Bahnbrechende Durchbrüche
Immer wieder einmal, und in den letzten Jahren immer häufiger, geistern Meldungen durch die Presse, dass Forscher Anomalien in den Gehirnen “psychisch Kranker” entdeckt hätten. Gern interviewen die Medien dann einen Gelehrten der Neurowissenschaften, der oft von “bemerkenswerten Resultaten”, gar von einem “Durchbruch” fabuliert und davon, dass nun der Entwicklung neuer, durchschlagender Medikamente nichts mehr im Wege stünde.
Man sollte sich von solchen Meldungen nicht irre machen lassen. Die Welt ist auch so schon verrückt genug. Es gibt keinen Anlass zur Sorge. Die punktgenaue Manipulation des Gehirns durch Chemie liegt noch in weiter Ferne. Bis auf Weiteres ist immer noch lustiges Schrotflintenschießen angesagt. Trotz “Neuroimaging” weiß niemand so genau, wie Psychopharmaka im Gehirn wirken, was sie bewirken und ob das, was sie auslösen, in irgendeinem Zusammenhang mit einer angeblichen “psychischen Krankheit” steht.
Wissenschaftler des psychiatrischen Instituts der Universität Basel und des Instituts für Psychose-Studien des King’s College in London stellen unmissverständlich fest:
“More than three decades after Johnstone’s first computerised axial tomography of the brain of individuals with schizophrenia, no consistent or reliable anatomical or functional alterations have been univocally associated with any mental disorder and no neurobiological alterations have been ultimately confirmed in psychiatric neuroimaging (1).”
Nach mehr als drei Jahrzehnten der Forschung mit bildgebenden Verfahren konnten in den Gehirnen der so genannten psychisch Kranken keine konsistenten oder reliablen, funktionellen oder anatomischen Abweichungen vom Normalen entdeckt werden. Die Autoren üben sich nach diesem Präludium in einer Kunst, die der Hirnforscher John Eccles “Schuldschein-Materialismus” genannt hat: Wenn man nur eifrig die Methoden und die Veröffentlichungspraxis verbessere, dann könne man auch irgendwann einmal zu klinisch relevanten Ergebnissen gelangen. Klartext: Zur Zeit wird noch geschludert und gemogelt, was nicht passt, wird nicht publiziert. Aber wenn das erst einmal abgestellt worden sei, dann habe das psychiatrische “Neuroimaging” eine glanzvolle Zukunft.
Der Neurowissenschaftler William R. Uttal formuliert seine Kritik wesentlich besonnener als ich; aber auch er gelangt zu einem unmissverständlichen Fazit: Die bunten Bilder des Neuroimaging verführen uns dazu, organisierte Muster der Aktivierung zu sehen, wo in Wirklichkeit u. U. nur eine zufällige Aktivierung herrscht (6).
Ein Toter, ganz lebendig
Forscher kauften einen Lachs auf dem Wochenmarkt, legten ihn in eine Gehirndurchleuchtungsmaschine und zeigten ihm Bilder. Der Lachs war tot. Dennoch fanden die Wissenschaftler signifikante Zusammenhänge zwischen der Hirnaktivität des toten Lachses und den Bildern.
Die Wissenschaftler schreiben:
“With the extreme dimensionality of functional neuroimaging data comes extreme risk for false positives. Across the 130,000 voxels in a typical fMRI volume the probability of a false positive is almost certain. Correction for multiple comparisons should be completed with these datasets, but is often ignored by investigators. (2)
Aufgrund der gewaltigen Menge statistischer Vergleiche, die zur Auswertung von Brain Scans erforderlich sind, kommt es unausweichlich zu falsch positiven Resultaten. Es gibt statistische Korrekturverfahren, die bei multiplen Tests angewendet werden können. Jeder Psychologiestudent lernt das im Grundstudium. Allein, psychiatrische Neuroforscher kennen diese Verfahren oftmals entweder nicht oder sie möchten sich durch deren Anwendung nicht den Spaß verderben lassen.
Statistik – Glücksache
Der Lachs ist immer und überall. Das statistische Niveau der Veröffentlichungen in medizinischen Fachzeitschriften ist atemberaubend niedrig. Die Studien stecken voller methodischer Mängel, Schwächen und Fehler. Dies ist nicht nur meine Meinung, sondern dies wurde inzwischen empirisch nachgewiesen (3).
In einem Artikel des Spiegels (“Statistik-Know-how: Warum viele Ärzte ihre Patienten falsch beraten”, 15.07.2012) heißt es, dass viele Ärzte nicht in der Lage sind, Statistiken richtig zu interpretieren und dass deswegen diagnostische Fehler unausweichlich sind, die u. U. sogar Menschenleben gefährden. Der Artikel kommt zu dem Schluss, dass die ärztliche Ausbildung nicht in ausreichendem Maß Statistik-Kenntnisse vermittele und dass auch die medizinische Fachliteratur Ärzte in statistischen Fragen schlecht unterrichte.
Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass man eine solide statistische Ausbildung braucht, um empirische Literatur in Psychiatrie und Psychologie angemessen würdigen, um die Spreu vom Weizen trennen zu können. Daher rate ich jedem Patienten eines Psychiaters oder eines Psychotherapeuten, den Heiler nach seinen Statistik-Kenntnissen zu befragen. Wenn er hier Schwächen einräumt, dann weiß man, wie es um die Weiterbildung dieses Menschen bestellt ist. Dieser Mensch ist dann nämlich darauf angewiesen zu glauben, was man ihm erzählt. Denn aus der Fachliteratur kann er selbständig keinen Nutzen ziehen.
Der Arzt und Statistiker John Ioannidis bringt den Stand der Dinge bündig auf den Punkt. In einem Artikel zeigt er mit beeindruckender Stringenz, warum die meisten medizinischen Forschungsergebnisse falsch sind. Dies liegt an mangelhafter Forschungmethodik, die zu Schein-Signifikanzen führt. Und kaum einer merkt es; oder will es merken (7).
In der Röhre
Es gibt viele Gründe, warum man Brain Scans skeptisch betrachten sollte. Die Statistik ist nur einer davon. Wer schon einmal in einer “Röhre” gelegen hat, ahnt vermutlich bereits, wovon ich spreche. Es ist verdammt eng dort, und auch ein wenig unheimlich. Wer garantiert mir, dass sich dort das Gehirn genauso verhält wie im realen Leben? Klaustrophobie? Kein Problem?
Die Probanden in der Röhre müssen den Kopf still halten, weil sonst die Aufzeichnungen verzerrt werden. Das psychiatrische Neuroimaging arbeitet aber oft genug mit Menschen, deren Selbstkontrolle eingeschränkt ist. Kleine Kinder, alte Menschen und “clinical patients” zeigen signifikant stärkere Kopfbewegungen als andere Versuchspersonen, heißt es in einem Forschungsbericht zu methodischen Problemen des “Neuroimaging” (4). Würde man bei diesen “problematischen” Versuchspersonen den Kopf fixieren, so würde die Situation dadurch selbstredend noch unnatürlicher.
Seeing is believing!
Angesichts dieser offenkundigen Schwierigkeiten, die damals nicht kleiner waren als heute, war ich doch recht überrascht, als mir 1998 in einer Buchhandlung des Flughafens von Toronto ein Buch mit dem Titel “Change your brain, change your life” in die Hände fiel. In diesem Buch behauptet der amerikanische Psychiater Daniel G. Amen, er könne alle erdenklichen psychiatrischen “Krankheiten” auf Brain Scans erkennen und wisse dann auch sofort, mit welchen Psychopharmaka man sie am besten behandeln könne.
“Seeing is believing”, schreibt er. “Seeing these scans caused me to challenge many of my basic beliefs about people, character, free will, and good and evil that had ingrained in me as a Catholic schoolboy.” (5)
Der Mann betreibt auch heute noch Kliniken in den USA und behandelt psychiatrische Patienten auf Basis von Brain Scans. Die Washington Post (9.8.2012) schreibt über ihn, er sei der populärste Psychiater in den Vereinigten Staaten. In seinen Kliniken werden monatlich 1200 Patienten therapiert. Einige seiner Bücher wurden Bestseller. Er ist ein “Distinguished Fellow” der amerikanischen Psychiatrievereinigung APA. “Excellence, not mere competence, is the hallmark of a Distinguished Fellow” – so erklärt die APA diesen Begriff. Eine Einführungssitzung in den Kliniken dieses Mannes, zwei Scans inbegriffen, kostet schlappe $ 3.500. Amen behauptet, durch Brain Scans mehrere Untertypen von Depression, Angststörungen und Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung entdeckt zu haben.
Obwohl “Distinguished Fellow” der APA, wird sein diagnostischer Ansatz von keiner nennenswerten Psychiatervereinigung oder einschlägigen Forschungsinstitution akzeptiert. Fachlich, wissenschaftlich wird er einhellig abgelehnt. Aber 2011 erwirtschaftete der Psychiater mit seinen Kliniken 20 Millionen Dollar. Das tröstet den “Distinguished Fellow” bestimmt über den Unverstand der Fachwelt hinweg.
Excellence, not mere competence. „Bestimmte Symptome unter bestimmte Begriffe zu subsumieren, kann auch jede dressierte Ziege”, sagte einst der weltberühmte Psychiater Gert Postel zur psychiatrischen Diagnostik. Ob man wohl auch einer Ziege das Interpretieren von Brain Scans beibringen kann? Am klügsten ist es wahrscheinlich, sie zunächst mit einem toten Lachs zu trainieren.
Warum?
Warum werden keine Kosten und Mühen gescheut, um mit ungeeigneten Methoden nach den Ursachen “psychischer Krankheiten” zu suchen. Gibt es keine Zielgebiete, wo man leichter fündig werden und relevantes Material ans Licht bringen könnte? Gibt es beim gegenwärtigen Forschungsstand überhaupt einen triftigen Grund, von “psychischen Krankheiten” zu sprechen? Wer profitiert davon? Solche Diagnosen beziehen sich ja oft durchaus auf reale Phänomene, auf teilweise erheblich unangepasstes, mitunter auch unangemessenes Verhalten und Erleben. Doch diese Phänomene könnten durchaus auch anders interpretiert werden, denn als Ausdruck einer Krankheit.
Wer profitiert also vom Begriff der “psychischen Krankheit”?
- Die Medizin. Wer krank ist, bedarf der ärztlichen Behandlung.
- Die Pharma-Industrie. Wer krank ist, bekommt in aller Regel Medikamente.
- Die Politik. Wer krank ist, der ist Opfer seiner Biologie und nicht etwa Opfer unerträglicher gesellschaftlicher Verhältnisse, an denen man nichts ändern will.
- Angehörige. Wer Opfer seiner Biologie ist, dessen “Symptome” sind keineswegs Ausdruck eines Protests gegen familiäre Schwierigkeiten, die anders nicht mitgeteilt werden können.
- Arbeitgeber. Ich muss das nicht erläutern.
Das sind objektive Zusammenhänge. Ich behaupte nicht, dass diese Zusammenhänge allen Beteiligten bewusst sind und dass die Diagnose gestellt oder gutgeheißen wird, um die mit ihren Folgen verbundenen Vorteile zu genießen. Entgegen anders lautenden Gerüchten bin ich kein Verschwörungstheoretiker, sondern ich stelle einfach nur fest, was ist.
Natürlich manipuliere ich gnadenlos mit meinen Tagebucheinträgen. Wenn der Leser demnächst an die Neurowissenschaften denkt, so wird ihm unerbittlich der tote Lachs in den Sinn kommen, und beim Gedanken an die psychiatrische Diagnostik fällt ihm die dressierte Ziege ein. So einfach soll man es sich aber nicht machen: Diese modernen Wissenschaften sind kein Zoo oder landwirtschaftlicher Betrieb. Der geneigten Leser wurde von mir schon genug manipuliert, und so überlasse ich es ihm, selbst einen passenden Vergleich zu finden. Ich hoffe, dies wird von den einschlägig interessierten Kreisen auch anerkannt.
Anmerkungen
(1) Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46
(2) Neural correlates of interspecies perspective taking in the post-mortem Atlantic Salmon: An argument for multiple comparisons correction. Craig M. Bennett, Abigail A. Baird, Michael B. Miller, and George L. Wolford Psychology Department, University of California Santa Barbara, Santa Barbara, CA; Department of Psychology, Vassar College, Poughkeepsie, NY; Department of Psychological & Brain Sciences, Dartmouth College, Hanover, NH, Poster; Bennett, C. M. et al. (2010). “Neural Correlates of Interspecies Perspective Taking in the Post-Mortem Atlantic Salmon: An Argument For Proper Multiple Comparisons Correction” Journal of Serendipitous and Unexpected Results, 2010, (1) 1, 1-5
(3) Alexander M. Strasak, Qamruz Zaman, Karl P. Pfeiffer, Georg Göbel, Hanno Ulmer: Statistical errors in medical research – a review of common pitfalls. Swiss Med Wkly 2007; 137: 44–49
(4) Lazar, N. A. et al. (2001). Statistical Issues in fMRI for Brain Imaging , International Statistical Review, Issue 1, pages 105–127
(5) Amen, D. G. (1998). Change your brain, change your life. The breakthrough program for conquering anxiety, depression, obsessiveness, anger, and impulsiveness. Ney York: Times Books, Random House, Seite 7
(6) Uttal, W. R. (2012). Review – Reliability in Cognitive Neuroscience. A Meta-Meta-Analysis. Cambridge, Mass.: MIT Press
(7) Ioannidis JPA (2005) Why Most Published Research Findings Are False. PLoS Med 2(8): e124. doi:10.1371/journal.pmed.0020124
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