Quantcast
Channel: Lexikon der Psychiatriekritik »» Hans Ulrich Gresch
Viewing all articles
Browse latest Browse all 323

Ist die Ausgrenzung “psychisch Kranker” gerechtfertigt?

$
0
0

Heinz Kümmerlein ist ein mittelständischer Unternehmer. Er erfährt, dass ein aussichtsreicher Bewerber ein Borderline-Persönlichkeitsgestörter sei. Kümmerlein bricht nicht so leicht den Stab über Menschen. Er will wissen, was dahinter steckt. Heute kann sich jeder mühelos über “psychische Krankheiten” informieren. Wikipedia macht’s möglich.

Also schlägt Kümmerlein im Internet nach, was unter einer Borderline-Persönlichkeit zu verstehen sei. Er erfährt, dass es sich dabei um einen Menschen handele, der zu heftiger Impulsivität, Wut und paranoiden Ideen neige, dessen zwischenmenschliche Beziehungen instabil und durch ein Wechselspiel von Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet seien, der selbstmordgefährdet sei usw. Soll Heinz Kümmerlein einen solchen Menschen einstellen?

Frauke Hollerich erfährt, dass ihr Verlobter, den sie zu heiraten gedenkt, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung habe, die er ihr bisher verschwieg. Sie hat ihn wirklich gern, dennoch liest sie, von Neugier getrieben, in Wikipedia nach. Dort erfährt sie, dass es sich bei den Narzissten um Menschen handele, die sich durch ein gesteigertes Verlangen nach Anerkennung, Antriebslosigkeit und Überschätzung der eigenen Fähigkeiten auszeichneten. Plötzlich sieht sie gewisse Eigenschaften ihres Zukünftigen in einem anderen Licht. Bisher hatte sie geglaubt, dass sie ihn mit viel Liebe schon ändern werde. Aber wenn es eine Krankheit ist, etwas Bleibendes? Soll sie ihn wirklich heiraten?

Franz Kastelmann ist selbständiger Journalist und erwägt, mit einem Kollegen ein Buch über ein Thema zu schreiben, für das dieser Kollege ein ausgewiesener Experte ist. Nun erfährt er, dass der Mann depressiv sei. Wikipedia verrät ihm, dass Depressive von der Sinnlosigkeit des Daseins durchdrungen seien, unter starken Minderwertigkeitsgefühlen litten und zu Selbstmordversuchen neigten. Soll sich Franz Kastelmann auf das Abenteuer eines solchen Buchprojekts einlassen?

Wenig später treffen Kümmerlein, Hollerich und Kastelmann in einem Zugabteil aufeinander und beginnen einen Small-Talk. Da allen dreien ihre “Psychos” nicht aus dem Kopf gehen wollen, beginnen sie alsbald, sich über diese Problematik auszutauschen. Sie haben durchaus unterschiedliche Meinungen hinsichtlich der Frage, welche Haltung gegenüber “psychisch Kranken” angemessen sei, sind sich aber einig, dass man nicht alles glauben dürfe, was im Internet stehe.

Nach einer Weile tritt ein älterer Herr ins Abteil, der dem Gespräch zunächst nur zuhört, sich dann aber als pensionierter Psychologe zu erkennen gibt. Er sagt, dass nicht nur die genannten, sondern alle “Krankheitsbilder” in den psychiatrischen Diagnose-Manualen Ansammlungen überwiegend eher negativer Merkmale seien.  Wenn also die genannten Personen tatsächlich das für diese “Syndrome” charakteristische Verhalten zeigten, dann sei bei diesen Menschen durchaus Vorsicht geboten.

Wer also davon überzeugt ist, dass die psychiatrische Diagnostik Hand und Fuß hat, der hat guten Grund, die so genannten psychisch Kranken auszugrenzen. Unter dieser Bedingung wird Heinz Kümmerlein den Bewerber zu recht nicht einstellen, Frauke Hollerich wird ihrem Verlobten aus gutem Grund den Laufpass geben und Franz Kastelmann wird sich für sein Buch vernünftigerweise einen anderen Ko-Autor suchen.

Denn auch wenn die so genannten psychischen Kranken im Prinzip erfolgreich behandelbar wären, so kann doch niemand wissen, ob dies auch im Einzelfall so sein wird. Man kann von niemandem erwarten, dass er ein solches Wagnis eingeht. Vorausgesetzt wird bei diesem Gedankenspiel allerdings die Validität psychiatrischer Diagnosen. Nur wenn die beschriebenen Phänomene tatsächlich durch innere Mechanismen in den genannten Individuen hervorgerufen werden, wenn sie also tatsächlich krank sind, taugt die psychiatrische Diagnose zur Prognose ihres zukünftigen Verhaltens.

Dies ist die gute Nachricht für alle als “psychisch krank” verunglimpften Menschen: Bisher war die Psychiatrie noch nicht in der Lage, empirisch zu erhärten, dass es sich bei den so genannten psychischen Krankheiten auch tatsächlich um Krankheiten handelt. Die psychiatrischen Diagnosen sind willkürlich, schiere Meinungen, nichts weiter. Sie haben keine wissenschaftliche Grundlage. So gesehen wären Kümmerlein, Hollerich und Kastelmann also gut beraten, sich von ihren eigenen Eindrücken leiten zu lassen und den psychiatrischen Gerüchten keine Beachtung zu schenken.

The post Ist die Ausgrenzung “psychisch Kranker” gerechtfertigt? appeared first on Pflasterritzenflora.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 323