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Noch einmal Diagnostik: Der Blei-Standard

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Alle Versuche, die psychiatrischen Diagnosen durch Identifikation ursächlicher Hirn- oder sonstiger körperlicher Prozesse zu validieren, sind bisher gescheitert. Nun könnte man natürlich einwenden, dass ein rein biologischer Krankheitsbegriff für psychische Störungen unangemessen sei; würde man einen umfassenden, bio-psycho-sozialen verwenden, dann könnte man die psychiatrischen Diagnosen auch validieren. Bisher ist auch dies allerdings noch nicht überzeugend gelungen.

Es ist fraglos nicht einfach, nicht-physiologische Validitätskriterien für „psychische Krankheiten“ zu bestimmen. Kriterien dieser Art müssten ja das Krankhafte der Krankheit repräsentieren und sie müssten sich deutlich von den Merkmalen unterscheiden, die mit dem diagnostischen Verfahren registriert werden.

Mit diesem Problem müssen sich nicht nur die Konstrukteure psychiatrischer Diagnose-Manuale herumschlagen; es zeigt sich überall da, wo das Verhalten und Erleben des Menschen systematisch erfasst werden soll.

Nehmen wir als Beispiel einen Intelligenztest. Die Frage lautet: Wie genau stimmen die Intelligenztestwerte mit der tatsächlichen Intelligenz der Getesteten überein? Welche Kriterien kommen in Frage? Die Schulnoten? Der Erfolg im Beruf? Das Bankkonto? Welchen quantifizierbaren Aspekt des Lebens wir auch immer wählen, wir werden feststellen, dass diese Größen neben der Intelligenz auch noch von vielen anderen Faktoren beeinflusst werden. Die Schulnoten beispielsweise hängen zudem vom Fleiß, vom sozio-ökonomischen Status der Eltern, von der Sympathie des Lehrers etc. ab. Daher sind die Korrelationen zwischen dem Intelligenzquotienten und den genannten Variablen nur schwach bis mittelmäßig ausgeprägt. Daher sagen die Intelligenztestwerte im Grunde nur aus, wie gut oder schlecht jemand die jeweiligen Intelligenztestaufgaben zu lösen vermochte. Inwieweit, inwiefern und ob überhaupt sie die “tatsächliche” Intelligenz eines Menschen widerspiegeln, ist fraglich.

Das Kriterium, das die Realität, auf die sich Konstrukte wie „Intelligenz“, „Schizophrenie“, „Diabetes“ oder „AIDS“ beziehen, am besten repräsentiert, wird als „Goldstandard“ bezeichnet. Die Medizin kennt viele gute Goldstandards. So gilt beispielsweise als Goldstandard in der Diagnostik eines manifesten Diabetes der orale Glucose-Toleranztest.

Was, wenn nicht physiologische Messgrößen, könnte der Gold-Standard in der psychiatrischen Diagnostik sein? Kann es überhaupt einen Goldstandard geben, der sich nicht auf objektiv messbare Parameter des Nervensystems bezieht? Viele der führenden Psychiater, die sich mit Klassifikationssystemen beschäftigen, sind sich der Peinlichkeit durchaus bewusst, die darin besteht, mangels Daten auf einen „nicht-medizinischen“ Goldstandard angewiesen zu sein. Und manch einer mag da mit einer uralten Lösung liebäugeln: „Aus den Augen, aus dem Sinn.“

Doch nur wenige sprechen dies so unverblümt aus wie Harold A. Pincus. Er schreibt, dass sein Ansatz die Idee der Validität an sich aufgebe. Entscheidend sei es, eine effektive Kommunikation unter Klinikern zu gewährleisten. Zu diesem Zwecke müsse ein Klassifikationssystem reliabel, nützlich, leicht zu verstehen und einzusetzen sein. Man könne nicht erwarten, dass diagnostische Systeme gleichzeitig diese praktischen Erfordernisse erfüllten und an der Front wissenschaftlicher Forschung stünden (1).

Pincus hatte führende Funktionen in der APA bei der vierten Revision des DSM inne. Robert Spitzer, der für die dritte Revision federführend verantwortlich war, plädierte als Gold-Standard für ein Verfahren, das er als „best estimate diagnosis“ bezeichnete. Er schlug eine Operationalisierung dieses Verfahrens vor, der er den Namen LEAD gab. Doch damit ist nicht „Blei“ gemeint, wie man angesichts einer englischen Bedeutung dieses Wort anzunehmen geneigt sein könnte, sondern es handelt sich hier um eine Abkürzung, die für folgende Sachverhalte steht:

  • L: Longitudinal Assessment (langfristige Einschätzung)
  • E: Beurteilung durch Experten für psychiatrische Diagnostik
  • AD: Einbeziehung aller Daten, die über eine Person zur Verfügung stehen (Informationen von Familienmitgliedern, medizinische Akten, Beobachtungen von medizinischem Hilfspersonal etc.) (2)

Spitzers Blei-Standard wird als Gold-Standard-Ersatz in der psychiatrischen Forschung weitgehend anerkannt, allerdings, weil sehr aufwändig, nur selten angewandt. Weil LEAD konzeptionell durchaus ansprechend sei, müssten die Schwierigkeiten bei der Umsetzung für die begrenzte Anwendung verantwortlich gemacht werden, heißt es in einem einschlägigen Lehrbuch (3).

Selbst bei wohlwollender Würdigung dieses Standards wird man sich wohl kaum der Erkenntnis verschließen können, dass es sich hier um eine Zusammenschau von subjektiven Eindrücken handelt – und dass somit eine Kumulation von Vorurteilen nicht auszuschließen ist. Von Validitätskriterien in strengem Sinne kann wohl nicht gesprochen werden, weil sie erstens von Meinungen nicht unabhängig sind und weil sie daher zweitens keine guten Repräsentanten von etwas Krankhaftem sind, das unabhängig von Meinungen in der realen Welt existiert.

Spitzer zählt zu den Heroen in der Geschichte des DSM, weil es ihm gelang, durch die dritte Revision dieses Manuals das Reliabilitätsproblem zwar nicht zu lösen, aber deutlich abzuschwächen. Die Vorgängerversion, das DSM-II, war hochgradig unreliabel. Dies lag daran, dass es sehr stark psychoanalytisch orientiert war. Psychoanalytiker haben kein besonders ausgeprägtes Interesse an einer systematischen, akribischen Einordnung ihrer Patienten in ein Schubladensystem von den Ausmaßen eines Apothekerschrankes. Die Reliabilität ist ein Maß der Übereinstimmung zwischen Diagnostikern hinsichtlich desselben Patienten.

Die Uneinigkeit von Psychiatern war in jenen Tagen ein Füllhorn von Witzen. Dies galt es zu verstopfen, und Spitzer verstopfte es, mehr schlecht als recht, aber immerhin. Der Erfolg verdankte sich vor allem der Tatsache, dass die Patienten in den Reliabilitätsstudien handverlesen wurden, sie passten also von vornherein besonders gut zu den Beschreibungen der „Krankheitsbilder“. Außerdem wurden die Diagnostiker systematisch trainiert, beim Diagnostizieren einem idealtypischen Procedere zu folgen. Die Validität gehörte nicht zu Spitzers vordringlichen Interessen. Sein Augenmerk galt vielmehr dem Machbaren (4).

Kenner der Materie werden bemerkt haben, dass ich mich bisher nur auf eine Form der Validität bezogen habe. Diese wird durch die Korrelation zwischen dem Ergebnis des diagnostischen Verfahrens und einer Variable geschätzt, die als Repräsentant der Krankheit in der, vom diagnostischen Prozess unabhängigen, Realität aufgefasst werden kann, beispielsweise ein Biomarker. Verteidiger der psychiatrischen Diagnostik berufen sich verständlicherweise darauf, dass unter dem Konstrukt der Validität auch noch andere Validitätsformen zusammengefasst werden.

Eine weitere Form der Validität ist das Ausmaß, in dem ein diagnostisches Verfahren tatsächlich das zu diagnostizierende Konstrukt widerspiegelt. In der psychiatrischen Diagnostik darf als inhaltsvalide ein Verfahren gelten, das die relevanten Merkmale des jeweiligen „Krankheitsbildes“ abfragt. Dies dürfte beim DSM und beim psychiatrischen Teil der ICD durchaus der Fall sein. Diese Form der Validität sagt aber nichts darüber aus, ob dieses „Krankheitsbild“ Realität oder Fantasie ist.

Eine weitere Form der Validität entspricht dem Ausmaß der Übereinstimmung der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Maßen einer Diagnose und den theoretisch vorhergesagten. Wenn beispielsweise bei einer Krankheit, der Theorie entsprechend, die Merkmale x, y und z sehr häufig gemeinsam bestehen, dann sollten sie auch durch das diagnostische Verfahren sehr häufig als gemeinsam bestehend erkannt werden. Und wenn ein Merkmal k theoretisch ein Abgrenzungskriterium zwischen zwei benachbarten „Krankheitsbildern“ ist, dann sollte sich dies auch in den diagnostischen Befunden zeigen.

Dass auch diese Form der Validität in der psychiatrischen Diagnostik zu wünschen übrig lässt, demonstrieren Carlo Faravelli und seine Mitarbeiter (5) am Beispiel der „Generalisierten Angststörung“. Dieses Konzept sei gekennzeichnet durch instabile diagnostische Kriterien (6), eine hohe Rate der Komorbidität (7) und unsichere Grenzen (8).

Robert Kendell und Assen Yablensky gelangen nach einer Analyse der einschlägigen Literatur zu dem Schluss, dass die psychiatrische Diagnostik nicht als valide aufgefasst werden kann, sofern eine valide Diagnostik Krankheitsbilder voraussetzt, die nachweislich diskrete Entitäten mit natürlichen Grenzen darstellen (9).

Die psychiatrische Diagnostik beruht auf einem kategorialen Ansatz;  jemand hat ein Syndrom oder er hat es nicht. Dies setzt diskrete Entitäten mit natürlichen Grenzen voraus. Entitäten mit natürlichen Grenzen können psychiatrische Diagnosen nur dann darstellen, wenn den „Krankheitsbildern“ gemeinsame physiologische oder zumindest “bio-psycho-soziale” Mechanismen zugrunde liegen, die für die „Symptome“ der jeweiligen „Syndrome“ verantwortlich sind. Der Mechanismus, der eine „Krankheit“ hervorbringt, müsste sich zudem eindeutig von den für andere „Krankheiten“ zuständigen Mechanismen unterscheiden. Trotz intensiver Suche wurden solche Mechanismen bisher noch nicht identifiziert.

Eine große Zahl von „Patienten“ fällt zwischen 2 oder gar mehrere diagnostische Kategorien; d. h., die Patienten haben Symptome zweier oder mehrerer Krankheitsbilder, gehören aber keinem eindeutig zu (10).

Es ist aber auch denkbar, dass zwei Patienten eindeutig zu einer Klasse gehören, aber keinerlei „Symptome“ gemeinsam haben. Ein Beispiel dafür findet sich in einem Aufsatz von Ian A. Cook. Patient A hat hier die Merkmale:

  • Depressive Stimmung
  • Schlaflosigkeit
  • Gewichtsverlust
  • Agitation
  • Konzentrationsstörungen
  • Ermüdung

Patient B weist demgegenüber die folgenden „Symptome“ auf:

  • Anhedonie (Unfähigkeit, Freude und Lust zu empfinden)
  • Schlafsucht
  • Gewichtszunahme
  • psychomotorische Verlangsamung
  • Gefühle der Wertlosigkeit und Schuld
  • Selbstmordgedanken

Obwohl diese beiden „Patienten“ keinerlei gemeinsame „Symptome“ aufweisen, qualifizieren sie sich nach DSM gleichermaßen für die Diagnose „Major Depressive Disorder“ (11).

Es bleibt völlig schleierhaft, wieso diese beiden „Patienten“ das gleiche „Krankheitsbild“ teilen sollten, denn ein gemeinsamer, physiologischer oder psychologischer Mechanismus, der entweder die eine oder die andere Verteilung von „Symptomen“ hervorbringt, ist ja nicht bekannt.

Es zeigt sich also, dass die psychiatrische Diagnostik auch mit einem umfassenden Validitätsbegriff, der neben biologischen zudem soziale und psychologische Faktoren beinhaltet, bisher nicht empirisch abgesichert werden konnte. Die so genannten Krankheitsbilder stellen offenbar keine natürlichen Entitäten mit klaren Grenzen dar. Die entsprechend etikettierten Menschen lassen sich weder durch biologische, noch durch objektiv messbare psychologische und soziale Faktoren eindeutig von den so genannten Normalen abgrenzen.

Dies liegt vermutlich daran, dass die Phänomene, die als Symptome “psychischer Krankheiten” gedeutet werden, nur scheinbar ausschließlich individuelle Merkmale sind. Sie sind vielmehr Ausdruck sozialer Beziehungen, die an Individuen in Erscheinung treten. Gleichermaßen ist die Zuschreibung von “psychischen Krankheiten”, also die psychiatrische Diagnostik, durch den sozialen Kontext geprägt. Der Diagnostiker wird beispielsweise in Abhängigkeit von den Lebensverhältnissen des Betroffenen dieses oder jenes Phänomen stärker oder schwächer gewichten bzw. unter den Tisch fallen lassen oder hinzufantasieren.

Die Patientin Ilse Mustermann erschiene dann beispielsweise mit einem anderen Partner nicht als “depressiv” und wäre Ilses Vater  kein Alkoholiker gewesen, dann würde die Psychiaterin diese Depressivität nicht als Symptom einer Borderline-Persönlichkeitsstörung deuten.

Die auf das Individuum bezogene und subjektive psychiatrische Diagnostik kann allein deswegen nicht valide sein, weil sie als Steuerungsinstrument zutiefst in soziale Prozesse involviert und demgemäß “befangen” ist. Sie ist daher auch nicht fähig, den Einfluss sozialer Abläufe von der Wirkung individueller Mechanismen zu trennen.

Die Diagnose sagt eigentlich nur, was nach Ansicht des Diagnostikers, die von seiner subjektiven Einschätzung einer komplexen sozialen Situation abhängt, mit dem Diagnostizierten weiterhin geschehen solle. Diese Ansicht wird durch ein Etikett, die Diagnose ausgedrückt, die ein “Psychogramm” des Betroffenen zu sein vorgibt, mit seiner tatsächlichen Individualität aber allenfalls nur sehr vermittelt zusammenhängt. Dass so etwas, wenn überhaupt, nur sehr schwach mit Indikatoren, die sich objektiv messen lassen, korrelieren kann, liegt auf der Hand.

Anmerkungen

(1) Phillips, J. et al. (2012). The six most essential questions in psychiatric diagnosis: a pluralogue, part 1-4 Philosophy, Ethics, and Humanities in Medicine, 7:3, 13. Jan.; 7:8, 18. Apr.; 7:9, 23 Mai; 7:14, 18. Dez.
(2) 
Spitzer R. L. (1983). Psychiatric diagnosis: are clinicians still necessary? Compr Psychiatry. Sep-Oct;24(5):399-411
(3) 
First, M. B. et al. (1997). User‘s Guide for the Structured Clinical Interview for DSM-IV Axis I Disorders. Clinical Version. SCID-I. Washington DC: American Psychiatric Press
(4) 
Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York N.Y.: blue rider press, Penguin Group, Seite 340
(5) 
Faravellia, C. et al. (2012). Are Psychiatric Diagnoses an Obstacle for Research and Practice? Reliability, Validity and the Problem of Psychiatric Diagnoses. The Case of GAD. Clinical Practice & Epidemiology in Mental Health, 8, 12-15
(6) “Krankheitsbild” verändert sich von Version zu Version des DSM.
(7) Mehrfachdiagnosen; es gibt häufig auch Fälle, bei denen kein “Krankheitsbild” vollständig, aber mehrere teilweise zutreffen.
(8) Eine klare Abgrenzung zu anderen “Krankheitsbildern ist nicht möglich.
(9) 
Kendell, R. & Jablensky, A. (2003). Distinguishing Between the Validity and Utility of Psychiatric Diagnoses, Am J Psychiatry; 160:4–12
(10) 
Strauss, J. (1979). Do psychiatric patients fit their diagnosis? Journal of Nervous and Mental Disease. 167:105-113
(11) 
Cook, I. A. (2008). Biomarkers in Psychiatry: Potentials, Pitfalls, and Pragmatics. Primary Psychiatry, 2008;15(3):54-59

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