist es, salopp gesprochen, mit der Freiwilligkeit oftmals nicht weit her und die Grenzen zum Zwang sind fließend.

Grundsätzlich aber – also in allen Fällen ohne Zwang – wünsche ich allen Psychiatrie-Patienten viel Erfolg und gute Besserung. Die Antipsychiatrie ist mir wie jede Anti-Haltung fremd. Vielen Menschen, die psychiatrisch behandelt wurden, geht es, nach eigenem Bekunden, nachher besser als vorher. Die Forschung spricht zwar dafür, dass es sich dabei um einen Placebo-Effekt handelt, aber auch die Aktivierung der “Selbstheilungskräfte” ist eine Leistung, die man nicht geringschätzen darf. Verglichen mit Selbsthilfegruppen oder der Lektüre eines Psycho-Ratgebers ist die Psychiatrie zwar eine überaus kostspielige Veranstaltung zur Aktivierung der Selbstheilungskräfte, aber wenn sich Kassen, Ärzte und Patienten einig sind, dass eine Behandlung notwendig ist und Erfolg verspricht, dann bin ich dennoch bereit, dies hinzunehmen, wenngleich kopfschüttelnd.

Es ist keineswegs prinzipiell Antipsychiatrie, wenn man die Existenz “psychischer Krankheiten” in Frage stellt. Ich bin sogar bereit einzuräumen, dass man einen Menschen gegebenenfalls durchaus als “psychisch krank” bezeichnen kann, wenn man sich klarmacht, dass es sich dabei um eine bildhafte Umschreibung handelt. Sobald man darunter aber eine echte Krankheit, also im Kern eine Erkrankung des Gehirns versteht, sind Zweifel durchaus angebracht. Denn nach Prozessen im Hirn, die den so genannten psychischen Krankheiten zugrunde liegen sollen, forscht die Psychiatrie intensiv seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, ohne fündig zu werden. Es gibt zur Zeit keinerlei Anzeichen, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird. Die Neurowissenschaften sind noch Lichtjahre von einem Verständnis der höheren Geistestätigkeit und ihrer Störungen entfernt.

Wer sich zu den Methoden der empirischen Psycho-, Neuro- und Sozialwissenschaften bekennt, muss dies als Tatsache in Rechnung stellen. Meine Kritik an der Psychiatrie ist gleichsam ein Nebenprodukt dieser Haltung; ich kann gar nicht anders, wenn ich mich selbst ernst nehmen will. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung muss man einfach einräumen, dass die Ursachen der so genannten psychischen Krankheiten unbekannt, dass die entsprechenden Diagnosen nicht valide und dass die objektivierbaren  Resultate der diversen Behandlungsformen höchst unbefriedigend sind. Dies muss man auch dann, wissenschaftliche Redlichkeit vorausgesetzt, konstatieren, wenn man der Psychiatrie, so wie ich, im Grunde wohlgesonnen ist.

Man mag einwenden, dass zwischen Wissenschaft und Praxis ein großer Abgrund klaffe und dass man nicht auf wissenschaftliche Durchbrüche warten könne, bevor man leidenden Menschen helfe. Dies ist sicher richtig. Doch wenn die Psychiatrie leidenden Menschen effektiv helfen könnte, dann wären doch die Resultate der Studien, die sich mit dieser Praxis beschäftigen, nicht so dürftig, wie sie es tatsächlich sind – sofern man einmal von “Forschungen” absieht, die von gewissen Kreisen in der Pharmaindustrie finanziert wurden. Es mag abgehobene Bereiche der Wissenschaft geben, die in ideologischen Höhen schweben und deren Resultate man nicht überbewerten darf; doch empirische Studien, die Praxis-Prozesse beleuchten, stellen doch ein anderes Kaliber dar.

Man muss kein Anhänger der Antipsychiatrie sein, um festzustellen, dass die Psychiatrie vor einem Scherbenhaufen steht. Auch wer, wie ich, Scientology rundum ablehnt, kann nicht die Augen davor verschließen, dass die Psychiatrie bisher mehr Schaden angerichtet, als Nutzen gestiftet hat. Um dies zu erkennen, genügt es, seine Nase in die seriöse Forschungsliteratur zu stecken. Ich kann es verstehen, wenn man die Praxis der Psychiatrie beschönigt, weil es keine Alternative zu ihr zu geben scheint. Doch dabei läuft man Gefahr, Alternativen zu übersehen, die es tatsächlich gibt.

Es gibt sie: Nicht-psychiatrische Hilfen für Menschen mit Lebensproblemen, für Menschen in existenziellen Krisen. Es gibt Weglaufhäuser, es gibt Soteria-Einrichtungen, es gibt eine Vielzahl von unabhängigen Selbsthilfegruppen – doch es gibt viel zu wenig davon. Und davon gibt es viel zu wenig, weil, so steht zu vermuten, der Lobbyismus des psychiatrisch-pharmaökonomischen Komplexes  es bisher sehr erfolgreich verhindert hat, dass diese Ansätze sich zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz entwickeln können.

Es geht schließlich um Milliarden und Abermilliarden – entsprechend viel Geld steht der Marketing-Maschine des psychiatrisch-pharmaökonomischen Komplexes zur Verfügung. Hinzu kommen die nützlichen Idioten, die, aus Unwissenheit und Gedankenlosigkeit, Psychiatrie-Kritiker als “Antipsychiatrie” oder “Scientology” verunglimpfen. Es geht den seriösen Kritikern aber gar nicht darum, die Psychiatrie zu verdrängen oder gar auszumerzen bzw. mit den eigenen Sekten-Angeboten zu ersetzen. Wer sich gern in dieser Weise behandeln lassen möchte, dem soll dieser Weg natürlich auch in Zukunft offen stehen. Natürlich sind mit diesen Behandlungen erhebliche Risiken verbunden – aber wer wollte denn schon in einem Staat leben, der seine Bürger um jeden Preis vor allen Risiken bewahren will?

Wenn die Psychiatrie Menschen mit Lebensproblemen nachweislich besser helfen könnte als andere Ansätze, dann gäbe es die “Pflasterritzenflora” gar nicht. Aber sie kann es nicht. Nicht in der Lage dazu ist die Psychiatrie. Im Gegenteil: Oft macht sie vieles unnötig schlimmer. Darum braucht sie Konkurrenz. Und diese Konkurrenz benötigt staatliche Mittel, die ja auch die Psychiatrie erhält. Da muss Waffengleichheit herrschen. Die nicht-psychiatrischen Hilfen sind auch auf gutwillige Journalisten angewiesen, die in den Medien über diese Ansätze berichten – und nicht immer nur das Hohelied der Pharmaindustrie singen.

Manche meinen trotz alledem, die Psychiatrie sei viel besser als ihr wissenschaftlicher Ruf. Auf die Wissenschaft könne man nichts geben. Man glaube ohnehin nur an die Statistiken, die man selbst gefälscht habe. Im Volk wissen man schon, dass man die Psychiatrie brauche und wie viel Gutes sie leiste, trotz aller Missstände und Fehlgriffe. Ist das wirklich so? Hätte der Fall Mollath beispielsweise so viel Staub aufwirbeln können, wenn es tatsächlich nur um diesen Mann ginge. Wie viel Unbehagen, wie viel Misstrauen ist tatsächlich im Volk lebendig?

Natürlich: Im Allgemeinen interessiert sich das Volk nicht übermäßig für Zahlen, Daten und Fakten. Wir vertrauen auf die Experten, die uns damit verschonen und uns die Welt erklären. Im Allgemeinen gibt sich das Volk mit diesen Welterklärungen durch Experten auch zufrieden. Doch seit ein, zwei Jahrzehnten verstärken sich die Zweifel an den Experten in der Medizin im Allgemeinen und ganz besonders in der Psychiatrie. Der Fall Mollath scheint nun dass Fass zu Überlaufen gebracht zu haben. Dies erkennt man auch daran, dass sich nunmehr zunehmend Experten unter die Mollath-Unterstützer mischen, um den Schaden zu begrenzen, nach dem Motto: “Kannst du eine Bewegung nicht stoppen, dann stelle dich an ihre Spitze!”

Aber der Unmut wird bleiben, auch wenn die Experten dem Volk suggerieren, der Fall Mollath sei das Ergebnis von Missständen in Psychiatrie und Justiz, die behoben werden müssten, damit dann alles wieder gut sei. Angesichts der horrenden Zahlen bei den Zwangseinweisungen kennt doch heute fast jeder den einen oder anderen Fall und viele beginnen sich zu fragen, ob da tatsächlich alles mit rechten Dingen zuging oder ob es sich nicht doch um “einen kleinen Fall Mollath” handelt. Manch einer erkennt, dass hier nicht immer Schwarzgeld und Politiker-Komplotte eine Rolle gespielt haben können, sondern das am System insgesamt etwas faul ist.

Dennoch: Antipsychiatrie ist dumm, gar nicht zu reden von Scientology. Selbstverständlich müssen alle Gesetze aufgehoben werden, die eine zwangsweise Unterbringung und Behandlung angeblich psychisch Kranker erlauben. Aber genauso selbstverständlich brauchen wir die Psychiatrie, sofern sie nicht auf Zwang beruht. Dies erkennt man daran, dass ihre Dienstleistungen nachgefragt werden, warum auch immer. In einer freien Gesellschaft und Marktwirtschaft reicht dies als Nachweis der Existenzberechtigung völlig aus.

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